FSE16: Wie erzählt man Euthanasie im Kino?

Der diesen Sommer erschienene deutsche Kinofilm Nebel im August erzählt Leben und Tod des dreizehnjährigen „schwer erziehbaren“ Ernst Lossa in einer psychiatrischen Anstalt des Nationalsozialismus. Das Drehbuch stammt von Holger Karsten Schmidt; auf FilmStoffEntwicklung, bei der Case Study zur Frage „Wie erzählt man Euthanasie im Kino?“ ist der Produzent des Films (und Autor vieler guter anderer Filme), Ulrich Limmer zu Gast.

Nebel im August basiert auf einem gleichnamigen Roman des Journalist und Autors Robert Domes und auf wahren Begebenheiten: Die Hauptfigur, Ernst Lossa, gab es tatsächlich; er wurde 1944 in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee von den Nazis ermordet. Wie 1572 andere auch. Was Ulrich Limmer über Strafverfolgung und Aufarbeitung erzählt und was man darüber nachlesen kann, macht sprachlos:

Der Anstaltsleiter wurde zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt und vom bayerischen Justizminister 1954 (mir unklar: Otto Weinkamm oder Fritz Koch) vor Haftantritt begnadigt. Eine Krankenschwester, die für 200 Morde an Kindern verantwortlich gemacht werden konnte, wurde zu vier Jahren Haft verurteilt, von denen ihr drei wieder erlassen wurden. Wenn ich Limmer richtig verstanden habe, hat sie anschließend wieder in einem Kinderkrankenhaus gearbeitet.

FSE16, Nebel im August, Ulrich Limmer
Photo: André Wunstorf. VeDRA, FilmStoffEntwicklung 2016.

Für die Frage „Wie erzählt man Euthanasie im Kino?“ hat Ulrich Limmer vor allem eine Antwort: Nüchtern. Der Schrecken dieser Anstalt, der Aktionen T4 und Brandt, der Entzugskost, der Schrecken der nationalsozialistischen Euthanasie sei zu groß, um sie zu verfälschen. Auch nicht im Sinne dramaturgischer Modelle, Erzählbarkeit, also emotionaler Wirkung auf den Zuschauer. Denn die ist ja bereits vorhanden.

Ich habe Nebel im August nicht gesehen und kann das auch zunächst nicht mehr nachholen: Wegen geringer Zuschauerzahlen ist der Film aus den Kinos sehr schnell wieder verschwunden. Selbst vor Ort in Berlin gab es am selben Abend keine Vorstellung. Doch auch ohne den Film bis auf einige vorgeführte Ausschnitte gesehen zu haben, glaube ich Schmidts und Limmers Einschätzung aufs Wort. Und:

Vielleicht, denn diese Nüchternheit wird der Zuschauer spüren können, vielleicht wirkt der Film dadurch sogar stärker. Erzählung, Veränderung, Verklärung, Ästhetisierung erzeugt auch Distanz, das haben Schmidt und Limmer so vielleicht vermeiden oder mildern können.
Wie erzählt man eigentlich Opfer?
Ein interessantes dramaturgisches Detail: Ulrich Limmer erzählt, dass die beiden Szenen, die sie während der ganzen Produktion als Wendepunkte verstanden hatten, herausgeschnitten wurden. In diesem ersten Wendepunkt erfährt Ernst, dass sein Vater versucht, ihn dort herauszuholen, und entscheidet, deswegen solange in der Anstalt zu bleiben. Im zweiten Wendepunkt erfährt er, dass sein Vater ermordet wurde und entscheidet, (wenn ich das richtig verstanden und richtig in Erinnerung habe) daraufhin zu fliehen. Beide Szenen seien jedoch schwach gewesen, weil Ernst das jeweils nicht aus erster Hand erfährt. Man habe beide Szenen, das Gerüst, entfernt, das Haus sei dennoch stehen geblieben.

Eine Frage, die nicht diskutiert wurde, die ich mir im Nachhinein jedoch stelle: Wie erzählt man eigentlich Opfer? Limmer bezeichnete den Film nebenbei als Tragödie, doch sind Tragödien nicht solche Filme, an denen die Hauptfigur an den Konsequenzen ihrer eigenen Taten scheitert? Dramaturgisch stark, wäre eines solche Geschichte in der Nazizeit allerdings so falsch und verantwortungslos wie ein Film nur falsch und verantwortungslos sein kann: Kein NS-Opfer kann Schuld an seinem Schicksal treffen.

Doch wenn Ernst nicht über sein Schicksal entscheidet, ist er nicht der Protagonist der Geschichte. Das ist aus den genannten Gründen auch richtig so, mein (unvollständiger) Eindruck ist aber, dass diese dramaturgische Erkenntnis in den Film nicht eingeflossen ist. Es gibt mit Anstaltsleiter und Krankenschwester zwei mögliche Protagonisten, ob der Film sie allerdings dementsprechend behandelt, kann ich aus den Aussagen Limmers und den zwei gezeigten Ausschnitten nicht schließen.
Es gibt viele Opfer, die eine Erzählung verdient hätten.
Auch ein dramaturgischer Thriller, bei dem der Antagonist der Protagonist ist, und die Hauptfigur reagierendes Opfer seiner Anstrengungen, funktioniert hier nicht. Denn im Thriller ermächtigt sich die Hauptfigur schließlich zum Protagonisten, schlägt zurück.

Wenn wir diese Ermächtigung zur Entscheidung erklären, die die Hauptfigur richtig (das Ja zur Ermächtigung führt zum Happy End, wie wir es kennen) oder falsch (ein Nein zur Ermächtigung führt in den Tod, wie es mir bisher unbekannt – Der ewige Gärtner? – war) treffen kann, also eine Art Thriller-Tragödie konstruieren, könnte das eine dramaturgische Lösung sein.

Solche eine Frage mag angesichts dieser Erzählung und ihrer Bedeutung völlig bedeutungslos erscheinen. Aber Überlegungen darüber, wie wir sinnvoll Opfer erzählen können ermöglicht es uns vielleicht, mehr solcher Filme zu machen. Es gibt viele Opfer, die eine Erzählung verdient hätten. Besonders in der aktuellen Zeit, in der der Fokus der Berichterstattung meist auf Tätern liegt. Ein Umstand, der auch schon von Wissenschaftlern im Zusammenhang mit möglichen Nachahmungstaten kritisiert wurde.

Vielleicht finden wir Geschichtenerzähler einen Weg, es richtig zu machen. Und Holger Karsten Schmidt und Ulrich Limmer haben erste Schritte auf diesem Weg gemacht.

Weitere Artikel zu den Veranstaltungen auf FilmStoffEntwicklung 2016 folgen.

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