Mit seinen Figuren in Kontakt kommen

Man meint immer, seine Figuren gut zu kennen. Das mag der Fall sein, die Frage ist nur, ob man diese Kenntnis schon aus der zum Teil noch im Unbewussten liegenden Anmutung ins Bewusstsein hat holen können. Das Hauptkriterium für Bewusstheit ist sprachliche Ausformulierung.

Jürgen Wolff ließ im Workshop DIE KUNST VON DER REGEL ABZUWEICHEN folgende Übung machen: Man sollte die Augen schließen und er stellte Fragen, die bei jedem spontan zu Vorstellungen der Hauptfigur führen sollten. Zitat:

  • Du stehst vor dem Haus Deiner Hauptfigur. Wo wohnt sie?
  • Betrete Ihre Wohnung. Wie ist sie eingerichtet? Was für Farben?
  • Schau Deine Hauptfigur an. Wie sieht sie aus? Was hat sie an?
    Zum Beispiel ihre Schuhe?
  • In ihrem Wohnzimmer hängt ein Bild. Foto oder Gemälde?
    Was ist darauf zu sehen?

Jeder kann das für sich mit weiteren Fragen fortsetzen. Das war eine Vorstudie im Bereich der Anschauung. Wolff wollte uns aus unserer sprachlich-intellektuellen Kopfigkeit heraus holen. Es ging dabei durchaus etwas hypnotisch zu. Er reduzierte bei seinen Übungen die dominante linke Gehirnhälfte zugunsten der rechten, der Schatztruhe unserer Lebenserfahrungen. Diskussionen, Kommentare, Wertungen waren nicht erlaubt. (Wer zu diesem Thema mehr wissen will, lese Paul Watzlawicks kleines Buch Die Möglichkeit des Andersseins.)
Menschen lügen, wenn sie über sich reden.
Nun aber eine Art Übung, die sich in meiner Arbeit mit jungen Drehbuchautoren sehr bewährt hat. Womit man seine Figuren spontan zum Sprechen bringen kann.

  1. Man stelle sich vor, seine Hauptfigur sitzt in einem Zug und kommt mit einer ihr völlig unbekannten Person ins Gespräch. Diese ist sympathisch und offen und hat etwas aus ihrem Leben erzählt. Dann geschieht es quasi zwangsläufig, dass die Hauptfigur dieser Person auch aus ihrem Leben erzählt. Mit ziemlicher Sicherheit das, was ihr gerade auf der Seele liegt und von dort weiter ausgreifend Wichtiges aus ihrem Leben. Selbst Schamgrenzen werden dabei angekratzt, weil man ja mit Recht davon ausgehen kann, diese Person in seinem Leben nicht mehr wieder zu sehen.
    Diese Situation imaginiert man sich, lässt den Dialog kommen und schreibt es auf. Dabei lernt man seine Figur besser kennen, günstigenfalls sogar bis in persönliche Sprachnuancen hinein. Mit Sicherheit kann man etwas von ihrem Duktus und ihrer Wortwahl in spätere Dialoge übernehmen.
  2. In einem nächsten Schritt sollte man sich überlegen und erforschen, was die Hauptfigur nicht gesagt hat und warum. Das kann man für sich in ein paar knappen Sätzen formulieren.
  3. Im letzten Schritt darf man Gott spielen. Man soll nämlich, dem Jüngsten Gericht ähnlich, seiner Hauptfigur sagen, wo sie gelogen hat. Denn Menschen lügen, wie David Mamet das ganz trocken behauptet, wenn sie über sich reden. Auch das skizziert man in ein Paar Sätzen.

Diese Vorstudien kann man für alle wichtigen Figuren machen, also die, die mit der Hauptfigur längere relevante Szenen haben. By the way: Bei Punkt 3 hat man sogar einen wirklichen Kontakt zur Hauptfigur aufgebaut. Man hat mit ihr gesprochen…
Das würde meine Figur nicht sagen (oder tun)!
Es ist vielleicht viel Arbeit, aber es lohnt sich. Es macht auch Spaß und verstärkt die Sicherheit über die eigenen Figuren enorm. Die braucht man für alle Besprechungen mit den Entscheidern (Redakteuren, Produzenten, Dramaturgen und Regisseuren). Ein starker Satz von Autoren-Seite ist: „Das würde meine Figur nicht sagen (oder tun)!“ So ein Satz muss natürlich begründet sein und jeder weiteren Gesprächsentwick-lung standhalten können. Dann hat man sich als Autor Respekt verschafft und die Neigung der Entscheider, sich als Co-Autoren aufzuspielen, schwindet.

Zielführend ist daran immer gewesen, dass derlei Unternehmungen die Türen in die Fantasie weit aufgemacht haben. Nicht nur für die Figuren, auch für den Plot. In diesem Zusammenhang noch ein Zitat aus der berühmt-berüchtigten DOGMA-Erklärung DER SCHWUR DER KEUSCHHEIT. Obwohl sich heute kein Dogma-Regisseur an die 10 Regeln hält. Wäre auch eine gute Empfehlung für Hollywood: Dogma 95 wünscht, Film so zu reinigen, dass wieder

das Innenleben der Figuren den Plot rechtfertigt.

Ein Kommentar

  1. Da fällt mir das schöne Freud-Zitat ein: „Die Schöpferkraft eines Autors folgt leider nicht immer seinem Willen; das Werk gerät, wie es kann, und stellt sich dem Verfasser oft wie unabhängig, ja wie fremd, gegenüber.“

    26. Juli 2016

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