Psychologische Grundkonflikte I: Abhängigkeit vs. Individuation

Weißt Du, was ich tun würde, wenn ich wüsste, dass Du mich nie wieder lieben würdest? Ich würde sofort in die Küche hinuntergehen, mir das schärfste Messer heraussuchen und mich umbringen.

Maggie Pollitt (Elizabeth Taylor) in DIE KATZE AUF DEM HEISSEN BLECHDACH (USA, 1958)

Dieser Artikel behandelt einen der sieben psychologischen Grundkonflikte und baut damit auf meinen allgemeinen Ausführungen zur Psychodynamik auf.

Für Maggie, die Katze auf dem heißen Blechdach, scheint der Verlust ihrer Beziehung schlimmer zu sein als der Tod. Die Beziehung ist Sinn und wichtigster Inhalt des Lebens, sie ist von ihr abhängig. Dies liegt nicht daran, dass die Beziehung zu ihrem Mann Brick für sie besonders schön oder befriedigend wäre. Im Gegenteil. Nein, die Beziehung scheint Selbstzweck zu sein, der letzte verbliebene Anspruch an sie ist, Maggie vor dem existenziell bedrohlichen Gefühl der Einsamkeit zu bewahren. Hierin zeigt sich Maggies Abhängigkeits- vs. Individuationskonflikt, welchen sie im einseitig passiven, also abhängigen, Modus lebt.

Der Abhängigkeits- vs. Individuationskonflikt, auch als Nähe- vs. Distanzkonflikt bezeichnet, betrifft eine der grundlegendsten Bipolaritäten der Conditio Humana.

An anderer Stelle habe ich schon einmal Schopenhauers Stachelschweingleichnis als Bild für die Nähe- vs. Distanz-Dynamik angeführt. Der Philosoph verglich das menschliche Beziehungsverhalten mit einer Gruppe Stachelschweine im Winter: Alleine stehend friert jedes Tier und sucht folglich die Nähe der anderen. Rücken die Stachelschweine jedoch zu nahe zusammen, verletzten sie sich an den Stacheln der anderen, woraufhin sie wieder weiter auseinanderrücken. Da es den Punkt perfekter Distanz auf Dauer nicht gibt, entsteht eine ständige Hin- und Weg-Bewegung mit dem Ziel einer hinreichenden, möglichst ausgewogenen, Nähe-Distanz-Regulation.

Das Ziel ist eine ausgewogene Nähe-Distanz-Regulation.

Auf uns Menschen übertragen, suchen wir als soziale Wesen Verbundenheit, Sicherheit, Rückhalt, Bestätigung und soziale Anregung durch andere. Gleichermaßen binden uns die sozialen Bezüge, begrenzen somit unsere freie persönliche Entfaltung und nötigen uns Kompromisse im Handeln, aber auch im Denken und Fühlen, ab. Der Begriff Abhängigkeit ist dabei nicht per se negativ besetzt. Zwar kann unflexible, defensive Abhängigkeit zum Problem werden, so wie bei Maggie, die sehr darunter leidet. An sich meint der Begriff jedoch das Anerkennen und konstruktive Gestalten der mit dem Menschsein an sich untrennbar verbundenen physischen, sozialen und emotionalen Abhängigkeiten, durch die ein erfülltes Leben möglich wird.

Ohne physische, soziale und emotionale Abhängigkeit ist ein erfülltes Leben nicht möglich.

Wird die Bindung jedoch als zu eng empfunden, wird ein weiteres basales Bedürfnis beschnitten: Die Individuation. Dieser auf C. G. Jung zurückgehende Begriff bezeichnet die psychische Entwicklung hin zur Ausbildung und Konturierung einer individuellen, in sich grundlegend schlüssigen, gleichsam „ganzen“ Persönlichkeit. Jung hat den Weg zur Individuation auch in der schrittweisen Herausarbeitung des „wahren Selbst“ aus der Hülle des durch soziale und moralische Normen eingeschränkten „falschen Selbst“ gesehen.

