Wie funktionieren Liebesgeschichten? – Das Erzählmuster „Die erste Liebe“

Kaum ein anderes Thema (außer Mord) ist in Romanen und Filmen so populär und erfolgreich wie die Liebe. Einer der Gründe ist, dass gut erzählte Liebesgeschichten starke Emotionen hervorrufen, indem wir uns in ihnen wiedererkennen und wiedererleben: unsere Lust und unser Leiden, unsere Sehnsüchte und unsere Bedürfnisse, unsere Ängste und unsere Verletzungen. Wir identifizieren uns mit ihnen aufgrund der Parallelität zwischen unseren und den erzählten Erfahrungen der Figuren. Sie durchleben, was wir selbst bereits durchlitten haben oder gerne spüren würden.

Die reale Liebe zwischen zwei Menschen mag zwar einzigartig sein. Die Anzahl der Muster – der Liebes-Szenarien -, denen sie folgt, ist dennoch begrenzt. Gute Spielfilme und Romane spiegeln diese Liebes-Szenarien wider und bewirken damit den Wiedererkennungs- und Wiedererlebenseffekt.

„Wie funktionieren Liebesgeschichten?“ ist eine lose Reihe von Beiträgen, in denen ich die Dramaturgie von vier dieser Liebes-Erzählmuster darstellen werde: „Erste Liebe“, „Geopferte Liebe“, „Obsessive Liebe“ und „Pygmalion-Liebe“. In diesem ersten Teil geht es um die „Erste Liebe“ und schwerpunktmäßig um die Filme Dirty Dancing (1987, Buch: Eleanor Bergstein, Regie: Emile Ardolino), Titanic (1997, Buch: James Cameron) und Washington Square (1997, Buch: Carol Doyle, Adaption des Romans Die Erbin vom Washington Square von Henry James, 1881).

Was haben Dirty Dancing, Titanic und Washington Square gemeinsam?

Sie erzählen die gleiche Geschichte – wenn auch auf unterschiedliche Weise: Eine junge unerfahrene Frau aus wohlhabenden Verhältnissen, in denen sie gefangen ist, verliebt sich zum ersten Mal in ihrem Leben. Der Mann, in den sie sich verliebt, hat seine erste Liebe bereits erlebt, ist arm, ungebunden und freiheitsliebend, ein Künstlertyp, welterfahren und älter als sie. Er stammt aus einer „anderen Welt“, in die er sie einführt, sie dadurch zu neuen Erkenntnissen geleitet und einen Reifungsprozess in ihr auslöst. Der zentrale Konflikt besteht darin, dass ihre Eltern bzw. ein Elternteil den Mann aus unterschiedlichen Gründen ablehnen. Im Kampf um ihre Liebe löst sich die Frau von ihren Eltern und wird erwachsen.
Dirty Dancing, Titanic und Washington Square erzählen die gleiche Geschichte auf unterschiedliche Weise.

Inhaltliches und emotionales Thema

Was sind die Themen dieser Geschichte? Über was erzählen sie? Das inhaltliche Thema ist die erste Liebe: Jemand verliebt sich zum ersten Mal in seinem Leben. Daraus ergibt sich die Handlungsebene der Geschichte: Die Handlungen der Hauptfigur sind auf diese Liebe ausgerichtet, sie will mit der geliebten Person zusammen sein.

Das emotionale Thema ist Erwachsenwerden im Sinne der emotionalen Loslösung von den Eltern, dem Finden der eigenen Identität und des eigenen Weges, dem Erlangen von Eigenständigkeit, der Übernahme von Verantwortung etc. Daraus ergeben sich die Beziehungsebene der Geschichte und die Charakterentwicklung der Hauptfigur.

Hauptfigur

Die primäre Hauptfigur in diesen drei Geschichten ist die junge Frau, die sekundäre der Mann, in den sie sich verliebt. Es sind Babys, Roses und Catherines Geschichten, die erzählt werden, Jonny, Jack und Maurice sind nicht gleichwertig, sondern von ihrer dramaturgischen Funktion her betrachtet Katalysatorfiguren, die Baby, Rose und Catherine dabei helfen, ihre Charakterentwicklung zu vollziehen: Ohne ihn würde sie nicht erwachsen werden und sich von ihren Eltern lösen.

