Weiter scheitern – wie man richtige kreative Entscheidungen trifft

AutorInnen scheitern. Ständig. Das gehört zum Geschäft. Denn AutorInnen müssen Entscheidungen treffen. Ständig. Das gehört zum Alltag. Sie sind ihr täglich Brot. Mitunter ein hartes Brot. Denn das Schwierige ist: Es gibt verdammt viele Optionen, und jede Entscheidung für eine, ist eine Entscheidung gegen alle anderen. Das Gemeine dabei ist: Zu dem Zeitpunkt, zu dem man die Entscheidung trifft, kann man nicht wissen, ob sie richtig oder falsch ist. Das weiß man erst hinterher, nachdem man sich verrannt hat und merkt, dass die Geschichte so nicht funktioniert oder man irgendwo rauskommt, wo man gar nicht hin wollte. Aber ohne Entscheidungen geht die Entwicklung der Geschichte nicht weiter. Und jede Entscheidung hat Folgen, ist wie ein Stoffknäuel, das sich aufrollt und dem man folgt, das sich aber auch schnell verknotet, dann muss man den Knoten auflösen, wieder aufwickeln oder abschneiden und das nächste Knäuel hernehmen.

Vermutlich gibt es keine andere Tätigkeit, in der man so regelmäßig und oft scheitert wie im Schreiben. Der Drehbuchautor und Schriftsteller Klaus-Peter Wolf hat in einem Interview auf die Frage, wie er so erfolgreich geworden ist, geantwortet: „Ich habe mich so durch gescheitert.“ Der Autorenweg ist gepflastert mit Fehlentscheidungen und Misserfolgen. Wie ungeschickt, dass so viele AutorInnen einen Hang zum Perfektionismus haben. Was ist da Schlimmste, was dem Perfektionisten passieren kann? Eben.

Übrigens: Das ist eine der wichtigsten Fragen in der Stoffentwicklung: Was ist das Schlimmste, was der Hauptfigur passieren kann? Auf der Makroebene der Geschichte geht es hier um die größte Angst der Figur, mit der sie in ihrem Tiefpunkt konfrontiert werden muss, damit sie quasi geknackt wird und danach ihren Charakter entwickeln kann. Die Frage ist aber auch in der Aktentwicklung, der Sequenzentwicklung bis runter in die Szenenentwicklung von zentraler Bedeutung. Was ist das Schlimmste, was der Hauptfigur in dieser Szene passieren kann? Sie wird erschossen. Gut, dann das Zweitschlimmste. Ohne Konflikt gibt es keine Geschichte und ohne Konfliktsteigerung keine Spannung. Und ohne die Frage nach dem Schlimmsten, was der Hauptfigur passieren kann, wird das Potenzial der Konflikts und der Konfliktsteigerung nicht ausgeschöpft.

Also immer schön die Figur schubsen, schön rein in die Scheiße, immer tiefer und noch tiefer. Das ist aber gar nicht so einfach. Denn man mag seine Figur ja. Sollte man auch, weil man womöglich mehrere Jahre mit ihr verbringt, und wer verbringt schon gerne so viel Zeit mit jemandem, den er nicht mag. Der Grundwiderspruch der Stoffentwicklung überhaupt ist: Man muss seine Figuren mögen, zugleich muss man bereit sein, ihnen Böses anzutun. AutorInnen, die ihre Figuren zu sehr mögen und zugleich keine sadistische Ader haben, neigen dazu, ihnen Konflikte vom Hals zu halten, um sie zu schützen. Man reibt sich beim Lesen die Hände, weil die Figur gerade in ein prima ordentliches Problem, eine herrlich miserable Situation hinein läuft, doch plötzlich macht es wusch, und sie biegt ab und an dem Konflikt vorbei oder es kommt die Geisterhand, die auf wundersame Weise den Konflikt aus dem Weg räumt. Solchen AutorInnen empfehle ich meistens, sich die Frage „Was ist das Schlimmste, was der Hauptfigur geschehen kann?“ in großen Buchstaben auszudrucken und an die Wand gegenüber ihres Arbeitsplatzes zu hängen, so dass sie ständig darauf schauen müssen.

Diese Frage hat außerdem noch einen weiteren großen Vorteil: Sie macht das Treffen von Entscheidungen einfacher. Vom Schlimmsten gibt es nicht so viel. Aber immer noch genug.