Beide Motive, Bindung und Individuation, müssen wir ständig in einer unseren individuellen Bedürfnissen entsprechenden Balance halten, bzw. diese immer wieder aufs Neue herstellen. Das Stichwort für eine gelingende Lösung heißt bezogene Individuation – die Selbstverwirklichung betreiben und dabei trotzdem, grundsätzlich, in Beziehung bleiben.

An einem der beiden Extrempole des Abhängigkeits- vs. Individuationskonflikts findet sich also der passive (abhängige) Modus, bei dem existenzielle Verlustangst die Betroffenen dazu treibt, sich in Beziehungen unterzuordnen und selbst zu verleugnen, Eigenständigkeit zu vermeiden. Oft verbleiben diese Menschen lange in der Herkunftsfamilie, suchen sich stark bindende soziale Gruppen, nehmen in Familie und Beruf untergeordnete Positionen in Kauf und zeigen wenig individuellen Ehrgeiz. Im Gegenüber lösen sie Beschützerimpulse aus, können aber mit ihrer stark spürbaren Bedürftigkeit auch nerven, vereinnahmen und dadurch auf Ablehnung stoßen.

Verlustangst führt dazu, sich unterzuordnen und zu verleugnen.

Dem diametral gegenüber steht der aktive (forciert unabhängige) Modus, geprägt von der Angst vor Vereinnahmung und darum bemüht, sich von Verbindlichkeit und Verantwortung für andere frei zu halten. Radikale Beziehungsabbrüche, ohne ersichtlichen hinreichenden Grund, können die Biographie kennzeichnen. Beruflicher Erfolg und Wohlstand können als Mittel zur Sicherung der Unabhängigkeit große Wichtigkeit erlangen. Als Gegenüber können wir diese Menschen für ihre Eigenständigkeit anfangs bewundern, aber auch ihre Rastlosigkeit und Vermeidung von ernsthaften Bindungen erahnen, oder uns von ihnen zurückgewiesen fühlen.

Angst vor Vereinnahmung führt dazu, sich von Verbindlichkeit und Verantwortung für andere frei zu halten.

Das Abhängigkeits- vs. Individuationsthema ist wie gemacht für Beziehungsgeschichten. Wieviel Nähe wir brauchen und aushalten, wieviel Freiraum und Selbstständigkeit wir beanspruchen und zugestehen, zeigt sich oft in unseren wichtigsten Beziehungen.

Da ist zum Beispiel Meredith Grey aus GREYS ANATOMY, die in den ersten Staffeln einen deutlichen, ungelösten Abhängigkeits- vs. Individuationskonflikt zeigt, der sie immer wieder in schwierige Beziehungssituationen und damit tiefe Verzweiflung stürzt. Als Kind eines abwesenden Vaters und einer überstrengen, entwertenden Mutter hat sie keine schönen Beziehungserfahrungen gemacht und bekommt daher auch als Erwachsene noch unmittelbare, existenzielle, dabei aber tief unbewusste (Verlust-) Ängste, sobald eine Beziehung ein gewisses Maß an Verbindlichkeit bekommt. Dadurch stößt sie Derek immer wieder von sich, obwohl sie ihn eigentlich liebt, natürlich in der unbewussten Hoffnung, dass er all das aushält und ihr weiterhin Nähe und Verbundenheit anbietet, ohne sie zu vereinnahmen. Dies gelingt ihm im Lauf der Serie tatsächlich ganz gut und so lernt Meredith mit der Zeit, Verbundenheit auch positiv erleben und dadurch besser aushalten zu können.

