Der Treibstoff des Konflikts – die antagonistische Kraft

Wenn die Charakterentwicklung der Hauptfigur das Wesen einer Geschichte ist und Konflikt ihr Motor, dann ist die antagonistische Kraft sein Treibstoff. Ohne antagonistische Kraft gibt es keinen Konflikt und damit keine Geschichte. Die Hauptfigur setzt mit ihrem dramatischen Ziel den Konflikt in Gang, die antagonistische Kraft hält ihn am Leben. Deshalb ist sie genauso wichtig wie die Hauptfigur und – falls es sich um eine Figur handelt – genauso zu entwickeln: Sie hat ein Ziel und eine Fallhöhe in Form eines Bedürfnisses, das sie motiviert und das sie mit der Erreichung des Ziels befriedigen will. Der Konflikt entsteht, weil die antagonistische Kraft ihre eigene Geschichte hat. Man könnte die Geschichte also auch aus ihrer Perspektive erzählen, und es kommt immer wieder vor, dass ihre Geschichte eigentlich die interessantere ist.

Ohne antagonistische Kraft gibt es keinen Konflikt und damit keine Geschichte.

Hannibal Lecter, Ernst Stavro Blofeld, Norman Bates, Darth Vader, Dr. Szell, der Joker, Hans Landa, Maximilian Largo – die typischen Bösewichte, an die man bei dem Begriff antagonistische Kraft schnell denkt. Sie sind jedoch nicht die einzige Klasse antagonistischer Kräfte. Definiert wird die antagonistische Kraft nämlich als die Summe aller Kräfte, die dem Wollen der Hauptfigur im Wege stehen; die die Hauptfigur daran hindern, ihr Ziel zu erreichen. Das kann eine Figur sein, wie eben Lecter, Blofeld, Bates, man spricht dann von einem zwischenmenschlichen Konflikt, das können mehrere Figuren sein – die Familie, die Nachbarn, eine Straßengang, eine Armee -, dann hat man es mit einem sozialen Konflikt zu tun, es können die Situationen und Umstände sein, in die die Hauptfigur gerät, dann ist es ein situativer Konflikt, auf dem Road Movies insbesondere aufbauen, oder es ist die Hauptfigur selbst, die sich im Weg steht, dann spricht man von einem inneren Konflikt, den die Hauptfigur für eine glaubwürdige Charakterentwicklung braucht.

Die antagonistische Kraft muss keine „böse“ Figur sein.

Der gute und der böse Wicht
Die antagonistische Kraft will verhindern, dass die Hauptfigur ihr Ziel erreicht. Das heißt jedoch nicht automatisch, dass sie böse sein muss, genauso wenig wie Mentoren immer gut sein müssen. Sie selbst vor allem hält sich selten für böse, sondern die Hauptfigur. Das ist ein wichtiger Aspekt, um den Begriff antagonistische Kraft nicht zu eindimensional zu verstehen: Ihre Aufgabe ist es, die Hauptfigur daran zu hindern, ihr Ziel zu erreichen. Das kann sie mit böser Absicht tun, das kann sie aber auch in bester Absicht tun. Wichtig ist also die Motivation der antagonistischen Kraft.

Dirty Dancing
DIRTY DANCING beispielsweise ist ein Liebesfilm, der das Szenario der ersten Liebe erzählt. Das inhaltliche Thema dieses Szenarios ist entsprechend „die erste Liebe“, das emotionale Thema ist Erwachsenwerden, die Loslösung von den Eltern, das Finden der eigenen Identität und des eigenen Weges. Das Erste-Liebe-Szenario erzählt also in der Regel coming-of-age-Geschichten. Baby verliebt sich in Jonny und will mit ihm zusammen sein. Wer steht ihr im Weg? Ihr Vater. Warum? Weil er sie liebt, weil er nur das Beste für sie will und Jonny nicht für gut genug für seine Tochter hält.

DIRTY DANCING basiert übrigens sehr schön auf einem Figurendreieck: Baby, Jonny, Babys Vater. Drei Figuren, die im Zentrum eines Konfliktes stehen, bieten die besten Möglichkeiten, den Konflikt auszuschöpfen und ihn spannend zu erzählen. Zwei Figuren können zu wenig sein, vier sind oft schon zu viel.

Titanic
Ein anderes erste-Liebe-Szenario: TITANIC. Wieder ein Figurendreieck: Rose, Jack, Roses Mutter (plus Roses Verlobter). Wer ist Roses antagonistische Kraft? Ihre Mutter. Warum? Sie will unbedingt, dass Rose ihren reichen Verlobten heiratet und nicht den verarmten Künstler Jack, weil sie pleite ist, und wenn Rose nicht reich heiratet, muss sie arbeiten gehen, und das will sie nicht. Ihre Motivation ist also Eigennutz.

Entscheidend ist die Motivation der antagonistischen Kraft.

