Wie man Identifikation erzeugt – und wie nicht: Breaking Bad und True Detective

Ein Merkmal international erfolgreicher Qualitätsserien sind die ambivalenten Figuren, von denen sie erzählen. Ambivalente Figuren sind immer riskant: Kann sich das Publikum mit ihnen identifizieren – mit Figuren, die moralisch verwerflich handeln, die böse sind? Ja, natürlich kann es das. Voraussetzung ist, dass die Figuren Identifikationspotenzial haben.

Eine gute Möglichkeit, eine ambivalente Figur mit Identifikationspotenzial auszustatten, besteht darin, ihr ein „ungerechtfertigte Leid“ zustoßen zu lassen. Dadurch fühlen wir mit ihr, bringen wir Empathie für sie auf. Denn es ist eine normale menschliche Reaktionsweise, sich auf die Seite von jemandem zu schlagen, der ungerecht behandelt wird, dem etwas Schlimmes widerfährt, wofür er nichts kann.

In BREAKING BAD funktioniert das wunderbar: Walter White erfährt, dass er an Lungenkrebs erkrankt ist, obwohl er nie geraucht hat. Aus Sorge darum, dass seine Familie nach seinem Tod mittellos dasteht, beschließt er, kriminell zu werden. Das können wir nachvollziehen und würden wahrscheinlich genauso handeln, wenn es keine Alternative gäbe.

Widerfährt einer Figur ein „ungerechtfertigtes Leid“, schlagen wir uns auf ihre Seite.

In TRUE DETECTIVE versucht der Autor Nic Pizzolatto zwar ebenfalls, mit diesem Mittel Identifikation mit Rust zu erzielen, es funktioniert aber nicht: Rustin Cohles Tochter ist gestorben, weswegen seine Ehe zerbrach und er Drogenprobleme bekam. Außerdem musste er vier Jahre am Stück als verdeckter Ermittler im Drogenmilieu arbeiten, wurde noch drogenabhängiger und musste am Ende für mehrere Monate in eine Psychiatrie, nachdem er drei Drogendealer erschossen hatte.

Das Schicksal hat ihm also ziemlich übel mitgespielt. Und obwohl ihm so viel ungerechtfertigtes Leid widerfahren ist, hat er kein hohes Identifikationspotenzial und kann keine Empathie erzeugen. Warum?

Bei Walter White ergibt sich aus dem ungerechtfertigten Leid sein Ziel – viel Geld zusammen zu bekommen – und seine Motivation – seine Familie zu versorgen. Das ungerechtfertigte Leid hat also unmittelbare Auswirkungen auf sein Denken, Wollen und Handeln und damit auf die Geschichte.

Bei Rustin Cohle ist das nicht der Fall. Sein ungerechtfertigtes Leid wirkt sich nicht auf sein Denken, Wollen und Handeln aus, es gibt kein Ziel, das er deswegen erreichen will, es motiviert ihn nicht und lässt ihn nicht entsprechend handeln. Es hat also keine Wirkung auf die Geschichte, die uns über ihn erzählt wird. Außerdem wissen wir nicht, wie er vor dem Tod seiner Tochter war und ob der Tod seiner Tochter ihn erst zu dem gemacht hat, der er heute ist.

Ein ungerechtfertigtes Leid funktioniert nur, wenn es unmittelbare Auswirkungen auf den Konflikt hat.

Das ungerechtfertigte Leid in TRUE DETECTIVE wird also nicht erzählt und damit spürbar gemacht, sondern lediglich behauptet. Es bleibt damit auf der kognitiven Ebene und erreicht die emotionale Ebene nicht. Das ist einer der Gründe, warum TRUE DETECTIVE für mich nicht zu den Top-Serien zählt.

4 Comments

  1. Michael Füting

    Die Argumentation ist richtig.
    Zuschauer von Fiktion sind toleranter. Sie akzeptieren tief emotional etwas, was
    sie als Staatsbürger, gar Juristen nicht akzeptieren dürfen und bestrafen müssten.
    Man geht auch ins Kino, um zu sehen, wie jemand seinem Arschloch-Chef eins
    in die Fresse haut. Weil man sich selber aus guten Gründen nicht trauen würde.
    Nur haben gelegentlich Redakteure mit solchen Handlungsführungen Probleme.

