Psychologische Grundkonflikte: Zwei Seelen wohnen, ach! in jeder Brust!

Als einziger dramaturgischer Laie unter den Autoren dieses Blogs, bin ich immer wieder erfreut über das Interesse und die elaborierte Reflexion, welche psychologischen Themen durch meine Mitschreiber hier zuteilwerden.
So hat Ron Kellermann absolut Recht, wenn er den Konflikt als Motor der filmisch-literarischen Charakterentwicklung ausmacht.

Als Psychologe kann ich (und sollte es an dieser Stelle wohl einmal) ergänzen: Auch als Motor der realpsychologischen Charakterentwicklung. Somit ist das Erkennen, Verstehen und erfolgreiche Bearbeiten eines Konflikts nicht nur Kernstück eines gelungenen (Dreh-)Buchs, sondern auch einer gelingenden Psychotherapie.

Kein Wunder also, dass sich schon der erste Große meiner Zunft, Sigmund Freud, und seit ihm unzählige weitere aller Generationen, mit menschlicher Bipolarität, mit dem Konflikt als Motor der Psyche und deren Entwicklung, beschäftigt haben (Von dieser Vorstellung der seelischen Konfliktspannung als Motor des psychischen Geschehens, leitet sich übrigens der Begriff Psychodynamik her).

Freud definierte, ausgehend von seiner Vorstellung kindlicher Entwicklung, zentrale Grundkonflikte des Menschen, welche in einer bestimmten Entwicklungsphase erstmals auftreten und je nachdem, wie erfolgreich sie hier gelöst werden können, im späteren Leben mehr oder weniger stark reaktualisiert werden. Aus dem Drang hin zur Lösung eines aktuell nicht hinreichend gut gelösten Konflikts entsteht Triebenergie, welche im besten Fall die Entwicklung adäquaterer Lösungsstrategien und somit eine charakterliche Reifung antreibt. Im schlechtesten Fall kann die sich zunehmend anstauende Triebenergie nicht in konstruktive Lösungen kanalisiert werden und findet schließlich neurotische Symptome als Ventil, welches kurzfristige Linderung durch Spannungsabbau erlaubt, langfristig aber die Erlebens- und Handlungsmöglichkeiten einschränkt und somit die Entwicklung reiferer Lösungsstrategien weiter erschwert. Der Teufelskreis beginnt…
Glaubt man Freud (was man […] ruhig tun sollte)…
Glaubt man Freud (was man, ungeachtet einiger ungelenk übersexualisierter Formulierungen und der ein oder anderen theoretischen Verrennung, ruhig tun sollte), laufen diese Prozesse überwiegend unbewusst ab, was sie rationaler und sozialer Steuerung zu bedeutsamen Anteilen unzugänglich macht. Dies ist der Grund, warum zu schnellen und zu einfachen Lösungen (im Film, wie in der Psychotherapie) zu misstrauen ist.

Eine moderne, für den zeitgenössischen klinischen Gebrauch inhaltlich und sprachlich modernisierte und von der freudschen Überbetonung der Sexualentwicklung weitgehend befreite Psychodynamik, liefert das psychologische Standardwerk Operationalisierte psychodynamische Diagnostik (Arbeitskreis OPD, 2006. Bern: Huber). (Für den interessierten Leser sei hier angemerkt, dass es sich dabei tatsächlich um ein klinisch-psychologisches Anwendungsmanual handelt, dessen Lektüre für den Laien wenig Erquickung bereithält. Wer sich aus dramaturgischer oder philosophischer Perspektive für psychodynamische Fragen interessiert, dem sei dann doch wieder der gute alte Freud, oder, ebenfalls literarisch hochwertig, dessen Schüler Carl Gustav Jung und Alfred Adler, empfohlen. Wer noch tiefer schürfen möchte, der findet die Ursprünge der freudschen Psychodynamik schon bei Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche vorgezeichnet.)

Wie dem auch sei, dem Auftrag dieses Blogs entsprechend, möchte ich mich in den nächsten Wochen hier den zentralen Grundkonflikten im Einzelnen zuwenden um sie bekannt, verständlich und damit dramaturgischer Nutzung zugänglich zu machen. Hierbei kann nicht vollständig ausgeschlossen werden, dass es neben Anregungen für die dramaturgische Charaktergestaltung zu unbeabsichtigten Erkenntnissen über das eigene Selbst kommt. Ich bitte dies zu entschuldigen.