Ungelöste Abhängigkeits- vs. Individuationskonflikte in GREYS ANATOMY

Ganz anders Rick Blaine (Humphrey Bogart) aus CASABLANCA. Sein Abhängigkeits- vs. Individuationskonflikt scheint tief im aktiven, jede Art von Bindung abwehrenden, Modus festgefahren. Die Wunde, welche Verbundenheit und Liebe beim letzten Mal geschlagen haben, schmerzt noch zu sehr. Als die frühere Geliebte Ilsa (Ingrid Bergmann) unerwartet wieder auftaucht, verliert er sich zwar noch einmal kurz in der Phantasie einer gelingenden festen Beziehung, wagt aber letztlich doch nicht, das Risiko einer erneuten Verletzung, welches Nähe immer in einem gewissen Maß mit sich bringt, einzugehen.

Der aktive, abwehrende Modus in CASABLANCA

Beide, Meredith und Rick, schaffen es zunächst ganz gut, ihre Angst vor Abhängigkeit zu verstecken, auch und nicht zuletzt vor sich selbst. Unabhängigkeit, Coolness, beruflicher Erfolg und ein selbstbewusstes Auftreten sind die süßen Früchte der konsequenten Eigenständigkeit. Sie finden vorübergehend Entlastung von der inneren Abhängigkeits- vs. Individuationskonfliktspannung durch einen einseitig aktiven Modus.

Jetzt fehlt nur noch die Liebe! – möchte man als Zuschauer meinen. Aber genau hier scheitern die beiden (Meredith zunächst, Rick vermutlich dauerhaft), weil sie sich nicht weit genug von der sicheren Basis ihrer forcierten Individuation wegbewegen können, um neues Beziehungsterrain zu erschließen.

Der einseitig passive Lösungsmodus in BREAKING BAD

Das Gegenteil, einen einseitig passiven Lösungsmodus, können wir bei Jesse Pinkman, Walter Whites Kompagnon aus BREAKING BAD, erkennen. Aufgrund eines ADHS, erlebte Jesse als Kind immer wieder, dass er, so wie er war – nämlich aktiv, laut, ungestüm und neugierig – nicht der Sohn war, den sich seine biederen und ehrgeizigen Mittelschichtseltern gewünscht hätten. Mit der frühen, demonstrativ enttäuschten Abwendung seiner Eltern, wird Jesses ganzes Selbstverständnis als liebenswerter Mensch infrage gestellt. Darum wird soziale Zuwendung für sein inneres Sicherheitsgefühl existenziell wichtig und die Einsamkeit mit ihrem Raum für Selbstzweifel und Verlassenheitsängste zu seinem größten Feind. Da ihm die Fähigkeiten fehlen, das positive Interesse seiner Eltern zu wecken, macht er immer wieder durch Regelverstöße auf sich aufmerksam, um zumindest nicht unsichtbar zu bleiben. Dafür opfert er sein persönliches und soziales Fortkommen und die adäquate Entfaltung seiner Potentiale.

Dass dieser frühe Abhängigkeits- vs. Individuationskonflikt dauerhaft unzureichend gelöst bleibt, zeigt sich darin, dass Jesse ihn auch in der Beziehung zu Walter reinszeniert. In der Hoffnung, einen Ziehvater gefunden zu haben, den er bewundern und dessen Respekt er sich seinerseits verdienen kann, ist er immer wieder bereit, sich selbst, seinen Stolz und seine Gesundheit zu opfern, um Walters Zuwendung zu erlangen. Selbst wenn er immer wieder ahnt, dass er dadurch zum willfährigen Manipulationsopfer wird, ist diese Einsicht erst ganz zum Schluss, nach unzähligen Enttäuschungen, stark genug, um gegen die neurotische Abhängigkeit anzukommen.

