Erster Eindruck: Die Entdeckung der Unendlichkeit

Aktuelle Kinofilme dramaturgisch zu untersuchen ist schwierig, weil wir sie dafür eigentlich mehrfach sehen müssten. Dafür fehlen die Ressourcen und manchmal die Geduld. Deshalb ein kurzer erster dramaturgischer Eindruck, der weder umfassende Vollständigkeit, noch analytische Detailtiefe verspricht – dafür spontane Ehrlichkeit und die Konzentration aufs Wesentliche. Heute: Die Entdeckung der Unendlichkeit, Buch: Anthony McCarten.

Die Entdeckung der Unendlichkeit (Wikipedia) erzählt die Lebensgeschichte von Jane Wilde Hawking und Stephen Hawking, von ihrer Zeit als Studenten in Cambridge 1963, als sie sich kennenlernen und bei Stephen ALS (Wikipedia) diagnostiziert wird. Bis ungefähr 1988, als er Eine kurze Geschichte der Zeit veröffentlicht, und beide sich voneinander trennen. Selten trifft eine Genre-Bezeichnung derart daneben: Die Entdeckung der Unendlichkeit ist kein Drama, denn dafür fehlt das Drama.

Die Geschichte birgt offensichtlich wahnsinniges dramatisches Potenzial. Die chaotische Ungerechtigkeit, die Stephen durch seine Erkrankung erfährt, wie er an ihr verzweifelt, sie ertragen lernt und schließlich über sie triumphiert. Doch davon erzählt der Film nicht. Die große Entscheidung, die Jane mit 21 Jahren über ihr Leben trifft, als sie den todkranken Stephen heiratet und pflegt und mit ihm Kinder bekommt, während die Ärzte ihm noch zwei Jahre zu leben geben, dann irgendwann die Erkenntnis, dass Stephen weiterleben wird, das Jane ihn weiter pflegen wird, vielleicht ihr ganzes Leben lang, wie sie ihn dämonisiert, vielleicht, und sich dann schuldig fühlt; Verzweiflung, Ertragen, vielleicht irgendwann Triumph. Doch davon erzählt der Film nicht. Stephen, der vielleicht blind ist für die übermenschlichen Anstrengungen Janes, weil er so gern eine normale Familie sein möchte, und Jane mit seiner Ignoranz tief verletzt, bis er diese Illusion als solche erkennt; Verzweiflung, Ertragen, Triumph. Auch davon erzählt der Film nicht. Schließlich die Trennung, mit der Stephen wie jeder Vater an seiner Illusion der normalen Familie scheitert, und Jane an ihrer Lebensaufgabe, wie sie verzweifelt, und lernt, es nicht als ein Scheitern zu begreifen, triumphiert. Das erzählt der Film auch nicht.

Was erzählt er dann? Die Lebensgeschichte der beiden, nur ohne die Konflikte, ohne die Verzweiflung und (deshalb) ohne jeden Triumph. Also ohne jede Dramatik, ohne Dramaturgie. Negative Gefühle werden grundsätzlich vermieden, von Stephens sympathischem Humor beim leisesten Anflug verscheucht. Da hilft es auch nicht, dass der Film sich für beide als Protagonisten entscheidet, so dass der andere nicht einmal aus einer subjektiven Perspektive heraus negativ dargestellt werden kann.

Alle Figuren sind gut, freundlich, hilfsbereit, nur einmal nicht, als Stephens Mutter Jane vorwirft, Stephen mit einem anderen Mann betrogen zu haben – kaum ein Konflikt, der der Größe dieser Leben und Schicksale irgendwie angemessen wäre. Das mag womöglich in Rücksicht auf die real existierenden Personen geschehen sein, den Film macht es dadurch quasi wertlos. Ohne Konflikte können die Figuren nicht an ihnen scheitern oder wachsen, sich nicht entwickeln, wo doch die mögliche Charakterentwicklung die Botschaft eines Filmes transportiert.

Update 16.1.2015: Die Entdeckung der Unendlichkeit wurde für die Academy Awards nominiert, fünf mal, darunter für das beste adaptierte Drehbuch. Hab ich was übersehen?

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