Grundlagen I: Was ist eine Geschichte und wie funktioniert sie? – Teil 1

Drei Antworten auf die Frage, was eine Geschichte ist und wie sie funktioniert:

Eine Geschichte ist ein dreidimensionales Abbild des Menschseins. Sie erzählt von Veränderungen in drei Welten: der äußeren Welt der Handlungen, der emotionalen Welt der Beziehungen und der inneren Welt der Identität. Und von den wechselseitigen Abhängigkeiten der Welten voneinander. Damit unterstützen sie uns darin, zu verstehen, wer wir sind. Geschichten stiften Identität.

Eine Geschichte ist ein Werte-Diskurs: Sie erzählt von Werten, die miteinander in Konflikt geraten. Damit stellt sie eine Möglichkeit dar, uns über unsere individuellen und sozialen Werte zu verständigen, und Antworten auf die Fragen zu finden, wie wir leben sollen und in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Geschichten konstituieren Gemeinschaften.

Geschichten spiegeln menschliche Entwicklungsprozesse. Sie erzählen von der Entstehung, der Austragung und der Auflösung von Konflikten, durch die sich Persönlichkeitsentwicklungen vollziehen, und helfen uns, unsere eigenen Konflikte zu verstehen und zu bearbeiten. Geschichten geben Hoffnung auf ein besseres Leben.

Geschichten stiften Identität, konstituieren Gemeinschaften und geben Hoffnung auf ein besseres Leben.

In diesem Text geht es um den ersten Teil der dritten Antwort. Der zweite folgt nächsten Freitag. Über die beiden anderen Antworten werde ich später schreiben.

Geschichten erzählen Reifungsprozesse

Das Gilgamesch-Epos ist die mit fast 4000 Jahren älteste bisher gefundene Geschichte der Menschheit: Nach dem Tod seines Gefährten Enkidu bricht Gilgamesch – der tyrannische Herrscher von Uruk – in die Welt auf, um Unsterblichkeit zu finden. Er erlangt jedoch keine Unsterblichkeit, sondern Weisheit, und kehrt als gütiger Herrscher nach Uruk zurück.

Auf seiner Reise haben sich Gilgameschs drei Welten verändert: Er hat durch äußere Geschehnisse und zwischenmenschliche Beziehungen in seinem Inneren eine Wandlung erfahren, die ihn wiederum seine zwischenmenschlichen Beziehungen anders gestalten und im Außen anders handeln lassen. Diese innere Reifung zeigt sich in einem Wertewandel, der das Ergebnis eines Wertekonflikts ist: Sein ursprünglicher Wert – Macht – und sein angestrebter Wert – Unsterblichkeit – geraten in Konflikt mit einem anderen Wert – Güte, Mitmenschlichkeit – und verlieren.

Genau diese Geschichte wird heute noch in Spielfilmen und Romanen erzählt – in unendlichen Variationen. Jemand bricht in eine neue Welt auf –geografisch, emotional, seelisch, mental – und macht dort Erfahrungen, die ihn verändern. Diese Veränderung vollzieht sich durch einen Konflikt. Ohne diesen Konflikt würde es nicht zu dieser Veränderung kommen. Konflikt ist also wichtig für eine Geschichte. Deshalb die Frage:

Wie funktioniert ein Konflikt konkret?

Konflikt

Mann und Frau lernen sich kennen, verlieben sich ineinander, werden ein Paar und leben glücklich und gesund bis an ihr Lebensende. Was ist das? Im echten Leben ein Traum, dramaturgisch der totale Albtraum.

Mann und Frau lernen sich kennen, verlieben sich ineinander, kommen aber nicht zusammen, weil beispielsweise ihre Familien verfeindet sind und ihnen Hindernisse in den Weg legen. Die Beiden kämpfen gegen die Hindernisse an, überwinden sie und sind am Ende glücklich vereint. Oder sie überwinden sie nicht und sind am Ende beide tot.

Was ist der Konflikt der Geschichte?

Das ist eine Geschichte. Weil es einen Konflikt gibt: Die beiden Liebenden haben ein Problem. Sie können nicht ohne weiteres zusammenkommen. Könnten sie das, gäbe es keinen Konflikt und damit keine Geschichte: Ohne Konflikt also keine Geschichte. Konflikt ist die Grundlage, der Kern. Eine Geschichte erzählt immer, wie ein Konflikt entsteht, wie er ausgetragen wird und wie er sich auflöst:

Entstehung: Wie entsteht der Konflikt?
Austragung: Wie wird der Konflikt ausgetragen?
Auflösung: Wie wird der Konflikt aufgelöst?

Was ist der Konflikt?, ist damit eine der zentralen Fragen im Geschichtenentwickeln.

Hauptfigur

Um einen Konflikt zu erzählen, braucht es eine konkrete Person, die ihn austrägt: die Hauptfigur. Es ist ihre Geschichte, die erzählt wird, ihr folgen wir durch die Geschichte, sie verändert im Laufe der Geschichte ihre Persönlichkeit. Alle anderen Elemente – andere Figuren, Handlungen, Thema, Aussage, die Gesamtheit der Ereignisse – sind auf sie bezogen und nur deshalb existent, um ihre Geschichte erzählen zu können. Sie ist der Nabel der Welt, ihrer Welt, ihrer Geschichte.

