Figuren mit Vergangenheit: Oscar©-Gewinner MANCHESTER BY THE SEA

In der Verfilmung von Ernest Hemingways THE KILLERS aus dem Jahr 1946 nach einem Drehbuch von Anthony Veiller und dem nicht namentlich genannten John Huston wird Burt Lancaster alias „The Swede“ kurz vor seiner Exekution gefragt, warum ihm jemand nach dem Leben trachte. Seine Antwort: „I made a mistake once.“

Hemingway, davon ist auszugehen, wusste, dass es nicht mehr braucht, um ein Drama in Gang zu setzen, als einen Mann, der eine Vergangenheit hat.

In vielen guten Filmen ist das, was sich auf der Leinwand abspielt, nur das letzte Zehntel einer Geschichte. Die übrigen 90 Prozent sind Backstory.

Dramaturgen sprechen gerne von der „Backstory wound“. Die Backstory wound ist es, die einem Charakter eine Dimension hinzufügt, ihm Tiefe verleiht, und die automatisch für Spannung sorgt, wenn wir die Figur mit ihrem Trauma konfrontieren.

Backstory Wounds fügen Dimensionen hinzu, verleihen Tiefe und sorgen für Spannung.

Auffällig häufig finden wir diese Konstellation im Detektiv-Thriller. Vielleicht ist der Ermittler ja deswegen so eine populäre Figur, weil er das Potenzial für Drama quasi schon von Berufs wegen in sich trägt.

In VERTIGO aus dem Jahr 1958 nutzen die Autoren Alec Coppel und Samuel Taylor die ersten Minuten dazu, einen Mann zu etablieren, der an Höhenangst leidet. Kein anderer wäre für das was folgt ein geeigneterer Kandidat.

In CHINATOWN von Robert Towne sind alle Sünden der Vergangenheit mit einem Ort verknüpft, von dem sich Jack Nicholson alias Jake Gittes einerseits schon vor Jahren verabschiedet hat, und von dem er andererseits doch nicht loskommt.

In MEMENTO von Christopher Nolan muss die Hauptfigur ihre Vergangenheit immer wieder neu rekonstruieren, um überhaupt zu realisieren, in welcher Gefahr sie schwebt.

Und in BLADE RUNNER von Hampton Fancher und David Peoples führt die Frage nach Deckards wahrer Identität nach 35 Jahren zu einem Sequel. Neben kommerziellen Erwägungen, muss man wohl dazu sagen.

Ein weiteres Genre, in dem das Vergangene überdimensional groß erscheint, ist das Horrorgenre. Nicht umsonst hat kein anderes Genre so viele Sequels und sogar Reboots hervorgebracht.

In HALLOWEEN wird der junge Michael Myers gleich in der ersten Szene zum Monster, zum Boogeyman, dem ultimativen Bösen. Wenn er dann nach 15 Jahren wiederkehrt, weckt jeder seiner Auftritte die Erinnerung an diesen uranfänglichen Schock, der uns unvorbereitet, weil viel zu früh, traf. Vielleicht ist es ja das Trauma unserer Geburt, das hier re-inszeniert wird, und das die große Popularität vieler Horror-Franchises ausmacht, ungeachtet ihres oft von Fortsetzung zu Fortsetzung rapide abnehmenden Erzählniveaus.

Wer mehr darüber erfahren möchte, wie man ein Horror-Sequel schreibt, dem empfehle ich den Workshop „Sequels, Franchises & Cinematic Universes – Wie Hollywood mit geklauten Ideen Milliarden verdient und was wir daraus lernen können“.

Nicht immer muss es sich bei dem was uns quält um äußere Dämonen handeln. In Kenneth Lonergans bemerkenswertem Schuld-und-Sühne-Drama MANCHESTER BY THE SEA (Oscar© für das „Beste Originaldrehbuch“, Download hier) geht es ebenfalls um einen Mann mit einer Vergangenheit. Einer Vergangenheit, die ihn nicht loslässt und die er nicht vergessen kann.

Achtung, Spoiler-Alarm! Wer MANCHESTER BY THE SEA noch nicht gesehen hat, der sollte jetzt noch schnell ins Kino gehen und erst danach weiterlesen.

