Angst in Dramaturgie

Angst ist ein wichtiges Element sowohl der Figurenzeichnung als auch der Dramaturgie. Wir können Angst vor etwas haben, wegen etwas haben oder um etwas haben. Das weist grob auf bekannte Elemente der Dramaturgie hin: Auf die Angst vor dem Antagonisten, auf die Angst wegen dem, was noch verloren gehen kann (Einsatz), und die Angst um das, was sich gewinnen lässt (Motivation, Ziel).

Der Antagonist, bzw. die Anstrengung, die es braucht und wert ist ihn zu überwinden; der Einsatz, der „geliebte“ Wert der auf dem Spiel steht; und die Motivation, wieder Ausdruck einer persönlichen Priorität, einer Liebe der Figur, sind die wichtigsten Elemente der Dramaturgie. Das habe ich schon an anderer Stelle erklärt, vielleicht behauptet, und an wieder anderer Stelle mit der Liebe verknüpft: Dramaturgische Elemente haben emotionale Bedeutung für die Figur, zeigen ihre Werte, ihre Liebe. Wer liebt, kann auch von uns Zuschauern geliebt, mindestens verstanden werden.
Angst durchdringt Dramaturgie, verknüpft sie mit Figurenzeichnung.
Meine jeweiligen Unterscheidungen dieser Ängste sind dabei ungenau und dünn. So sind sich die Angst vor und die Angst wegen sehr ähnlich, weil sie uns hemmen, die Angst um aber motiviert uns. Dann wiederum kann statt dieser Hemmung auch nur eine weitere Form von Motivation ihre Wirkung sein, nur in die falsche Richtung, zum Beispiel zur Flucht. Das Angst uns motiviert, indem sie uns vor sich hertreibt, uns reitet, das haben wir schon bei Fritz Riemann gelernt (s. Das Ziel ist Persönlichkeitsstörung).

Je nach Erzählung verschwimmen auch die Angst wegen und die Angst um: Das Ziel kann Teil des Einsatzes sein. In diesem Fall ergibt sich das Ziel aus dem Einsatz („Mir wurde etwas genommen, ich hole es zurück“), nicht der Einsatz aus dem Ziel („Um mein Ziel zu erreichen, bin ich bereit folgendes einzusetzen…“). Wenn die Unterscheidungen also so ungenau, die Bezüge so flexibel sind, warum habe ich dann diese drei Varianten angeführt? Um zu zeigen: Angst ist Bestandteil jedes dieser Elemente, Angst durchdringt Dramaturgie.

Und Angst verknüpft Dramaturgie mit Figurenzeichnung, wenn man nicht behaupten möchte, dass beide Erzählelemente sowieso identisch seien. (Besonders klugen Lesern wird auffallen, dass ich hier Angst synonym mit Furcht verwende, wo es bei uns doch eigentlich um konkrete Bedrohung, also konkrete Furcht, geht, nicht um abstrakte, diffuse Ängste. Eben nicht: Mit der Überwindung der Furcht wird auch eine größere, tiefere Angst überwunden, das ist Charakterentwicklung. Meiner Meinung nach brauchen wir die Unterscheidung von Angst und Furcht in der Dramaturgie nicht, ich lasse mich da aber gern eines anderen belehren.)
Wo eine Bedrohung ist, ist auch Angst.
Laurie Hutzler macht das mit ihrer Emotional Toolbox und dem Character Mapping sehr sinnvoll: Sie fragt zunächst nach der Angst der Figur. Die Antwort darauf wird im darauffolgenden Mapping mit den Antworten auf die anderen Fragen nach Stärken, Schwächen und der Maske der Figur verknüpft. Die Schwächen der Figur drohen ihre Angst auszulösen, das versucht sie mit Hilfe ihrer Stärken zu verhindern, und ihre Maske aufrecht zu erhalten. Der Antagonist nutzt diese Schwächen aus, löst Angst aus. Um ihn zu überwinden muss die Figur ihre Stärken als Schwächen erkennen, die Maske ablegen, und sich der Angst stellen.