Konflikt und antagonistische Kraft

Der zentrale Konflikt besteht zwischen der Handlungsebene und der Beziehungsebene der Hauptfigur, dem inhaltlichen und dem emotionalen Thema: zwischen dem Mann, in den sie sich verliebt, und den Eltern bzw. dem Elternteil, der ihn ablehnt.

Die antagonistische Kraft sind in diesen Geschichten also die Eltern bzw. ein Elternteil. Die Tochter verliebt sich in einen Mann, die Eltern haben etwas dagegen. Hätten die Eltern nichts dagegen, stünde der Liebe nichts im Wege, es gäbe keinen Konflikt und damit keine Geschichte, dafür viel Langeweile. Glück hat keinen dramatischen Wert.

Von entscheidender Bedeutung ist also das Verhältnis der zum ersten Mal liebenden Figur zu ihren Eltern und ihre Gefühlslage während des Trennungsprozesses. In den drei Geschichten sind die Eltern bzw. ein Elternteil übermächtig. Sie glauben zu wissen, was das Beste für ihr Kind ist und orientieren sich in ihrer Erziehung weniger an seinen Bedürfnissen und Wünschen als vielmehr an ihren eigenen Vorstellungen und Plänen, die sie für ihr Kind haben.

Als das Kind sich verliebt, wird es sich seiner eigenen Bedürfnisse in voller Tiefe bewusst und beginnt, dafür zu kämpfen. Doch ist es nicht ganz so einfach, sich von den Eltern zu trennen. Das Finden der eigenen Identität und das Erlangen von Selbständigkeit sind meistens mit einer Angst und damit einhergehenden Schuldgefühlen verbunden, die Eltern zu verlassen und zu verletzen. Die liebenden Figuren geraten daher in den Konflikt, ihre eigenen Wünsche zu erfüllen und zugleich ein gutes, folgsames Kind sein zu wollen, das seine Eltern ehrt und sie nicht verletzt.

Das Erzählmuster „Erste Liebe“ baut also ganz klassisch auf einem Figurendreieck auf: Die beiden Liebenden, die zueinander wollen, und die Eltern, die sie davon abhalten wollen. Wie in Romeo und Julia handelt es sich auch hier um eine von den Eltern „verbotene Liebe“, in der die Liebenden gefangen sind. Da die Eltern gegen die Liebesverbindung sind, erteilen sie ihrem Kind nicht die Erlaubnis, sich von ihnen zu trennen. Sie zeigen offen, dass sie enttäuscht sind, machen ihrem Kind bewusst, wie sehr sie es brauchen oder werfen ihm vor, ihnen Leid zuzufügen.

Die Liebe zwischen den beiden liebenden Figuren ist im Grunde unspektakulär und irrelevant. Sie lieben sich halt. Die Qualität der Geschichte entsteht vielmehr aus der antagonistischen Kraft und insbesondere aus ihrer Motivation: Warum ist sie gegen die erste Liebe der Tochter? Warum verweigert sie die Trennungserlaubnis?

Entscheidend ist die Motivation der antagonistischen Kraft.

In Dirty Dancing ist (Vater)Liebe die Motivation: Der Vater ist gegen Babys Liebe zu Jonny, weil er sie liebt. Er will nur das Beste für sie und hält Jonny nicht für gut genug. Jonny entspricht nicht seinen Vorstellungen von einem passenden ersten Freund für Baby, da er aus einer anderen sozialen Schickt kommt, keiner geregelten Arbeit nachgeht und als Tänzer ohnehin den Ruf eines Frauenhelden mit sich herumträgt.

In Titanic ist Eigennutz die Motivation: Die Mutter will, dass Rose ihren reichen Verlobten heiratet und nicht Jack, weil sie ihren Lebensstandard halten will. Denn ohne die Heirat ist sie pleite und müsste wieder arbeiten gehen, was sie unbedingt verhindern will. Sie fragt, ob Rose es zulassen will, dass sie ihre gesamten Besitztümer verkaufen und als kleine Schneiderin ihren Lebensunterhalt verdienen muss.

