Standardsituationen und wie daraus unvergessliche Filmszenen werden – Teil 1

Meeting scene unter Wasser

Szenen sind Miniatur-Dramen, die ähnlichen Gesetzmäßigkeiten folgen wie die Geschichten, von denen sie ein Teil sind. Genauso wie es standardisierte Handlungsabläufe auf der Ebene der Geschichte gibt, die Masterplots, gibt es solche Abläufe auch auf der Ebene der Szene: Wir sprechen dann von Standardszenen oder Standardsituationen. Als Drehbuchautor*innen haben wir alle schon einmal etwas von einer „Meeting scene“ gehört, der ersten Begegnung meist der Liebenden, oder von einer „Last minute rescue“, einer Rettung in letzter Sekunde. Was genau Standardsituationen sind, welche es noch gibt und wie das Wissen um sie uns helfen kann, bessere Szenen zu schreiben, das erkläre ich im folgenden Beitrag.

Wie können Standardsituationen dabei helfen, bessere Szenen zu schreiben?

In Reclams Sachlexikon des Films findet sich ein interessanter Artikel über Dramaturgie. Über die Aufgabe des Drehbuchautors heißt es darin:

„Er muss sich zwischen vorgegebenen Mustern bewegen und dabei, wenn der Auftrag es denn zulässt, individuellen Spielraum bewahren.“

Was diese vorgegebenen Muster angeht, werden drei Typologien unterschieden:

  1. Genres,
  2. Standardsituationen und
  3. mythische Strukturen wie die der „Heldenreise“ von Joseph Campbell.

Weiter beschreibt der Artikel das kreative Dilemma, indem wir Autor*innen stecken:

„Es wird meist übersehen, dass sich eine Handlung manchmal lückenlos in eine Kette von Standardsituationen auflösen lässt: Situationen, die immer wiederkehren, unabhängig vom jeweiligen Film, und ein bestimmtes Ablaufschema gleichsam als Kanalisierung des erzählerischen Flusses vorgeben.“

Die Frage, die sich daraus ergibt:

„Hat der solcherart von Genreregeln […] ‚gefesselte‘ Drehbuchautor überhaupt noch die Chance, seine Geschichte so zu entwickeln, dass sie als unverwechselbare Erzählung erscheint?“

Wenn man sich das Gros der Filme heute ansieht, könnte man leicht zu dem Schluss gelangen, dass seine Chancen wohl ziemlich klein sein müssen.

Das Problem ist, dass die meisten Autor*innen Kreative sind und keine analytisch denkenden Wissenschaftler. Viele sind sich daher, wenn sie eine Szene schreiben, nicht dessen bewusst, dass sie einen Standard variieren. Stattdessen erfinden sie das Rad neu, was nicht nur mühsam und zeitraubend ist, sondern meist auch dazu führt, dass das Ergebnis nicht annähernd so „rund“ und originell ist wie das Original, an dem es gemessen wird.

„Ob die erste Idee die beste war, weiß man erst nach der fünften.“

Das Rollenmodell vieler Autor*innen ist der Künstler, dessen Inspiration aus dem Innern kommt. Wer jedoch allein seinem „Bauchgefühl“ vertraut, auf seine „innere Stimme“ hört oder den ersten Gedanken automatisch für den besten hält, der wird vor allem eines produzieren: Klischees. Die Macht der Intuition ist ein Mythos, der Kreativen eher schadet, als nützt.

Der 2011 verstorbene Reklametexter Reinhard Siemes brachte es auf den Punkt:

„Ob die erste Idee die beste war, weiß man erst nach der fünften.“

Die erste Frage, die wir Autor*innen uns beim Schreiben stellen sollten, lautet: „Was ist es, was ich variiere?“ Und nicht: „Was ist es, was ich neu schöpfen möchte?“ Das Neue ist selten ein bewusster Akt, es ist viel häufiger ein Abfallprodukt des Gewohnten. Aber warum sollte beispielsweise eine Meeting scene immer nach demselben Schema ablaufen? Ist das nicht langweilig? Führt das nicht zu dem üblichen Hollywood-Einerlei?