Im konventionellen Geschichtenerzählen wird immer die Geschichte einer Hauptfigur erzählt. Es gibt aber noch weitere Protagonistenmodelle: der Multi- und der Pluralprotagonist.

Pluralprotagonist bedeutet: Es gibt mehrere Hauptfiguren, die den gleichen Konflikt haben, die gemeinsam gewinnen und zusammen verlieren: Thelma and Louise, Wir können auch anders, Little Miss Sunshine

Multiprotagonist bedeutet: Es gibt mehrere gleichwertige Hauptfiguren, die jeweils ihr eigenes Ziel verfolgen und jeweils für sich gewinnen oder verlieren. Multiprotagonisten ergeben Multiplotfilme: 21 Gramm, Traffic, L.A. Crash,. Multiplotfilme erzählen also nicht nur eine, sondern mehrere Geschichten, funktionieren in diesen Einzelgeschichten aber (meistens) konventionell.

Dramatisches Ziel

Wesentliches Merkmal der Hauptfigur ist das dramatische Ziel: Die Hauptfigur will etwas, etwas in der äußeren Welt. Das dramatische Ziel ist ein „äußeres Wollen“ (es gibt noch ein „inneres Brauchen“, dazu gleich mehr). Es ist immer konkret in dem Sinne, dass am Ende der Geschichte eine Situation eintreten können muss, in der eindeutig entschieden wird, ob die Hauptfigur ihr Ziel erreicht oder nicht. Glück kann also nicht das Ziel einer Hauptfigur sein, weil es zu abstrakt ist. Publikum und Leserschaft wissen nicht, wann genau dieser Zustand erreicht ist. Das Glück müsste also konkretisiert werden: Wann genau ist die Figur glücklich – oder glaubt sie, glücklich zu sein?

Was will die Hauptfigur?

Der Kommissar will den Mörder überführen, die Liebenden wollen zusammen sein, Indiana Jones will den Schatz finden, James Bond will die Welt retten, Olive und ihre Familie wollen in Little Miss Sunshine rechtzeitig in Kalifornien ankommen, damit Olive an einem Schönheitswettbewerb teilnehmen kann und so weiter.

Wenn man nicht weiß, was die Hauptfigur will, kann man nicht wissen, wie sie handelt bzw. welche ihrer Handlungen für das Erzählen der Geschichte relevant sind.

Dramatische Frage

Aus dem dramatischen Ziel ergibt sich die dramatische Frage, die immer die Grundform hat: Wird die Hauptfigur ihr Ziel erreichen? Sie wird am Ende der Geschichte beantwortet: ja, nein, ja aber, nein aber. Ja, die Hauptfigur bekommt alles, was sie will; nein, sie verliert alles; ja, sie bekommt es, aber anders als sie dachte; nein, sie bekommt es nicht, erhält dafür aber etwas viel Wertvolleres, von dem sie zu Beginn noch gar nichts wusste.

Wird die Hauptfigur ihr Ziel erreichen?

Die dramatische Frage ist der grundlegende Spannungsbogen einer Geschichte, der Auslöser für die Möglichkeit einer kognitiven Beteiligung der RezipientInnen. Neben der Lebendigkeit und Mehrdimensionalität der Charaktere, der Tiefe und der Universalität ihrer Konflikte und der vielschichtigen Entfaltung des Themas ist sie es, die unser Interesse am Handlungsverlauf weckt. Der Prozess ihrer Beantwortung hält unser Interesse aufrecht und steigert es nach Möglichkeit sogar. Die Antwort auf sie befriedigt unser Interesse.

Wird es der Familie in Little Miss Sunshine gelingen, rechtzeitig in Kalifornien anzukommen und den Wettbewerb zu gewinnen?

Handlungsebene und inhaltliches Thema

Aus dem dramatischen Ziel ergibt sich die Handlungsebene einer Geschichte. Alles, was die Figur tut, tut sie, um ihr Ziel zu erreichen. Andere Handlungen haben keine dramatische Relevanz.

Auf der Handlungsebene wird das inhaltliche Thema einer Geschichte erzählt: Worum geht es? Über dieses Thema wird die kognitive Beteiligung der RezipientInnen aktiviert. Inhaltliche Themen sind beispielsweise: die alternde Gesellschaft, aktive Sterbehilfe, Terrorismus, Drogen, Inklusion, Selbstjustiz, Patchwork-Familien, Kinderarmut, Gewalt, religiöser Fanatismus, Sexualstraftäter, Integration, Spionage, Ausbeutung, Midlife-Crisis und so weiter.

Inhaltliche Themen können kultur- und gesellschaftsspezifisch sein. Das Thema „alternde Gesellschaft“ beispielsweise spielt in den jungen Gesellschaften Afrikas keine Rolle.

Ein inhaltliches Thema kann noch so interessant sein – ohne emotionales Thema, das ihm zugrunde liegt, bleibt es leblos. Dazu weiter unten mehr.