    12. August 2015
  2. Macht Filme, die Ihr selbst sehen wollt!

    Vielen Dank für deinen Kommentar, Michael. Aus meiner Sicht sind es aber nicht nur die Redakteure, die mit solchen Figuren und Handlungsführungen ein Problem haben, sondern auch viele Autorinnen und Autoren und Produzentinnen und Produzenten.

    Warum das so ist, weiß ich nicht genau, folgende zwei miteinander zusammenhängende Gründe halte ich aber für plausibel: die Überzeugung, in den Köpfen anderer Menschen denken zu können, wo es doch schon schwer genug ist, im eigenen Kopf zu denken, und die sich daraus ergebenden selbstzensierenden Scheren im Kopf.

    Viele Redakteuer glauben zu wissen, was in den Köpfen des Publikums vorgeht, und leiten daraus ab, welche Art von Filmen es sehen will. Das Menschenbild, das viele Redakteure von ihrem Publikum haben, ist ein sehr herablassendes und überhebliches und führt gerne mal zu Aussagen wie „Ich würde mir das ja nie anschauen, aber das Publikum will es sehen.“ Und da sie das Publikum für dumm und uninteressiert halten, wollen sie, dass Filme so erzählt werden, dass auch der letzte Idiot sie versteht.

    Autoren und Produzenten setzen sich selbst eine Schere in den Kopf, wenn sie glauben zu wissen, dass Redakteure so denken, und bieten ihnen nur entsprechende Stoffe an. Das führt dann bei Redakteuren verständlicherweise dazu, dass sie auf die Frage, warum sie nicht mal mutigere Stoffe machen, antworten, dass ihnen keine mutigen Stoffe angeboten werden. Was natürlich nicht stimmt, denn glücklicherweise findet nicht bei allen Autoren und Produzenten eine solche Selbstzensur statt. Genauso wenig wie alle Redakteure ihre Zuschauer für Vollidioten halten. Das muss man ehrlicherweise dazusagen.

    Im Kino ist es nicht viel anders. Viele Produzenten glauben zu wissen, was gerade die größten Chancen auf Förderung hat, was die Fördergremien also denken. Entsprechend dieser Schere sieben sie dann Stoffe aus. Welcher Autor hat nicht schon einmal den Satz gehört: „Super Stoff, aber das wird momentan nicht gefördert.“ Mir ging es mal mit einer Medien- und Politiksatire, die im Afghanistankrieg spielt, so: „Mit einer Mediensatire haben wir kaum Aussichten auf Förderung. Politiksatire funktioniert in Deutschland nicht. Und Afghanistankrieg wird auch kaum gefördert. Alles zusammen also: aussichtslos“ Dass ich mit dem Exposé einen Wettbewerb gewonnen hatte – egal.

    Dabei gibt es einen ganz einfachen Weg, wie wir die Qualität deutscher Filme erhöhen können: Lasst uns keine Filme machen, von denen wir denken, dass sie anderen Leuten gefallen könnten, sondern lasst uns Filme machen, die wir selbst sehen wollen, auf die wir selbst Lust haben, auf die wir geil sind. Ich bin zwar kein Freund von Ausrufezeichen, aber hier setze ich eins: !

    Vor allem Autorinnen und Autoren sind hier in der Pflicht, sich frei zu machen. Und sobald sie es sind, sollten Produzenten und Redakteure ihre Aufgabe so verstehen, die Autorinnen und Autoren dabei zu unterstützen, die bestmögliche Version ihrer (der AutorInnen, nicht der ProduzentInnen und RedakteurInnen) Geschichte zu erzählen, ihnen also Raum für ihre Vision zu geben, statt sich selbst in diesen Raum zu drängen und ihnen die Luft zu nehmen, was leider viel zu oft passiert.