Welche Standardsituation variiere ich?

Die Antwort liefert nicht der Film, sondern das Leben. Wenn zwei Menschen sich zum ersten Mal begegnen, mag vieles an dieser Begegnung zufällig und spontan wirken. Tatsächlich aber gehorcht eine solche Begegnung Regeln. Regeln, die wir nicht erst nachschlagen müssen, um sie anzuwenden, sondern Regeln, die wir meist implizit gelernt haben und die von Kultur zu Kultur unterschiedlich sein können.

Jeder von uns „weiß“, dass es ungehörig ist, beim ersten Date in einem Café nach einem Blowjob oder Cunnilingus zu fragen. Allerdings existiert nirgendwo ein Regelwerk, in dem steht, dass eine solche Frage verboten ist. Aber wer damit durchkommen will, hat sicherlich mehr als nur einen Anfängerkurs in Rhetorik belegt.

Ganz anders sieht es aus, wenn diese erste Begegnung im „geschützten Rahmen“ eines Swinger-Clubs oder einer Dating-App stattfindet, die ausdrücklich Sex-Kontakte vermittelt. Dann mag so viel Direktheit sehr wohl angebracht sein, obwohl ich mich selbst nicht als Experten auf diesem Gebiet bezeichnen möchte und meine Ratschläge daher mit Vorsicht zu genießen sind.

Ich hoffe, Sie verstehen auch so, was ich meine: Standardszenen basieren auf kulturell übermittelten Verhaltensnormen. Komik, aber auch Tragik, basiert häufig auf der Abweichung von diesen Normen.

Standardszenen basieren auf kulturell übermittelten Verhaltensnormen.

Ein halbwegs gelungenes Beispiel aus jüngerer Zeit ist der ungarische Berlinale-Gewinner KÖRPER UND SEELE über die ungewöhnliche Begegnung eines körperlich gehandicapten Schlachthaus-Mitarbeiters mit einer neuen Kollegin, deren soziale Kompetenz buchstäblich noch in den Kinderschuhen steckt.

Oder die Netflix-Serie ATYPICAL, die das Thema „Erste Liebe“ aus Sicht eines Jungen schildert, der an einer Autismus-Spektrum-Störung leidet.

Ein weiterer Referenzpunkt findet sich in stärker von Genre-Konventionen geprägten Erzählungen. Gemeint sind Zuschauererwartungen. Zuschauer haben eine Erwartung an das, was sie sehen – durch das, was sie schon gesehen haben. Diese Erwartung nicht zu bedienen wäre ein Fehler, ebenso wie sie nur zu erfüllen. Wie so oft gilt: Man muss die Regeln kennen, um sie zu brechen. Die wenigen unvergesslichen Szenen sind in der Regel Variationen der vielen, die wir längst vergessen haben, die jedoch in den nicht bewusst zugänglichen Teilen unseres Gedächtnisses archiviert sind.

Unvergessliche Szenen sind Variationen der vielen Szenen, die wir längst vergessen haben.

Unser kreativer Leitgedanke beim Schreiben sollte daher nicht bloß lauten: „Wie könnte die Szene ablaufen?“, sondern „Wie würde die Szene ’normalerweise‘ – gemessen an kulturellen und Genre-Konventionen – ablaufen und wie kann ich diesen Ablauf so variieren, dass sich daraus etwas Niedagewesenes ergibt?“

Es ist ganz gewiss möglich, sich aus den Fesseln der Konvention zu befreien und etwas Neues zu schaffen. Grenzen beflügeln bekanntlich die Kreativität. Man denke nur an Mozart, der kein Problem damit hatte, zum 41. Mal in der sinfonischen Form zu arbeiten. Der vermeintlich starre Rahmen hat ihn jedenfalls nicht davon abgehalten, mit seinen Kompositionen immer wieder aufs Neue zu verblüffen.