Figuren transportieren unterschiedliche Standpunkte des inhaltlichen Themas.

In Little Miss Sunshine geht es auf der Handlungsebene um die inhaltliche Thema Erfolg, um Gewinnen und Verlieren: Die Familie fährt nach Kalifornien, damit Olive den Wettbewerb gewinnt. Ihre Handlungen sind auf dieses Ziel ausgerichtet. Die Figuren sind dem Thema entsprechend entwickelt und transportieren unterschiedliche Standpunkte dazu: der Vater als Möchtegern-Gewinner mit seinem In-Neun-Stufen-zum-Erfolg-Konzept, mit dem er erfolglos ist; der Opa als Verlierer, der sogar aus dem Pflegeheim fliegt und in seinem ganzen Leben nie etwas auf die Reihe bekommen hat; der Onkel, der seine Liebe, seinen Job, seine Wohnung und seinen sozialen Status verliert und sich deshalb das Leben nehmen will.

Widerstände und antagonistische Kräfte

Bei dem Versuch, ihr Ziel zu erreichen, stößt die Hauptfigur auf Widerstände. Sonst gäbe es keinen Konflikt. Diese Widerstände stammen von der antagonistischen Kraft. Sie lässt sich definieren als die Summe aller Kräfte, die dem Ziel der Hauptfigur im Wege stehen.

Die antagonistische Kraft ist für das Funktionieren einer Geschichte genauso wichtig wie die Hauptfigur. Denn die Hauptfigur setzt mit ihrem dramatischen Ziel die Geschichte in Gang, die antagonistische Kraft hält sie mit den Widerständen, die sie die Hauptfigur entgegen stellt, am Leben: Ohne antagonistische Kraft gibt es keine Geschichte.

Wenn die antagonistische Kraft eine andere Figur / Person oder eine Gruppe von Figuren / Personen ist, ist es ratsam, immer auch ihre Geschichte zu bedenken: Was ist ihr Ziel? Warum will sie verhindern, dass die Hauptfigur ihr Ziel erreicht?

Ohne antagonistische Kraft kein Konflikt. Und also keine Geschichte.

Die antagonistische Kraft ist die Hauptfigur ihrer eigenen Geschichte. Man kann deshalb auch ihre Geschichte erzählen. Manchmal kommt es sogar vor, dass die antagonistische Kraft den größeren Konflikt und damit die interessantere Geschichte als die Hauptfigur hat.

Ist die antagonistische Kraft eine andere Figur, spricht man von einem zwischenmenschlichen Konflikt. Sie kann aber auch eine Gruppe von Figuren sein – die eigene Familie, die Nachbarn, eine Straßengang, eine Armee (sozialer Konflikt) –, eine Situation – die Hauptfigur will auf die andere Seite des Flusses, es gibt jedoch keine Brücke (situativer Konflikt) – oder die Hauptfigur selbst: ihre Ängste, ihre Zweifel, ihre Zerrissenheit, ihre Wertekonflikte etc. (innerer Konflikt).

Die antagonistische Kraft muss nicht „böse“ sein. Sie kann auch eine gute Figur sein, die mit besten Absichten handelt. In Dirty Dancing beispielsweise verliebt sich Baby in Jonny. Die Beiden können jedoch nicht zusammenkommen, weil Babys Vater dagegen ist. Er ist also die antagonistische Kraft für ihre Liebe, für Babys und Jonnys Ziel, zusammen zu sein. Warum ist er dagegen? Weil er Baby über alles liebt und nur das Beste für sie will, Jonny aber nicht für gut genug hält.

Die einfachste Kurzfassung einer jeden Geschichte lässt sich folgendermaßen formulieren:

Die Hauptfigur will etwas – die antagonistische Kraft hindert sie daran.

Daraus entsteht der Konflikt.

Im zweiten Teil nächsten Freitag geht es um folgende Themen: Motivation und Fallhöhe, Motivierendes Bedürfnis und erhofftes Glück, Größte Angst und Tiefpunkt, Symbolischer Tod und Symbolische Wiedergeburt, Tatsächliches Bedürfnis und wahres Glück, Beziehungsebene und emotionales Thema, Krise und Charakterentwicklung, Aussage, Kurzanalyse von Little Miss Sunshine

3 Gedanken zu „Grundlagen I: Was ist eine Geschichte und wie funktioniert sie? – Teil 1“

  1. Endlich eine ebenso praktikable wie vernünftige Definition von dem, was eine Geschichte im Filmschaffen ist. Macht Freude.

  2. Kann der Antagonist auch Tod sein?
    Eine Figur die weiter zurückliegt im Leben des Protagonisten?
    Z.B. eine verstorbene Person, ein Ereignis das sie nicht
    verarbeitet hat, dass nun zu inneren Konflikten führt.
    Vielen Dank!

  3. Ein Antagonist wehrt sich gegen die Handlungen des Protagonisten. Das soll deine Konstruktion nicht grundsätzlich ausschließen, es mag Erzählformen und Genres geben, in denen das funktionieren würde, aber es macht das Erzählen erst einmal schwierig: Dein Protagonist will etwas erreichen, wie sollte ein toter Antagonist ihn daran hindern?

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