Es werden die folgenden sieben Grundkonflikte zu erörtern sein:

  1. Abhängigkeits- vs. Individuationskonflikt (Suchen von zwischenmenschlicher Nähe vs. Individueller Selbstverwirklichung)
  2. Unterwerfungs- vs. Kontrollkonflikt
  3. Versorgungs- vs. Autarkiekonflikt
  4. Selbstwertkonflikt (Selbstüberschätzung vs. Selbstabwertung)
  5. Über-Ich-Konflikt (Externalisierung vs. Internalisierung von Schuld)
  6. Ödipal-sexueller Konflikt (Über- vs. Unterbetonung von geschlechtsrollenbezogenem Konkurrieren)
  7. Identitätskonflikt (forcierte Sicherheit vs. Unsicherheit)

Die so klassifizierten Grundkonflikte weisen zwar in ihren Formulierungen teilweise noch Bezüge zu bestimmten Lebensphasen, in welchen ihre Erstmanifestation vermutet wird, auf, generell sind jedoch alle Konfliktthemen bei jedem Menschen über die gesamte Lebensdauer erlebens- und handlungsleitend. Folglich kann der Hauptkonflikt einer Person, der aktuell die Persönlichkeit primär prägt und deren Entwicklung vorantreibt, über die Zeit variieren und auch eine Mischform verschiedener Konfliktthemen darstellen.

Dabei können sich Konflikte überwiegen intrapsychisch manifestieren, oder in mehr oder weniger starkem Maß auf die interpersonelle Ebene externalisiert werden. In diesem Fall wird ein eigener Konfliktanteil dem Gegenüber zugeschrieben, man selbst erlebt sich dadurch konsistenter, die innere Konfliktspannung wird kurzfristig reduziert. Treffen zwei Menschen mit ähnlichen Hauptkonfliktthemen aufeinander, kann es zur Kollusion, einer malignen Verstrickung, kommen, das heißt, jeder übernimmt einen Anteil im beiderseits ungelösten Konflikt, zum Beispiel in einer sado-masochistischen Beziehung mit fester Rollenverteilung.

In den Formulierungen der Grundkonflikte kommt darüber hinaus die Bipolarität menschlichen Denkens und Fühlens zum Ausdruck. Jedes Konfliktthema lässt sich auf dem Kontinuum zwischen zwei extremen Modi verstehen, die als aktiver und passiver Modus bezeichnet werden. Diese Bezeichnungen sind wertfrei, ein einseitiger und unflexibler aktiver Modus ist genauso dysfunktional, wie sein passiver Gegenpol. Einseitig aktiv meint ein forciertes Überkompensieren, einseitig passiv ein starres, defensives Verharren. Extreme Modi führen dazu, dass auf verschiedene innere und äußere Anforderungen unflexibel in immer derselben Weise reagiert wird, was das Funktionsniveau verringert, sekundäre emotionale und soziale Kollateralschäden verursacht und die Entwicklung neurotischer Symptome begünstigt.
Die Absicht, dass der Mensch glücklich sei…
Das höchste Maß an psychischem und sozialem Wohlbefinden können wir folglich erwarten, wenn alle wichtigen Konfliktthemen ausreichend stabil und dabei ausreichend flexibel ausbalanciert sind. Wenn ich also zwischenmenschliche Nähe genießen, mich aber dennoch individuell entfalten kann. Wenn ich die Bedürfnisse anderer wahrnehmen und bedienen, meine eigenen aber dennoch formulieren und erfüllen kann. Wenn ich mich bei Bedarf durchsetzen, den anderen aber dennoch mit Respekt behandeln und auch zu seinem Recht kommen lassen kann. Wenn ich meine persönlichen Stärken erkennen und mich an ihnen erfreuen, meine Schwächen aber auch realistisch wahrnehmen und als Teil meiner Persönlichkeit akzeptieren kann und so weiter…

Das flexible Variieren innerhalb eines der eigenen Persönlichkeit entsprechenden mittleren Bereichs sorgt für psychische Homöostase (Ausgeglichenheit) und ein hohes psycho-soziales Funktionsniveau.
Das klingt schön. Und langweilig. Zum Glück für Psychologen und Geschichtenerzähler, bleibt dieser Idealzustand selten dauerhaft stabil. Auch hier dürfen wir auf Sigmund Freud vertrauen: „Man möchte sagen, die Absicht, dass der Mensch glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten“ (S. Freud, 1930. Das Unbehagen in der Kultur, Wien. S. 24.).

Spannend wird es, im Film wie im Leben, wenn innere oder äußere Veränderungen das homöostatische Gleichgewicht stören und dramatische Entwicklungsschritte erforderlich werden.

4 Comments

  1. Michael Füting

    Ja, sehr hilfreich, sich das mal klar zu machen: es sind anthropologische Konstanten und Praemissen, z. T. deckungsgleich mit dem, was Roland Zag im HUMAN FACTOR beschreibt.

    7. April 2016
  2. Birgit B.

    Wann kommt der Schuldkonflikt?

    23. Oktober 2016
  3. Als nächster. Dauert aber vermutlich noch. Fallen Ihnen passende Serienbeispiele ein?

    23. Oktober 2016
  4. Eine interessante Vorstellung, dass Konflikte kindlicher Entwicklung einen Einfluss auf die spätere psychische Gesundheit haben. Ich interessiere mich sehr für das Thema Psychologie. Deswegen würde ich vielleicht gerne etwas in der Richtung studieren und später mal selbst Psychotherapie machen.

    8. Juli 2019

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