Bindungs- und Geborgenheitswünsche in SONS OF ANARCHY

Auf anderer Ebene als der dyadischer Beziehungen, nämlich sozialer Gruppenprozesse, behandelt die Serie SONS OF ANARCHY Abhängigkeits- vs. Individuationskonflikte. Die Mitglieder des namengebenden kriminellen Motorradclubs sind allesamt durch Gewalt, Krieg oder schwere Verlusterlebnisse in ihrem Vertrauen in die Sicherheit menschlicher Bindungen schwer erschüttert. An der Oberfläche sagen sie sich daher von allen sozialen Verbindlichkeiten los, nennen sich niemandes Söhne mehr, als nur der Anarchie, erheben sich scheinbar über Gesetze und Normen und stilisieren die Freiheit zum höchsten Gut. Doch das ist, wie gesagt, nur die Selbstdarstellung an der Oberfläche. Darunter zeigen sich die massiven Bindungs- und Geborgenheitswünsche der einsamen und verängstigten Kinder, die die Outlaws einst waren. Der Club wird zur Familie, die Mitglieder zu Brüdern. Bezogene Individuation nie erfahren habend, beschwören sie ein Treue- und Loyalitätsideal, das wiederum so überhöht ist, dass es immer wieder von den Individuationsbedürfnissen der Einzelnen unterlaufen wird, bis schließlich kaum noch jemand daran glaubt. Die Sons of Anarchy leben ihren Abhängigkeits- vs. Individuationskonflikt in einem gemischten Modus, der jedoch nur das aktive oder passive Extrem zulässt.

Autor und Showrunner Kurt Sutter greift, bewusst oder unbewusst, die forcierte Loyalitätsrhetorik seiner Biker auf, indem er die folgenden Zeilen aus Shakespeares Hamlet, als letzte Worte seiner Serie wählt:

“Doubt thou the stars are fire,
Doubt that the sun doth move,
Doubt truth to be a liar,
But never doubt I love.”

Vermutlich würde das auch Maggie Pollitt gefallen…

5 Comments

  1. Liz

    Ein sehr interessanter, inhaltsreicher Artikel! Das Wissen über die Grundkonflikte hilft mir, meine Romanfiguren (hoffentlich;-) spannender zu schreiben. Danke dafür! :-)

    22. April 2016
  2. Vielen Dank für die schöne Rückmeldung. Das freut mich sehr.

    23. April 2016
  3. Tatjana Zimmermann - Stoffel

    hallo sehr interessant zu diesem Thema sind die Individuations Manga Filme:
    Ich habe mich mit demselben auseinandergesetzt in „Chihiros Reise ins Zauberland von Hayao Miyazaki“ und habe mein Arbeit geschrieben in Prozessorientierter Psychologie im Vergleich Individuation C. G. Jung / Alchemie/ gestalterischer Ausdruck und „Synchronizität“ im Alltag. Nun würde ich gerne mehr Einsicht in denMystiker und seine Erfahrung erhalten und zwar die Ausformulierung und Recherchen zu Johannes vom Kreuz „die dunkle Nacht der Seele“… bin gespannt auf „Feedback“ . Danke T.Z.

    21. Dezember 2016
  4. Claudia Kappe

    weil das Leben die besten Geschichten schreibt – und ich Mutter von 5 inzwischen erwachsenen Kindern bin und ehemalige pastorle Mitarbeiterin, Akademikerin… lesse ich fiction, also Literatur nur noch, wenn die Spracche herausfordernd-interessant ist oder mal ganz ausnahmesweise der plot. Denn die Geschichten in meinem realen Umfeld toppen die fiction.

    Daher gern mehr Meta-Artikel.

    7. Februar 2021
  5. Als selbst Betroffene habe ich nach 20 Jahren Eigen-Studium zur Psycho-Analyse schon einiges Gutes gelesen, aber Sie bringen das Nähe-Distanz- / (Un-)Abhängigkeits-Problem wirklich fabelhaft prägnant mit ebenso einleuchtenden Beispielen anhand von Film-Figuren auf den Punkt. (Meine Lieblings-Serie ist Grey‘s Anatomy. ;-)

    18. Februar 2021

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