Unter den unendlich vielen Entscheidungen, die AutorInnen treffen müssen, ragen zwei heraus, die besonders schwer sind: die Entscheidung anzufangen und die Entscheidung aufzuhören. Die Entscheidung anzufangen heißt: Welche Stoff-Idee nehme ich? Welche Geschichte will ich entwickeln? Eine Impuls-Idee ist noch keine Geschichte, sondern eben nur der Impuls, jener Moment der Erregung, wenn man mit der Idee aufeinandertrifft: Ja, daraus kann ich eine Geschichte machen. In einer solchen Impuls-Idee stecken nahezu unendlich viele mögliche Stoffideen, also Geschichten, je nachdem, wen man als Hauptfigur nimmt, was ihr Ziel ist, welches Thema man bearbeitet, was man aussagen will und so weiter.

Der kreative Prozess, in dem man diese vielen Optionen andenkt, macht Spaß. Aber dann wird es ernst: Welche Geschichte soll nun erzählt werden? Das ist die erste und eine der wichtigsten Entscheidungen. Denn sie bestimmt, womit man sich eine ganze Weile lang beschäftigen wird. Und sie birgt eine ganze Reihe von Gefahren und Misserfolgspotenzialen. Was, wenn sie nicht gut ist und ich damit beweise, kein Gespür für gute Ideen zu haben? Was, wenn sie nicht originell ist und ich damit beweise, langweilig zu sein? Was, wenn ich sie nicht zu Ende entwickelt bekomme und damit beweise, dass ich ein Versager bin? Was, wenn ich eine schlechte Geschichte daraus entwickle und damit beweise, dass ich kein Talent habe?

Nicht nur deshalb sollte sie sorgfältig getroffen werden. Nichts ist ärgerlicher als ein paar Monate in die Entwicklung einer Geschichte zu stecken und dann festzustellen, dass man keine Lust mehr hat, dass das Interesse und das Feuer weg sind. Schade um die schöne Zeit. Immerhin ist man um ein paar Entscheidungen reicher und reifer.

Die Entscheidung aufzuhören ist nicht einfacher. Denn sie bedeutet: Jetzt ist die Geschichte gut genug, um sie rauszugeben – um mich mit ihr zu zeigen. Nicht nur für Perfektionisten und sonstige Menschen mit schwachem Selbstwertgefühl ein Horror. Wann ist eine Geschichte gut genug? Es gibt keine Kriterien dafür. Es ist eine Entscheidung in der freien Luft. Natürlich kann man sie nochmal überarbeiten und nochmal und nochmal und nochmal. Besser wird sie dabei selten. Wie Julia Cameron schreibt: Der Perfektionist zieht so lange eine Linie nach bis das Papier reißt.

Wer erfolgreich Geschichten entwickeln will, sollte sich damit zufrieden geben, gut zu sein, und nicht besser sein zu wollen. Gut reicht voll und ganz aus. Und ist schon schwer genug zu erreichen. Wer immer besser sein will, dem ist nie etwas gut genug, und der wird sich quälen mit der Entscheidung, eine Entwicklungsphase abzuschließen und die Geschichte rauszugeben. Weißer als weiß gibt es nicht.

Gibt es denn so gar keine Entscheidungshilfen? Doch, natürlich: die eigene Erzählintention. Warum will ich diese und keine andere Geschichte erzählen? Was will ich damit aussagen, dem Publikum mitgeben? Was ist das Thema – das inhaltliche und das emotionale -, über das ich erzählen und das ich mit der Erzählung erarbeiten will? Was ist der zentrale Wert, der auf dem Spiel steht? Welcher Wertekonflikt liegt der Geschichte zugrunde? Die Erzählintention ist ein hervorragendes Kriterium, mit dessen Hilfe man entscheiden kann, was die Geschichte braucht, um erzählt und verstanden zu werden, und was sie nicht braucht. Die Erzählintention ist das Kriterium für die dramatische Relevanz. Wer sie nicht kennt, eiert die ganze Zeit nur rum. Viel Spaß in Stoffbesprechungen, wenn man einen Gegenüber hat, der nur Interesse an der Version der Geschichte hat, die er selbst am liebsten erzählen würde, was er sich aber nicht traut und weshalb er versucht, sie dem Autor oder der Autorin reinzudrücken.

Wenn man zeigen will, dass man ein guter Autor oder eine gute Autorin ist – und das will man natürlich ständig, was denn sonst -, zugleich aber seine Erzählintention nicht kennt, dann wird man gefällig, dann nickt man zu allem, sagt zu allem Ja und Amen, macht sich eifrig Notizen und sitzt dann irgendwann zu Hause vor ihnen und denkt sich: Scheiße, wie soll ich das alles zusammen kriegen? Das ist ja gar nicht mehr meine Geschichte.