In Washington Square ist Hass die Motivation der antagonistischen Kraft: Der Vater hasst Catherine, weil er ihr die Schuld am Tod ihrer Mutter – seiner großen Liebe – gibt, und will deshalb verhindern, dass sie mit Maurice glücklich wird. Liebe, Ehe und Familie sollen ihr verwehrt bleiben. Um Catherines erste Liebe zu zerstören, versucht er ihr zuerst klar zu machen, dass es dem Geliebten keineswegs um sie als vielmehr um ihr Geld geht und er sie recht bald nach der Hochzeit sitzen lassen wird. Als er damit keinen Erfolg hat, droht er ihr, sie zu enterben und nimmt sie mit auf eine lange Reise nach Europa, in der Hoffnung, dass ihre Liebe abklingen wird. Da er auch mit diesen Mitteln nichts erreicht, wirft er ihr schließlich offen vor, Schuld am Tod der Mutter sein. Doch damit erreicht er das Gegenteil dessen, was er beabsichtigt hat und besiegelt den Bruch zwischen ihm und seiner Tochter, da er ihr zu verstehen gegeben hat, dass er sie nicht liebt, sondern verachtet.

Charakterentwicklung

Der zentrale Konflikt hat die Form eines Dilemmas: Einerseits zieht es die Hauptfigur zu ihrer Liebe, andererseits will sie eine „gute“ Tochter sein und von ihren Eltern geliebt werden. Beides kann sie jedoch nicht haben und deshalb gerät sie in eine Krise: Sie muss sich entscheiden – zwischen ihrer Liebe und ihren Eltern. Indem sie sich für die Liebe entscheidet, wird sie erwachsen und löst sich von den Eltern. Sie folgt ihrem eigenen Willen und nicht den Vorstellungen, die ihre Eltern von ihrem Weg in die Zukunft haben.

In der Charakterentwicklung geht es um die Fragen, wie die Hauptfigur die Trennung von den Eltern bewerkstelligt, wie sie die Trennungsangst bewältigt und mit den Schuldgefühlen, die Eltern zu verlassen, umgeht.
Wie bewerkstelligt die Figur die Trennung von den Eltern? Wie bewältigt sie ihre Trennungsangst? Wie geht sie mit ihren Schuldgefühlen um?
Die Hauptfiguren dieser Geschichten vollziehen die Trennung von den Eltern und finden ihre eigene Identität nicht, indem sie sich beispielsweise einen Elternersatz suchen (meist einen älteren oder idealisierten Menschen), sich für jemanden entscheiden, der sie weiter an die Welt ihrer Kindheit erinnert, den ihre Eltern ausgesucht haben oder der in ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen ist oder lebt wie sie. Würden sie das tun, würden sie den Bruch mit den Eltern und den Trennungsschmerz umgehen oder wenigstens minimieren. Stattdessen suchen sie sich einen Partner aus einer anderen Welt, den die Eltern missbilligen und für unpassend halten, beschwören damit den Konflikt herauf und bewerkstelligen die Trennung von den Eltern. Sie entscheiden sich also für die mutigste Variante.

Ihre erste Liebe hilft ihr also dabei, eine erwachsene, selbstbewusste Frau zu werden. Sie ist in verschiedenster Hinsicht ein Lehrer für die liebende Figur. In Titanic lernt Rose von Jack, kein fremdbestimmtes Leben zu führen, sondern auf die eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu achten und die entsprechende Lebensweise zu finden. Am Ende des Films sagt Rose als alte Frau, dass Jack ihr nicht nur das Leben, sondern sie in jeder Weise gerettet hat, in der man einen Menschen nur retten kann. In Dirty Dancing lernt Baby genau dasselbe: nach ihren eigenen Vorstellungen zu leben.