Washington Square
Ein drittes Erste-Liebe-Szenario: WASHINGTON SQUARE (nach einem Roman von Henry James). Cathy und Morris sind verliebt (wobei es bei Morris nicht ganz klar ist, ob er sie wirklich liebt, was einen großen Teil des Reizes dieses Filmes ausmacht). Die antagonistische Kraft ist Cathys Vater. Warum? Weil er seine Tochter hasst. Cathys Mutter ist bei ihrer Geburt gestorben und er gibt Cathy die Schuld daran, dass er seine große Liebe verloren hat. Deshalb will er mit allen Mitteln verhindern, dass Cathy glücklich wird. In meinem Seminar über Liebesfilme ist das übrigens der Film, über den mit Abstand am meisten diskutiert wird.

Also: Ein Szenario, drei völlig unterschiedliche Geschichten, die deshalb so unterschiedlich sind, weil die antagonistische Kraft unterschiedlich motiviert ist. Die Hauptfiguren und ihre Ziele unterscheiden sich nicht großartig: sie, die bis dato gehorsame Tochter, die ihre Eltern bzw. Vater oder Mutter liebt oder von ihnen geliebt werden will; er der freiheitsliebende, unabhängige Künstlertyp. Es ist also die jeweilige antagonistische Kraft, die der Geschichte ihren Stempel aufdrückt, sie spannend und interessant macht.

Ohne antagonistische Kraft bekommt die Geschichte Löcher.

Löcher in der Geschichte
Was passiert, wenn es keine antagonistische Kraft gibt? Dann bekommt die Geschichte Löcher, da der Konflikt nicht vorangetrieben wird. Löcher sind langweilig. Ein Beispiel: SADISTICO, 1971, Regie und Hauptrolle Clint Eastwood. Die Geschichte ist übrigens die gleiche wie die von „Eine verhängnisvolle Affäre“: Ein Mann und eine Frau verbringen eine Nacht zusammen. Für ihn hat es sich damit erledigt, für sie ist es der Anfang einer Beziehung. Sie taucht immer wieder auf, auch in für ihn ungünstigen Momenten, er weist sie immer wieder ab. Je mehr er sie ab- und damit zurückweist, umso mehr dringt sie in sein Leben ein. Ihre „Liebe“ verwandelt sich in Wut und Aggressionen, die sie zuerst gegen sich selbst und dann gegen ihn richtet.

Sadistico
In SADISTICO spielt Clint Eastwood den Radiomoderator Dave Garver, jung, erfolgreich, gutaussehend, ein Womanizer, der nichts anbrennen lässt, weshalb seine Freundin, die einzige, die er wirklich liebt, ihn vor einigen Monaten verlassen hat und verschwunden ist. Am Anfang der Geschichte taucht sie wieder auf, er sagt ihr, dass er wieder mit ihr zusammen sein will, sie sagt ihm, dass sie noch etwas Zeit braucht und vor allem, dass sie nur mit ihm zusammen sein kann, wenn er keine Affären mehr hat. Er verspricht es. Dumm nur, dass er von einem seiner weiblichen Fans – Evelyn Draper – angemacht wird, mit ihr schläft und sie nicht mehr los wird. Ständig taucht sie auf, permanent weist er sie zurück, bis sie wutentbrannt seine Wohnung verwüstet und: verhaftet wird.

Und was jetzt? Durch die Verhaftung wird die antagonistische Kraft aus dem Spiel genommen. Wie geht der Film weiter? Im Grunde gar nicht, er tritt auf der Stelle: Ungefähr elf Minuten sehen wir, wie Dave und seine neue alte Freundin händchenhaltend am Strand spazieren gehen, im Wald spazieren gehen, in einem Waldsee baden, im Wald Sex haben, auf ein Jazzkonzert gehen – alles ohne Dialog, ohne dramatische Handlung, dafür ordentlich Musik drüber. Das geht so lange bis Daves Telefon klingelt, am anderen Ende Evelyn sich meldet und ihm sagt, dass sie wieder auf freiem Fuß ist. Und schon gehen der Konflikt und damit die Geschichte weiter.

Also:
Eine Geschichte funktioniert nur mit einer antagonistischen Kraft. Sie ist wie die Hauptfigur absolut notwendig, alleine aber ebenfalls wie die Hauptfigur nicht hinreichend für das Zustandekommen eines Konfliktes. Die Qualität der Geschichte hängt oftmals nicht von der Hauptfigur, sondern mehr von der antagonistischen Kraft ab: Je besser die antagonistische Kraft ist, je intelligenter, motivierter und konsequenter in ihren Überzeugungen und Wertvorstellungen, desto besser muss die Hauptfigur sein. Ist der Mörder dumm, wird er schnell gefasst und der Krimi langweilig. Manchmal ist die Geschichte der antagonistischen Kraft interessanter als die der Hauptfigur, und man sollte sich überlegen, ob man nicht besser sie erzählt. Sobald die antagonistische Kraft aus dem Spiel genommen wird, brechen der Konflikt und damit die Geschichte zusammen. Also: antagonistische Kräfte entwickeln!

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