Psychologische Grundkonflikte IV: Selbstwert

Ich bin ein riesen Leuchtturm, Mann! Ich habe für Dich geleuchtet, ich leuchte für Dich, ich erlösche nie. Ich erlösche nie!

Robert Boyd (Christian Slater) in VERY BAD THINGS (USA, 1998).

Dieser Artikel behandelt einen der sieben psychologischen Grundkonflikte und baut damit auf meinen allgemeinen Ausführungen zur Psychodynamik auf. Ebenfalls bereits erschienen sind Artikel zum Abhängigkeits- vs. Individuationskonflikt, zum Unterwerfungs- vs. Kontrollkonflikt und zum Versorgungs- vs. Autarkiekonflikt.

Erinnert sich noch jemand an Stephen Boyd aus VERY BAD THINGS? Den arroganten und zynischen Playboy, der ungerührt über immer neue Leichen geht, um vorherige Vergehen zu verschleiern. Nicht, weil er etwa ein Berufsverbrecher oder Sadist wäre, sondern einfach nur, weil er kein fremdes Bedürfnis, nicht einmal das Überleben selbst, als gleich- oder gar höherwertig verglichen mit seinen eigenen (teils recht niederen) Wünschen und Motiven wahrnimmt. Seine pseudo-rationalistischen, mal sozialdarwinistischen, mal anarchischen Argumentationen verschleiern nicht wirklich seine Wahrnehmung, einfach wichtiger und besser zu sein, als andere: „Ich bin ein riesen Leuchtturm, Mann!“

Boyd ist damit der Prototyp einer narzisstischen Persönlichkeit. In der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) wird die Diagnose einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung (F60.80) durch mindestens fünf der folgenden neun Kriterien definiert, welche zeit- und situationsübergreifend vorliegen müssen:

1. Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit
2. Phantasien von Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe
3. Überzeugung besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder wichtigen Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen
4. Bedürfnis nach exzessiver Bewunderung
5. Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung
6. Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
7. Mangel an Empathie
8. Neid auf andere und/oder Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
9. Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten

Weitere fiktive narzisstische Persönlichkeiten sind Big Jim Rennie aus UNDER THE DOME, Prof. Boerne aus dem Münsteraner TATORT, oder, auf subtilere Weise, auch Walter White aus BREAKING BAD. Auch über mögliche narzisstische Persönlichkeitsstörungen realer Personen des öffentlichen Lebens wird mitunter, auch aktuell, wild spekuliert, was sich aus professioneller Sicht jedoch verbietet (die sog. Goldwater Regel).

“Ich bin ok – Du bist nicht ok“

Das tragische, und oft zu wenig beachtete, Element der narzisstischen Persönlichkeitsstörung ist die kompensatorische Funktion der pathologischen Selbstüberhöhung. Ihrer bedarf nur, wer von tiefsten unbewussten, den Selbstwert beständig existenziell bedrohenden Selbstzweifeln und Minderwertigkeitsängsten getrieben wird. Das erklärt die narzisstischen Verhaltensweisen als unflexible, defensiv-forcierte Abwehrmechanismen. „Narzissten“ geht es mit ihrer beständigen Selbstüberhöhung auf Kosten der Abwertung anderer nicht wirklich gut. Sie sind innerlich getrieben, unbewusst ständig vom Zusammenbruch ihrer konstruierten Selbstherrlichkeit bedroht.

Folglich ist pathologischer Narzissmus einer der beiden Extrempole des psychologischen Grundkonfliktes zwischen hohem und geringem Selbstwert. Demgegenüber steht das Extrem eines chronisch niedrigen Selbstwertgefühls. Beständige Scham- und Unterlegenheitsgefühle kennzeichnen den passiven Bewältigungsmodus des Selbstwertkonflikts.

„Ich bin nicht ok – Du bist ok“

Wir können diesen Modus in Ansätzen in den frühen Staffeln von THE BIG BANG THEORY bei Leonard, teilweise auch bei Raj, beobachten. Durch überkritische Eltern in ihrem Selbstwertgefühl nie hinreichend stabil bestärkt und versichert, zweifeln sie beständig an ihrer Liebenswürdigkeit und Konkurrenzfähigkeit. Statt in die narzisstische Überkompensation flüchten sie sich in die scheinbare resignative Akzeptanz ihrer Minderwertigkeit, identifizieren sich als Loser, Nerds und Dauerjunggesellen und sind immer wieder zu weitreichender Unterordnung und Selbstverleugnung bereit, nur um etwas Aufmerksamkeit und Zuspruch von als höherwertig erlebten Personen (Frauen, Helden der Popkultur oder Wissenschaftsszene) zu erhalten.