    In Dänemark scheint das wunderbar zu funktionieren. Camilla Hammerich, die Produzentin von BORGEN, äußert sich in einem ARTE-Interview jedenfalls so dazu:

    „Der Autor ist das Herzstück, das innere Geheimnis des Erfolgs. Daher wird er vom Sender DR festangestellt und hat inhaltlich das letzte Wort. Alle verfolgen „eine Vision“, wie wir es nennen, und das ist die des Autors. Wir haben bei „Borgen“ alle für Adam Price gearbeitet und versucht, seine Vision umzusetzen. […] Das bedeutet, dass nur […] ganz wenige Leute Entscheidungen treffen […] insgesamt ist der Autor sehr frei in seinen Entscheidungen.“

    siehe hierzu auch: https://filmschreiben.de/ob-das-was-wird-mit-der-international-erfolgreichen-deutschen-serie/

    18. August 2015
  3. Michael Urban

    Ich finde, das ist eine ziemlich subjektive Sichtweise und kann keinesfalls als allgemeingültig genannt und bezeichnet werden.

    Im Beispiel wird hier genannt, daß man beim ‚ungerechtfertigten Leid des Walter White‘ nachvollziehen könne, weshalb er beschließt kriminell zu werden, und daß man als Zuschauer vielleicht gar genauso gehandelt hätte.
    Diese Behauptung zunächst einmal kann ich bereits nicht nachvollziehen. Selbst durch dieses ‚ungerechtfertigte Leid‘ ist es für mich keinesfalls nachvollziehbar, weshalb jemand beschließt eine derartige kriminelle Laufbahn einzuschlagen. Wäre er in ein Casino gegangen, um mit seinem restlichen Ersparten etwas aufzubauen, um seine Familie zu unterstützen … okay. Hätte er in halblegale oder gar illegale Dinge investiert, um kurzfristig viel Geld zu verdienen … auch noch okay.
    Aber wieso ein Mann in den 50ern, verheiratet und bis dahin in einer gut funktionierenden Ehe lebend, durch seinen behindertem Sohn sicherlich in vielerlei Bereichen sensibilisiert und vielleicht sogar sozial engagiert, mit einem schönen Eigenheim in einer guten Gegend und sicherlich auch in der Nachbarschaft gern gesehen (auch wenn die Nachbarschaft in der Serie keine relevante Rolle spielt und darauf nicht näher eingegangen wird), sogar noch mit einem Schwager bei der Drogenfahndung auf die Idee kommen sollte, sich mit der Herstellung wohl einer der negativsten Straßendrogen der Welt zu befassen, das ist nicht nachvollziehbar.
    Das soll nicht bedeuten, daß ich die Serie an sich schlecht gemacht finde, aber es ist nunmal eine Extremfiktion, die genau durch das Extreme reizt, auch wenn man sich eben nicht vorstellen kann, einen solchen Weg selber einzuschlagen. Ich mag Breaking Bad, aber dennoch ist der Entwicklungsweg des Walter White nicht wirklich logisch nachvollziehbar.