Spoiler-Alarm: MANCHESTER BY THE SEA

Casey Affleck spielt Lee Chandler, einen Hausmeister in Quincy, Massachusetts, der nur scheinbar gelassen alle Demütigungen des Alltags erträgt, während er sein Leben damit verbringt, Schnee zu schippen und anderer Leute Toilettenspülungen zu reparieren. Als ihm dann doch einmal der Kragen platzt, geschieht das mit einer Heftigkeit, die uns überrascht.

Lee trinkt zu viel und zwei Männer, die abends in der Kneipe einmal zu oft zu ihm herüber schielen, reichen ihm als Anlass, um ohne Vorwarnung eine blutige Schlägerei anzuzetteln.

Diese vermeintliche Inkongruenz zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir aufgrund unseres nicht vorhandenen Vorwissens erwarten, ist es, was die dramatische Frage in Gang setzt: Was um alles in der Welt ist mit Lee Chandler los?

Am nächsten Morgen ist neuer Schnee gefallen und dieses Zerrbild eines normalen Lebens könnte sich wohl in einer Endlosschleife immer neu wiederholen. Würde nicht eines Tages das Telefon klingeln und eine Stimme aus der Vergangenheit sich melden.

Lee hat Schuld auf sich geladen, große Schuld. Doch er ist kein Verbrecher und niemand bestraft ihn, für das was er getan hat. Fast scheint er überrascht, als die Ermittler seine Befragung mit den Worten beenden: „It’s not a crime to leave the screen off the fireplace.“ Es ist kein Verbrechen, das Schutzgitter vor dem Kamin nicht zu schließen.

Dass die Vergangenheit einen Menschen so einfach einholen kann, damit hat Lee nicht gerechnet. Als sein Neffe ihn fragt, ob er aus gegebenem Anlass seine Mutter kontaktieren solle, antwortet Lee, niemand wisse wo sie stecke. Doch eine einfache E-Mail genügt und sie ist zurück.

Genau wie Lee, der nach Manchester-by-the-Sea zurückkehrt, wo sein herzkranker Bruder nach einem neuerlichen Anfall ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Es ist nicht der Tod des Bruders, der ihn schockiert und auf Automodus schalten lässt. Zu erwartbar war dieser. Es ist die Vergangenheit, die hier noch immer vor Anker liegt und die Lee davon abhält, in ein neues Leben aufzubrechen. Lee kann sie nicht vergessen. Er kann sich selbst nicht vergeben.

Fast unmerklich schleicht sich diese Vergangenheit ein. In Form von Rückblenden, die sich durch fast nichts von der Gegenwart unterscheiden. Außer dass die Toten hier tot sind und dort lebendig.

Für Lee Chandler ist die Grenze ohnehin fließend. Jemand solle seine Frau verständigen, verlangt er noch im Krankenhaus. Entschuldigung, wen? Lee meint Randi, seine hochschwangere EX-Frau.

In der vielleicht dramatischsten Szene des Films schnappt er sich die Dienstwaffe eines Polizisten und will sich damit eine Kugel in den Kopf jagen. Doch die Pistole ist gesichert und verdammt ihn dazu, weiterzuleben.

Das große Finale ist eine stille Anti-Klimax, in der Casey Affleck und Michelle Williams ihr ganzes Können unter Beweis stellen dürfen. Es nützt nichts, dass Randi Lee an ihre Gemeinsamkeiten erinnert. Was die beiden verbindet, ist zugleich das, was sie trennt.

In der letzten Einstellung sehen wir Lee und seinen ihm anvertrauten halbwüchsigen Neffen Patrick beim gemeinsamen Angeln. Sie sitzen im selben Boot, sie tun dieselben Dinge. Doch es ist ein Nebeneinander, kein Miteinander. „I know you have a broken heart too“, sagt Randi am Ende zu Lee. Doch wie sollen wir gemeinsam vergessen, was wir nicht vergessen können?

Autor/Regisseur Kenneth Lonergan entlässt uns ohne einfache Antworten und erreicht damit scheinbar mühelos, was man in dieser Qualität hierzulande noch nie gesehen hat. Den Oscar© hat das Drehbuch jedenfalls verdient.

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