Bei Leonard können wir dezente Züge einer ängstlich-vermeidenden (auch und aus meiner Sicht treffender als selbstunsicher bezeichneten) Persönlichkeitsstörung (ICD 10: F60.6) identifizieren, die durch die folgenden Kriterien definiert ist:

1. Andauernde und umfassende Gefühle von Anspannung und Besorgtheit
2. Überzeugung, selbst sozial unbeholfen, unattraktiv oder im Vergleich mit anderen minderwertig zu sein
3. Übertriebene Sorge, in sozialen Situationen kritisiert oder abgelehnt zu werden
4. persönliche Kontakte nur, wenn Sicherheit besteht, gemocht zu werden
5. Eingeschränkter Lebensstil wegen des Bedürfnisses nach körperlicher Sicherheit
6. Vermeidung beruflicher oder sozialer Aktivitäten, die intensiven zwischenmenschlichen Kontakt bedingen, aus Furcht vor Kritik, Missbilligung oder Ablehnung

Leonard befindet sich in den ersten Staffeln von THE BIG BANG THEORY in einer intensiven unbewussten Reinszenierungsdynamik seiner in der Kindheit beständig erlebten Abwertungserfahrung mit Sheldon. Man nennt dies Kollusion, oder auch maligne Verklammerung: Zwei Personen, deren Abwehrmechanismen auf entgegengesetzten Polen desselben inneren Konfliktes liegen, finden sich zusammen, um unbewusst ihre jeweilige Abwehrstruktur stabil aufrechterhalten zu können: Sheldon ist der eingebildete Narzisst, der sich selbst über andere stellt und sich so der eigenen Grandiosität versichern kann (eine Reinszenierung seiner früheren „Ich bin zwar anders, aber wenigstens besser“-Reaktion auf Mobbing und Ausgrenzung). Leonard ist der genügsame, bescheidene, maximal angenehme Mitbewohner, der seine heimliche Genugtuung gerade aus der Fähigkeit der Unterordnung und des Nichtangewiesenseins auf jedwedes narzisstische Getöse zieht.

Das sieht von außen betrachtet skurril aus (und sorgt für ein Großteil der Lacher), schützt aber Sheldon vor Selbstzweifeln und Leonard vor der Konfrontation mit seinen nicht-erfüllten Bedürfnissen nach Anerkennung und Stolz.

„Ich bin ok – Du bist ok“

Eine gelungene, ausgeglichene Lösung des für jeden Menschen hoch relevanten inneren Selbstwertkonflikts besteht in einer grundlegend ausgewogenen Mischung aus kritischer Selbstbetrachtung und Stolz auf die eigenen Eigenschaften und Fähigkeiten. Sich selbst liebenswert zu fühlen und gleichzeitig die Bedürfnisse, Gefühle und Ansichten anderer als ebenso wichtig anzuerkennen, ist die Basis für die Fähigkeit, kritische Rückmeldungen konstruktiv und flexibel aufzunehmen und zu Eigenheiten selbstbewusst stehen zu können.

Im Jargon der Populärpsychologie: „Ich bin ok – Du bist ok“.

(Während die narzisstische Konfliktlösung durch „Ich bin ok – Du bist nicht ok“, die selbstunsichere durch „Ich bin nicht ok – Du bist ok“ zu kennzeichnen wäre. „Ich bin nicht ok – Du bist nicht ok“ wäre, der Vollständigkeit halber, eine typisch depressive Wahrnehmung).

2 Comments

  1. Michael Füting

    Ist schön und witzig, lese ich gerne. Hat aber für AUTOREN einen Haken. Es verführt dazu, Figuren nach solchen Listen (1. bis…) zu konstruieren. Konstruktion, das Wort verrät es schon, ist etwas Technisches. O.k. auch in der Kunst gibt es Technik. Nur muss das Primäre das Lebendige sein. Oskar Maria Graf warnt: ZURECHTGEDACHTES WIRD IMMER VOM LEBENDIGEN ZERKRÜMELT.
    Oder anders argumentiert: ÖDIPUS musste erst gedichtet werden, bevor ihn Sigmund Freud für seinen Ö-Komplex benutzen konnte. Oder?

    3. Oktober 2016
  2. Danke! Das ist ein schönes Zitat, das sich auch gut auf Psychotherapie anwenden lässt. Ich lasse mich auf mein Gegenüber ein, das ist immer neu und einzigartig. Dann versuche ich, zu verstehen. Dabei helfen mir Muster und Kategorien als Abgleich. Freud wollte Ödipus verstehen, weil dieser ihn berührt hat. Er fand ihn für sich und andere nachvollziehbar und wollte das gemeinsame Thema herausarbeiten.
    Ich bin kein Autor, aber diese gezielte „Konstruktion“ schiene mir auch technisch und unlebendig. Vielleicht kann es aber hilfreich sein, sich selbst und andere (Figuren) auf vielfältige Weise gut zu verstehen, um die eigenen Figuren nachvollziehbar und berührend zu „konstruieren“.
    P.S. Der ödipale Konflikt kommt als übernächster in der Reihe auch noch dran.

    6. Oktober 2016

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