Die Rolle, die Angst für Figur und Dramaturgie dabei spielt, ist dabei ganz unabhängig vom Genre. Natürlich gibt es mit Horror und Thriller Genres, bei denen es offensichtlicher um Ängste der Figuren (und unsere eigenen Ängste als Zuschauer) geht, als in anderen. Aber auch in Komödien lachen wir zum Beispiel gern über Zwänge, die doch eigentlich nicht mehr sind als Versuche, Bedrohungen zu kontrollieren und Angst zu vermeiden. Das hat John Vorhaus in seiner Comic Toolbox gut beschrieben: Wenn Homer Kinder sieht und dabei an Essen denkt („Mmh, böse Früchtchen!“) ist das lustig, wenn Hannibal Lector das tut… eher nicht.

Das Fehlen von Angst ist es, glaube ich, was wir meinen, wenn wir bei Blockbustern und Fernsehfilmen fehlende Tiefe bedauern. Nein, es ist nicht ihr Fehlen, sondern ihr Ignorieren. Denn natürlich: Wo eine Bedrohung ist (und darum dreht sich doch der Blockbuster), ist auch Angst. Doch wenn der Erzähler seine Figuren diese Angst nicht empfinden lässt, macht er sich zu ihrem und Komplizen (die Figuren, könnten sie entscheiden, würden wohl auch lieber auf die Angst verzichten). Die Angst kann die Maske nicht erschüttern, wir erfahren niemals was dahinter ist: Die Figuren bleiben flach, und damit der Film. (Bei Fernsehfilmen mag es tatsächlich das Fehlen von Angst sein, da oft genug auch die ernstzunehmende Bedrohung fehlt.)
Ängste helfen uns, unsere Figuren zu radikalisieren
Mit diesem Wissen um die Bedeutung von Angst für unsere Figuren und die Dramaturgie unserer Erzählung können wir sie weiter nutzen. Im Englisch sagen sie gern to exploit, was wir als ausnutzen und ausbeuten kennen, aber es kann auch auswerten und ausschöpfen bedeuten. Was können wir aus Ängsten für unsere Figuren schöpfen?

Die Ängste unserer Figuren zu kennen, ist notwendig um ihre Reaktionen auf gegebene Situationen abzuschätzen und glaubwürdig zu entscheiden. Es gibt verschiedene Formen des Angstverhaltens, die Vermeidung, die Bagatellisierung, die Verdrängung, und mehr, das je nach Situation und Persönlichkeit anders zum Ausdruck kommen kann. Wir können diese psychologischen Muster als Angebote für unsere Geschichte verstehen. Sie anwenden, wie wir Dramaturgiemodelle anwenden. Es gibt auch verschiedene körperliche Reaktionen auf Angst, die wir ebenfalls nutzen und erzählen sollten, denn Angst ist ja unsichtbar und wird erst durch ihren Ausdruck audiovisuell, filmisch.

Ängste helfen uns, unsere Figuren zu radikalisieren. Warum Angst, wenn es auch eine Angststörung sein kann? Ganz im Sinne der Charakterentwicklung: Desto radikaler die Figur zu Anfang (und/) oder zu Ende der Erzählung ist, desto größer, aufwendiger und wichtiger ist ihre Entwicklung dahin. Eine Entwicklung zur Radikalisierung hin kann (kann!) dabei auf ein tragisches Ende deuten, die Entwicklung von der Radikalisierung zur Integration auf ein Happy End. Diese Entwicklung zwischen Integration und radikaler Persönlichkeitsstörung, haben wir aus gutem Grund schon bei unserem Artikel über Riemann und seine vier Grundformen der Angst besprochen.
Wir können durch persönliche Angst gesellschaftliche Ängste erzählen
Zuletzt: Wir können durch persönliche Angst metaphorisch gesellschaftliche Ängste erzählen. Riemanns Pole des zwanghaften Strebens nach Sicherheit und dem „hysterischen“ Streben nach Freiheit klingt wie „Freiheit statt Angst“, klingt wie die Diskussion von Datenschutz und Innerer Sicherheit, von Überwachung und Terror. Die beiden Pole der schizoiden Angst vor Ich-Verlust gegen die depressive Angst vor Isolation klingt nach Flüchtlingsdebatte, wobei da der Überfremdungsangst nicht so sehr der anderen „depressiven“ Radikalität gegenübersteht, sondern der Mitte, die wir, genau, Integration nennen.

Bild: Edvard Munch: Skrik/Der Schrei. Quelle: Wikimedia Commons

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