Wenn das eintritt, kann man nur noch feststellen: Ich bin gescheitert. Und ich sage: zu recht. Denn wer keine Erzählintention hat, der sollte Makramee knüpfen. Oder sich beim nächsten Mal seiner Erzählintention bewusst werden und sich mit Samuel Beckett trösten:

„Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“

Welche Erfahrungen habt Ihr mit dem Scheitern gemacht? Wie geht Ihr damit um? Schreibt uns. Wir interessieren uns dafür. Und viele andere Leserinnen und Leser sicher auch.

 

4 Comments

  1. Martin

    Sehr schöner Artikel, danke! Das ist mal ein realistischer und erfrischender Kontrast zu all den Drehbuchratgebern á la „Dein Drehbuch muss so perfekt sein, dass es alles wegbläst, die es lesen.“

    10. November 2014
  2. Tayfun

    Artikel gefällt mir auch sehr gut. Frage mich , wie ich es dramaturgisch darstelle, wenn ich mehrere Hauptfiguren in einer Geschichte habe. Zum Beispiel 2 Männer und eine Frau die in ihren Mikrowelten leben mit unterschiedlichen Ängsten und Träumen (Zielen). Was wäre eine gute Vorgehensweise um aus einer solchen Konstellation eine funktionierende Geschichte zu bauen?

    1. Dezember 2014
  3. Wie finden die drei denn zusammen? Bilden sie eine Gruppe mit dem selben Ziel? Oder verfolgen sie verschiedene Ziele und ihre Wege kreuzen sich schließlich? Wichtig ist in beiden Fällen die Einheit des emotionalen Themas (https://filmschreiben.de/tag/emotionales-thema/). Und Robert Altman beschreibt auf der DVD zu Nashville ein „verbindendes Gewebe“ aus Charakteren, die glaubwürdig in mehr als einer Einzel-Handlung vorkommen. Dazu der Lesetipp: The 21st Century Screenplay von Linda Aronson. Neben vielem wahnsinnig hilfreichen dramaturgisch Grundsätzlichem gibt es auch eigene große Kapitel für unkonventionellere Erzählungen, was den Umgang mit der Zeit oder eben mehr als einen Protagonisten betrifft. Aronson bloggt auch, auf http://www.lindaaronson.com/blog

    1. Dezember 2014
  4. Hallo Tayfun,

    schön, von dir zu lesen. Ich schließe mich Arno an. Wenn die drei Charaktere keine Beziehung zueinander haben, gibt es keine Geschichte. Zumindest keine gemeinsame. Aber jede kann ihren eigenen Konflikt und also ihre eigene Geschichte haben. Dann würde es sich um einen Multiplot handeln. Wenn du keinen Multiplot erzählen willst, solltest du die Figuren in Beziehung zueinander setzen, sie einen Konflikt miteinander austragen und ihre Beziehungen sich verändern lassen.

    TRAFFIC ist ein Beispiel für einen Multiplot, in dem drei Geschichten parallel erzählt werden und sich so gut wie gar nicht gegenseitig beeinflussen. Die Frage, die sich hier stellt, ist, warum genau diese Geschichten und keine anderen in diesem Film erzählt werden. Was ist das Verbindende? Eine Möglichkeit ist, wie Arno schon geschrieben hat, ein gemeinsames Thema. In TRAFFIC ist es das Thema Drogen, in L.A. CRASH das Thema Rassismus, in THE HOURS ist es Virginia Woolf und ihr Roman MRS. DALLOWAY.

    Prinzipiell sehe ich zwei Möglichkeiten, über das Thema eine Verbindung zwischen den Geschichten herzustellen: Die Geschichten haben das gleiche inhaltliche Thema und jeweils eigene emotionale Themen, erzählen also beispielsweise davon, welche unterschiedlichen Bedürfnisse und Werte mit einem inhaltlichen Thema – einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext – verknüpft sein können. Oder sie haben das gleiche emotionale Thema und verschiedene inhahltliche Themen, erzählen dann also davon, welche Rolle ein bestimmtes Bedürfnis / ein bestimmter Wert in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten spielt.

