Radikalisierung: Das Interview mit Dr. Niklas Gebele in der Kurzfassung

Für unsere neue Reihe Weltverstehen habe ich mit Psychologe und Filmschreiben-Autor Dr. Niklas Gebele über Radikalisierung gesprochen. Das vollständige Interview wird morgen früh auf filmschreiben erscheinen. Ich hatte viele Fragen, deshalb vorab eine Kurzfassung.

Lieber Herr Dr. Gebele, fangen wir klein an, bei uns allen: Sind wir selbst schon mal radikal, vielleicht ohne es zu merken?

Ja. Zumindest gedanklich und zumindest vorübergehend. Unser Denken und Fühlen funktioniert polar und dynamisch, oszilliert zwischen Polen und muss sich immer wieder neu auf für uns angenehme oder erträgliche Weise einpendeln. Diese Pole bilden die Extreme der betreffenden kognitiven und emotionalen Kategorien. „Ich werde mich nie wieder verlieben!“, „Ich muss sofort hier raus!“, „Ab sofort mache ich nur noch, was ich will,“ und so weiter. Spontan können solche radikalen Gedanken und Gefühle zu Handlungsimpulsen führen, die teils ausgelebt, teils unterdrückt werden.

Wenn also nicht Sie oder ich gleich richtige Radikale sind: Wer radikalisiert sich dann?

Für politischen Radikalismus, bis hin zu Extremismus oder gar politisch oder religiös motivierter Gewalt sind Menschen anfällig, in deren innerer oder äußerer Realität der Status Quo so quälend ist, dass sie auch zu extremen Mitteln greifen, um sie vermeintlich zu verändern.

Funktioniert denn Radikalität zur Lösung eines Problems?

Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir keine Form von Radikalismus ein, die nicht extrem hohe Kosten, wenn nicht für mich, dann zumindest für andere, hat. Wenn ich radikale Forderungen auf Kosten einer anderen gesellschaftlichen Gruppe umsetze, wird deren Situation schlechter, bis zur Unerträglichkeit, was dann auf deren Seite zu Radikalisierung führt. Dieser Teufelskreis scheint sich mir auf der Welt vielfach immer wieder abzuspielen.

Aber auch die persönlichen Kosten sind meist hoch. Das Extrem ist der Selbstmordattentäter. Oder, um zu unserem gemeinsamen Thema Filme zu kommen: Der Rechtsradikalismus von Derek in American History X führt langfristig genauso wenig zur Verbesserung seiner Situation, wie Lesters radikaler Hedonismus in American Beauty. Beides funktioniert nur kurzfristig. Die eigentlichen inneren Konflikte werden nicht gelöst, sondern nur verdrängt.

Und der persönliche Radikalisierungsprozess mit persönlicher Motivation?

Wie gesagt, Radikalisierung zielt ja auf irgendeine Art von Veränderung der Situation, letzten Endes – das ist zumindest die psychologische Sichtweise – der inneren Situation. Also den vorherrschenden Gedanken und Gefühlen, die jemand hat, selbst wenn diese an der äußeren Situation festgemacht werden und diese damit zum oberflächlichen Ziel des Veränderungswunsches wird.

Folglich entsteht die individuelle Motivation zur Radikalisierung aus der subjektiven Unerträglichkeit dessen, was ist. Und der Hoffnung, dass durch entsprechende Veränderungen der Umwelt die unerträglichen Gefühle durch angenehmere abgelöst werden. In vielen Fällen findet wohl auch eine positive Verstärkung des schrittweisen Radikalisierungsprozesses dadurch statt, dass negative Gefühle temporär tatsächlich durch soziale Integration, Selbstwerterhöhung oder Verringerung von Zweifeln vermindert werden.

Wie nimmt dieser Radikale unsere Welt wahr?