    Als Gegenteil wird hier mit True Detective die Figur des Rustin Cohle als empathisch nicht greifend dargestellt. Und auch hier kann ich wieder nur widersprechen ^^
    Sicher, es ist richtig, daß die rein erzählte Hintergrundgeschichte des Todes seiner Tochter und die darauf folgende Trennung von seiner Frau keinen tiefen emotionalen Ansatzpunkt hinterlassen, zumal man diese ja auch nicht zu sehen bekommt, aber dies ist ja auch lediglich die Hintergrundgeschichte zur Hintergrundgeschichte. In der Tat ist dieser Teil seines Hintergrundes für den Zuschauer nicht wirklich greifbar und auch relativ unwichtig (auch wenn es immer mal wieder zur Sprache gebracht wird, um sein persönliches emotionales Tief zu erklären), doch dieser Punkt wird auch lediglich benötigt, um zu erklären, daß er dadurch abgerutscht ist, im Job Fehler machte und Mist baute, was dazu führte, daß er von seinen Vorgesetzten sozusagen zur Strafe in die Drogenfahndung Undercover eingeschleust wurde, was dann überhaupt erstmal der Beginn seiner Reise war. Erst durch diesen Hintergrund ist erklärbar, weshalb er 4 Jahre lang undercover arbeiten musste, und nicht bereits nach 11 Monaten, wie es der Regelfall war, wieder abgezogen wurde. Erst dadurch wird sein jahrelanger Drogenmissbrauch erzählerisch begründet und erst dadurch wird seine emotionale Verhärtung und seine Antipathie für die ‚Schafe der Gesellschaft‘ nachvollziehbar.
    Wobei es diesen Ansatz für mich so nicht einmal gebraucht hätte. Rusty Cohles Einstellungen zu Dingen wie Religion, politische Widersinnigkeiten und vielem mehr sind für mich viel nachvollziehbarer, als es eine Geschichte um einen urplötzlich hochkriminellen Chemielehrer je schaffen wird. Rust Cohle ist für mich ein in jeder Hinsicht phantastischer Charakter; ehrlich (oftmals zu direkt und offensiv, aber dennoch nichts anderes als ehrlich und offen) intelligent, vom Leben gebeutelt, und mit einer absolut klaren Sichtweise auf das Leben, die von harter Schule zeugt. Selten sieht man einen derart faszinierenden Charakter, und selten habe ich eine solche Identifikation mit einem fiktiven Charakter erlebt, wie hier bei True Detective.

    Ein anderes Beispiel: The Walking Dead. Die Geschichte eines Polizisten, der sich in einer postapokalyptischen Welt gezwungen sieht, seine Familie (und später im weiteren Sinne seine selbstgewählte Familie der ‚Atlanta Gruppe‘) gegen alle Bedrohungen zu schützen. Und dennoch: Als Rick kurz von Alexandria jegliche Entscheidungsgewalt an sich riss und keinerlei Widersprüche mehr akzeptieren wollte, wurde es seltsam. Doch das war nicht genug: Mit Staffel 6 beschließt er urplötzlich einen eiskalten Mord an einem für ihn bis dahin noch völlig unbekannten Mann, lediglich auf Hörensagen von Personen, die er gerade mal seit einer halben Stunde kennt. Er bietet sich an, Negan zu ermorden, ohne auch nur darüber nachzudenken … und das, obwohl er in vergleichbarer Situation (Staffel 3) keine Entscheidung treffen will, bevor er den Anführer von Woodbury, den Governor, nicht persönlich kennengelernt hat. Damals ein nachvollziehbare Entscheidung eines ehemaligen Polizisten, in Staffel 6 plötzlich eine absolut unverständliche Meinungsänderung. An diesem Punkt habe ich jede Identifikation mit Rick Grimes verloren. In diesem Augenblick wurde er zu einem ebenso eiskalten Mörder wie jeder beliebige Gegner der Gruppe zuvor, und dadurch brach für mich das fragile Gebilde der sozialen Strukturen der Serie zusammen. Anfangs nachvollziehbar, inzwischen zweifle ich an der Serie.

    Breaking Bad muss man mal gesehen haben. The Walking Dead ebenfalls. True Detective habe ich mir bereits vier mal angesehen und bin jedesmal aufs Neue fasziniert ^^.

    28. Dezember 2016
  4. Lieber Michael Urban,

    herzlichen Dank für Ihren ausführlichen und sehr kenntnisreichen Kommentar. Genau solche Diskussionen wünschen wir uns.

    Ihre Argumentation kann ich sehr gut nachvollziehen, und sie zeigt mir, dass das Konzept der Identifikation sehr komplex ist. Und dass man Figuren zwar mit Identifikationspotenzial ausstatten, aber nicht beeinflussen kann, ob sich die Zuschauerinnen und Zuschauer dann auch tatsächlich mit der Figur identifizieren. Die einen tun es, die anderen nicht. Das hängt in erster Linie von ihrer Persönlichkeitsstruktur ab, ihrem Wertesystem, ihren Erfahrungen und Verletzungen.

    Herzliche Grüße

    Ron

    28. Dezember 2016

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