77 Standardsituationen im Film

Die meines Wissen bisher einzige Sammlung von Standardszenen in Buchform, zumindest auf dem deutschen Markt, liefert das 2016 im Schüren-Verlag erschienene „Handbuch Standardsituationen im Film“, herausgegeben von Thomas Koebner in Verbindung mit Norbert Grob und Anette Kaufmann. Insgesamt 77 Standardsituationen werden dort gelistet, von A wie Abschied bis W wie Wiedersehen. Leider ist der Tonfall der Beiträge entsetzlich akademisch und der praktische Nutzen dementsprechend zweifelhaft. Auch ist nicht ganz klar, wie die Autoren überhaupt zu dieser Auflistung gelangt sind. Genau wie bei den Masterplots gilt: Eine endgültige Liste wird es so schnell wohl nicht geben. Denn das was wir heute zu wissen glauben, ist morgen vielleicht schon wieder hinfällig. Und mit unserem Wissen verändert sich bekanntlich auch unsere Wahrnehmung.

Was auf Plot-Ebene gilt, gilt auch auf Szenen-Ebene: Eine Szene handelt von einem – genau einem – zentralen Ereignis. Wie auch auf der Makroebene, den Geschichten, tauchen wir so spät wie möglich („in medias res“) in die Handlung ein; auch bei Szenen gilt: 90 Prozent sind Backstory. Wie auch bei Geschichten braucht es einen Auslöser, damit die Handlung in Gang kommt. Wie auch bei Geschichten braucht es einen Konflikt, der dem Protagonisten, dem die Szene passiert, Entscheidungen abverlangt. Wie auch bei Geschichten braucht es einen Höhepunkt, auf den die Szene unweigerlich zusteuert. Und wie auch bei Geschichten hat jede Szene eine Konsequenz.

Was auf Plot-Ebene gilt, gilt auch auf Szenen-Ebene.

Was wir dabei als Szene definieren, ist weniger – wie noch bei Aristoteles – durch die Einheit von Raum und Zeit bestimmt. Stattdessen handelt es sich bei Filmszenen im dramaturgischen Sinn um inhaltlich zusammenhängende Einheiten, wobei der Übergang zur Sequenz durchaus fließend sein kann.

Wenn in der Dramaturgie also von einem Scene-by-scene Breakdown die Rede ist, meint das nicht eine Liste aller im Drehbuch durch eine „Szenen“-Überschrift getrennten Abschnitte. Gemeint ist vielmehr die inhaltliche Einheit: das „Szene-Ereignis“ (analog zum „Story-Ereignis„).

In den kommenden Wochen und Monaten will ich mich en detail mit einigen der 77 Standardsituationen beschäftigen, die im Handbuch Standardsituationen aufgeführt sind, und dabei diese vor allem auf ihren praktischen Nutzen hin überprüfen.

Für heute möge dem geneigten Leser die bloße Auflistung derselben genügen. Zwar kann ich nicht behaupten, dass der bei meinem Provider gemietete Speicherplatz mehr nicht zulässt. Doch meine eigenen Ressourcen sind zweifellos begrenzt und nähern sich ihrem Limit.

Hier also die Liste der 77:

  1. Abschied
  2. Angst und Furcht
  3. Anklage / Verteidigung
  4. Arzt / Beim Arzt
  5. Auftritt / Abgang
  6. Augenzeugen- und Lauschszenen
  7. Badelust
  8. Banküberfall
  9. Bar / Theke
  10. Bedrohung
  11. Beichte / Geständnis
  12. Bett
  13. Büro
  14. Duell / Zweikampf
  15. Einbruch
  16. Eingesperrt sein
  17. Ekstase / Sucht
  18. Erpressung
  19. Erste Begegnung
  20. Exekution
  21. Fahrt
  22. Familienzwist
  23. Fensterblicke
  24. Fest
  25. Flucht
  26. Folter
  27. Gaststätte
  28. Gebet
  29. Geburt
  30. Gefangen sein
  31. Geistererscheinungen
  32. Gerichtssitzung
  33. Gesangseinlage
  34. Grenzüberschreitung
  35. Heimkehr
  36. Hochzeit
  37. Hotel
  38. Jagd
  39. Kabine
  40. Kampf
  41. Katastrophe
  42. Küche
  43. Kuss
  44. Last second rescue / Rettung
  45. Liebesakt
  46. Liebeswerben / Liebeserklärung
  47. Mahlzeit
  48. Mord / Totschlag
  49. Mutprobe
  50. Opferritual
  51. Panik
  52. Prüfung
  53. Regen
  54. Rennen
  55. Schlacht
  56. Schock / Überraschung
  57. Schule
  58. Schweigen / Verschweigen
  59. Selbst-Tötung
  60. Showdown
  61. Spiegelblicke
  62. Sterben / Tod
  63. Sturm
  64. Tanz
  65. Telefonieren
  66. Trauer
  67. Treppe
  68. Unfall
  69. Verfolgungsjagd
  70. Vergewaltigung
  71. Verhör
  72. Versöhnung
  73. Verstecken
  74. Verwandlung / Maskerade
  75. Warten / Erwarten / Wartehallen
  76. Wettkampf
  77. Wiedersehen