Ein zentrales Merkmal des Radikalismus ist die Spaltung: Es gibt gut und böse. Es gibt mich oder uns und die anderen. Es gibt richtig und falsch. Nichts dazwischen. Als Anakin Skywalker in einem charakteristischen persönlichen Radikalisierungsprozess zu Darth Vader wird, bringt er dies mit einem Satz auf den Punkt: „Wenn Ihr nicht auf meiner Seite steht, dann seid Ihr mein Feind!“

Das ist ein Grund dafür, dass der radikale Weg dauerhaft nicht zum inneren Frieden führt, weil diese Spaltung, auf die er existenziell angewiesen ist, von den Erfahrungen im Alltag immer wieder falsifiziert wird. Die Meinen sind dann doch nicht so gleich, oder so großartig, wie es die Ideologie sagt. Die Anderen doch nicht so grundlegend fremd oder schlecht. Glücklicherweise führt ja genau das dazu, dass sich radikale Bewegungen hin und wieder ganz von selbst zerlegen.

Hasst ein Radikaler? Kann er lieben? Falls er lieben kann: Wen?

Ich denke, Liebe und Hass sind universelle Gefühle, die man niemandem pauschal absprechen kann. Der Hass des Radikalen ist jedoch pseudo-rational unterfüttert und damit scheinbar legitimiert, während ein moderat Denkender den Hass eher als in ihm selbst entstehendes, also eigenes Gefühl wahrnehmen kann und dadurch eher die Verantwortung zur sozial und ethisch angemessenen inneren Bewältigung übernehmen wird.

Wie hängen also Radikalität und Gewalt, Radikalität und Terrorismus zusammen?

Radikalismus entsteht aus Angst. Vor Vernichtung, vor Verschlechterung des Lebens, vor Festgehaltenwerden im schlechten Leben. Die erlebte Bedrohung wird projiziert und im anderen bekämpft. Genau so, wie Yoda sagt: „Furcht führt zu Wut, Wut führt zu Hass. Hass führt zu unsäglichem Leid.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Wenn es einen Weg in die Radikalität gibt, führt auch einer wieder heraus? Mehrere? Welche sind das?

Auch hier kann ich als Psychotherapeut nur auf der Ebene des Individuums antworten. Diese Antwort ist dafür recht einfach: Was immer das individuelle Leid lindert, verhindert Radikalisierung, oder wirkt ihr zumindest entgegen. Meine Erfahrungen aus der psychotherapeutischen Praxis sind natürlich nicht bevölkerungsrepräsentativ. Aber die mir bekannten jungen Menschen, bei denen die Gefahr einer Radikalisierung bestand, hatten dieselben Ängste und Nöte, wie die anderen auch: Fragen des Selbstwerts, der sozialen Eingebundenheit, der Identitätsfindung. Irgendwann kommen einfache, radikale Erklärungs- und Bewältigungsmodelle in den Wahrnehmungsfokus, werden eventuell vorgelebt. Das lässt sich wohl nicht verhindern. Es ist also eine Frage der angebotenen Alternativen, ob jemand sich dem radikalen Weg, als dem ihm am plausibelsten erscheinenden, zuwendet. Also: Zuhören und ernst nehmen. Aber nicht die Parolen, sondern die persönlichen Nöte.

Sie sagen, Sie haben in Ihrer Arbeit Erfahrungen mit Radikalen gemacht, bzw. mit Menschen, bei denen die Gefahr einer Radikalisierung bestand. Können Sie uns einen Tipp geben, worauf Autoren bei der Darstellung von Radikalisierung und Radikalisierten achten sollten?

Mich interessieren als Zuschauer die persönlichen Beweggründe und Belastungsfaktoren, die zur Radikalisierung führen. Ich wünsche mir zumindest angedeutete Erklärungsansätze, Hinweise auf eine Vorgeschichte. Das Konzept des qua Disposition Bösen überzeugt mich nicht. Überhaupt bewundere ich Filme und Serien, die die Gut-Böse-Dichotomie aufheben. Ich habe sehr sensible und auch empathiefähige Menschen kennengelernt, die von schrecklichen Ideologien verführbar waren.

Nachtrag: Das vollständige Interview befindet sich hier.

We can cover that by a line of dialogue...

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