In Washington Square erkennt Catherine dank ihrer ersten Liebe, dass ihr Vater sie nie geliebt, sondern immer nur verachtet hat. Doch da sie ihren Vater dafür nicht bestrafen kann, indem sie jemanden heiratet, den er missbilligt, da sie dafür seine Einwilligung braucht, beschließt sie, überhaupt nicht zu heiraten – und überlässt damit ihrem Vater über seinen Tod hinaus den Triumph seiner Böswilligkeit.

Variationen des Erzählmusters

Die erste Liebe, die zum Erwachsenwerden führt, ist eine mögliche Variation dieses Liebes-Szenarios. In anderen Variationen geht es Beispielseise um die obsessiven Folgen des Verlustes der ersten Liebe (Stürmische Höhen, 1939, Buch: Ben Hecht und Charles MacArthur, Regie: William Wyler, Adaption des Romans Sturmhöhen von Emily Brontë), die Zurückeroberung der ersten Liebe (Peggy Sue hat geheiratet, 1986, Buch: Jerry Leichtling, Arlene Sarner, Regie: Francis Ford Copolla), das Scheitern der ersten Liebe (So wie wir waren, 1973, Buch: Arthur Laurents, Regie: Sydney Pollack).

In So wie wir waren und Peggy Sue hat geheiratet sind es beide Figuren, die zum ersten Mal lieben. Es geht in ihnen nicht um die Trennung von den Eltern, sondern um die Frage, was geschieht, wenn die erste Liebe geheiratet wird bzw. ob die erste Liebe Bestand haben kann. Die Eltern spielen in diesen Filmen keine Rolle. Dementsprechend „benutzen“ die Figuren weder ihre erste Liebe als Hilfsmittel, um die Loslösung von den Eltern zu vollziehen, noch beenden sie diese Liebe nach der erfolgreichen Trennung und Identitätsfindung.

Wie arbeitet man mit Erzählmustern? Man kopiert, kombiniert oder variiert sie.

Wie kann man mit diesem Erzählmuster arbeiten?

Indem man es schlicht und einfach verwendet – also kopiert -, es mit anderen Erzählmustern kombiniert (beispielsweise mit dem Muster „der Liebe zwischen oben und unten“ wie in Dirty Dancing, Washington Square und Titanic, oder mit dem der obsessiven Liebe wie in Stürmische Höhen) oder indem man es variiert und beispielsweise mit dem Prinzip der Umkehrung arbeitet. Simples Beispiel: Ein jüngerer Mann aus einer traditionsbewussten Arbeiterfamilie, dessen Vater von ihm erwartet, denselben Beruf in derselben Firma auszuüben, verliebt sich in eine reiche, ältere Frau. Kombiniert mit dem Erzählmuster der Pygmalionliebe könnte der jüngere Mann beispielsweise Künstler werden wollen und seine erste Liebe ist eine erfolgreiche Galeristin oder selbst Künstlerin, die ihn in seinen Ambitionen unterstützt.

Hier noch interessante Links:

Dirty Dancing Analysis ist ein Blog über Dirty Dancing.

James Camerons TED Talk

2 Comments

  1. Debbie Hubbard

    Toller Beitrag, Ron!
    Ich erinnere mich sehr gerne an deine Wochendseminare in Wiesbaden, besonders das über Liebesgeschichten. Das hat meinem Roman sehr geholfen! Danke und dir weiterhin viel Erfolg, Debbie

    31. Oktober 2014
  2. Liebe Debbie,

    vielen Dank für deinen Kommentar. Ich freue mich sehr, dass dir unser Seminar bei deinem Roman weiter geholfen hat.

    Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich es damals zum ersten Mal geleitet. Und seit dem nur noch drei oder vier Mal. Es wird leider nicht so sehr nachgefragt wie meine anderen Seminare. Dabei ist es doch ein so spannendes Thema ;-).

    Ich hoffe, dass du weiterhin auf filmschreiben.de lesen wirst und du mit den Inhalten etwas anfangen kannst. Ich freue mich auf weitere Kommentare von dir.

    Liebe Grüße

    Ron

    31. Oktober 2014

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