Mich interessiert natürlich, was Euch beim Überfliegen der Liste spontan in den Sinn kommt. Erscheint sie Euch vollständig? Sinnvoll? Nutzt Ihr selbst Standardsituationen für Eure Arbeit oder könntet Ihr euch vorstellen, sie zu nutzen? Über welche wollt Ihr mehr wissen?

Wenn Ihr euch bis zum Ende dieses Artikels durchgekämpft habt, dann hoffentlich, weil er Euch gefallen hat oder Ihr ein paar Erkenntnisse daraus ziehen konntet. Vielleicht ist Euch das ja einen Like wert. Und falls Ihr euch lieber differenzierter ausdrücken möchtet, als die römischen Kaiser beim Gladiatoren-Kampf, dann steht Euch dafür jederzeit die Kommentar-Funktion offen. Alles ist schließlich besser als Schweigen, das gilt nach der Bundestagswahl umso mehr.

5 Comments

  1. Michael Füting

    Ein Like! Sehr kluger Artikel. Interessante Parallelität der Literaturwissenschaft: MOTIVE DER WELTLITERATUR, Kröner-Verlag. Da gibt’s aber mehr als 77. Weil es Literatur schon 2000 Jahre gibt?
    Aber o.k., mit 77 kommt man schon ganz gut aus. KÖRPER UND SEELE hat davon übrigens 11. Das Originelle, „Neue“ in dem Film kommt nicht vor. Es ist aber auch keine Standard-situation, es sei denn man zählte das Unbewusste des Traums dazu. Traum – kein Film-Standard?

    4. Oktober 2017
  2. Wall-E

    Man kann es beliebig fortsetzen: Kochen, Einkaufen, im Garten arbeiten, renovieren, zaubern, ein Problem erörtern, als Vampir Blut saugen, Sport machen wie Fußballspielen, im Labor etwas erforschen, eine Erfindung ausprobieren, Streiche spielen, sich über jemand lustig machen.
    Wahrscheinlich kann man es beliebig fortsetzen.

    5. Oktober 2017
  3. Danke, Michael, auch für den Verweis auf die Motive. Deine Anmerkung zu KÖRPER UND SEELE ist bemerkenswert präzise. Wie kommst Du auf diese Zahl? 11? Hast Du ein fotografisches Gedächtnis? Ich bin übrigens mit dieser Liste auch nicht immer einverstanden. Aber ob ich die Standardsituation Traum darin vermisse, das weiß ich noch nicht. Du erfährst es aber spätestens im zweiten Teil meines Artikels;-)

    5. Oktober 2017
  4. „Beliebig“, da bin ich mir nicht sicher. Aber ich habe zumindest eine Arbeitshypothese, wie man die Liste fortsetzen könnte, ohne dass sie beliebig wird. Mehr dazu in Kürze.

    5. Oktober 2017
  5. Willi Schellenberg

    Es fehlt die Zugfahrt (und der Flug in einem Flugzeug). Oder sind das nur Variantionen der „Fensterblicke“? :)

    7. Dezember 2019

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