    Neben dem Thema gibt es noch andere Möglichkeiten, Geschichten in einem Multiplot miteinander zu verknüpfen:

    Gegenseitige Beeinflussung: Handlungen und Ereignisse der einen Geschichte wirken sich auf die anderen Geschichten aus. Das ist eine der effektivsten Möglichkeiten, die einzelnen Geschichten miteinander zu verbinden. In 21 GRAMM beispielsweise überfährt Jack den Ehemann von Cristina, die einer Organspende zustimmt. Das Herz ihres verstorbenen Mannes bekommt der schwerkranke Paul, der daraufhin wissen will, wem er sein Leben zu verdanken hat. Er findet es heraus, nimmt Kontakt zu Cristina auf und verliebt sich in sie. Cristina, die unter dem Verlust ihres Ehemanns und ihrer beiden Töchter, die ebenfalls bei dem Verkehrsunfall ums Leben gekommen sind, leidet, will sich an Jack rächen und fordert Paul auf, ihn mit ihr gemeinsam zu ermorden.

    Gemeinsamer Höhepunkt: Eine weitere Möglichkeit, die Geschichten miteinander zu verbinden, ist, sie in einen gemeinsamen Höhepunkt zusammen zu führen und dort abzuschließen wie in 21 GRAMM.

    Gemeinsames zentrales Ereignis: Es gibt ein bestimmtes Ereignis, das in allen Geschichten von Bedeutung ist wie beispielsweise der Diensttausch in GO oder der Unfall in AMORES PERROS, der in einer Geschichte den Höhepunkt darstellt, in den beiden anderen den ersten Wendepunkt und ingesamt vier Mal erzählt wird.

    Gemeinsames, abschließendes Ereignis: Die einzelnen Geschichten enden in einem gemeinsamen Ereignis wie beispielsweise einer Hochzeit in VERBRECHEN UND ANDERE KLEINIGKEITEN, einem Frosch-Regen in MAGNOLIA oder einem Erdbeben in SHORT CUTS. Als einzige Verknüpfung der Geschichten innerhalb der Erzählung ist das jedoch eine eher schwache und möglicherweise konstruiert wirkende Möglichkeit der Erzeugung von Geschlossenheit.

    Figuren: Die Einzelgeschichten können über die Figuren miteinander verknüpft werden, indem die Figur einer Geschichte in einer anderen Geschichte auftaucht und dort etwas bewirkt. In L.A. CRASH beispielsweise demütigt ein rassistischer Polizist einen schwarzen Regisseur und dessen Frau und löst damit eine Ehekrise aus. Im weiteren Verlauf der Geschichte kommt er zu einem schweren Verkehrsunfall, in dem die Ehefrau des Regisseurs in ihrem Auto eingeklemmt ist, das zu explodieren droht. Der rassistische Polizist begibt sich in Lebensgefahr, rettet die Frau im letzten Moment und verändert sich dadurch. Der Regisseur wird von zwei Jugendlichen überfallen, die sein Auto klauen wollen. Als die Polizei kommt, flieht er mit einem der Jugendlichen, der sich weigert, auszusteigen. Die Polizei stoppt ihn, er wird jedoch von dem Kollegen des rassistischen Polizisten laufen gelassen, der sich nach dessen demütigender Aktion gegen den Regisseur einem anderen Partner zuteilen ließ, und der den Regisseur erkennt. Auf dem Nachhauseweg nimmt dieser Polizist den zweiten Jugendlichen, der beim Eintreffen der Polizei zu Fuß geflüchtet ist, in seinem Auto mit und erschießt ihn, als er befürchtet, dass er ihn überfallen will. Dieser Jugendliche ist der kleine Bruder eines weiteren Polizisten, der in der Eröffnung des Films zum Fundort einer Leiche gerufen wird, die sich am Ende des Films als eben jener kleine Bruder erweist. Alle Figuren – der Regisseur und seine Frau, der rassistische Polizist und sein Kollege, die beiden autoklauenden Jugendlichen und der Polizistenbruder eines der Jugendlichen – haben ihre jeweils eigene Geschichte, die über die eben skizzierten Ereignisse miteinander verknüpft sind.

    Soziale Verbindungen: Die Geschichten können miteinander verbunden werden, indem die Figuren im selben Stadtteil oder derselben Straße arbeiten und leben, einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppierung angehören oder Familienmitglieder sind und dadurch oftmals auch zufällig in den anderen Geschichten auftauchen können, wie beispielsweise in STADT DER HOFFNUNG.

    Zeit und Raum: Die Geschichten finden in einem sehr engen Zeitrahmen statt, wie beispielsweise an einem Tag oder einer Nacht oder in direkter räumlicher Nähe wie in 11:14, L.A. CRASH und GO.

    Arno hat bereits auf das Buch von Linda Aaronson hingewiesen. Dort findest du sicher noch weitere Antworten auf deine Frage.

    Viel Spaß und Erfolg beim Weiterentwickeln.

    Liebe Grüße

    Ron

    3. Dezember 2014

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