Die Heldenreise ist ein dramaturgisches Modell zur Gestaltung der Charakterentwicklung der Hauptfigur. Ihre zwölf Stadien beschreiben, wie die Hauptfigur ihre verletzten Funktionen – Körper, Geist, Seele, Herz – heilt und dadurch zum Helden wird. Die „Reise“ ist also primär nicht eine geografische, sondern eine emotionale, mentale oder seelische. Es ist eine Reise hin zu sich selbst, auf der die Hauptfigur den zerstörten ursprünglichen Seinszustand der Ganzheit wieder herstellt. Diese Charakterentwicklung lässt sich grob in fünf Phasen einteilen:
die Welt des alten Ichs als Verlust der Ganzheit – die Veränderung des alten Ichs – der Tod des alten und die Geburt des neuen Ichs – die Bewährung des neuen Ichs – die Wiederherstellung der Ganzheit
Heldenreisen erzählen von der Heilung einer verletzten Person.
Überblick
In den ersten fünf Stationen agiert das alte – das verletzte – Ich der Hauptfigur: Die gewohnte Welt, der Alltag der Hauptfigur, ist seine Welt. Auf seine eigene Weise ist diese Welt in einem Gleichgewicht. Zugleich ist deutlich, dass mit der Hauptfigur etwas nicht stimmt: Sie befindet sich nicht im ursprünglichen Seinszustand der Ganzheit, da eine ihrer Funktionen Körper, Geist, Seele oder Herz zerstört ist. Der Ruf des Abenteuers als Störung der gewohnten Welt ist ein Hinweis darauf, dass sie sich verändern muss, eine Erinnerung an die zerstörte Funktion. Ihr altes Ich will jedoch nicht an die Verletzung erinnert werden und sich nicht verändern. Es will weiter das Sagen haben, denn seine Überlebensstrategie hat der Hauptfigur bislang ja auch immer das Leben gerettet. Also weigert sich die Hauptfigur, dem Ruf zu folgen bzw. die Störung als solche zu erkennen. Doch dieses Mal ist die Überlebensstrategie des alten Ichs nicht erfolgreich. Die Hauptfigur verliert die Kontrolle über ihr Leben, das immer mehr aus dem Gleichgewicht gerät. Es gelingt ihr nicht, das alte Gleichgewicht der gewohnten Welt wieder herzustellen. Trotzdem ist sie immer noch nicht bereit, die Reise anzutreten und sich auf eine Veränderung einzulassen. Dafür braucht sie die Unterstützung eines Mentors oder einer Mentorin. In der Begegnung mit ihm bzw. ihr wird die Hauptfigur auf die notwendige Veränderung vorbereitet.
Mit dem Überschreiten der ersten Schwelle begibt sie sich in eine neue Welt, mit dem Ziel, ein harmonisches Gleichgewicht herzustellen. Dass sie dabei ihre Persönlichkeit verändern wird und am Ende irgendwo rauskommt wo sie gar nicht hinwollte – nämlich in der ursprünglichen Ganzheit ihres Seins – ist ihr nicht bewusst.
Mit der sechsten Station – den Prüfungen – beginnt der Entwicklungsprozess der Hauptfigur. Das alte Ich verändert sich nach und nach. Die zerstörten Funktionen werden geheilt. Noch wurde das verwandelte alte Ich aber keiner Probe unterworfen, musste sich die Hauptfigur nicht der größten antagonistischen Kraft – ihrer eigenen Angst – stellen. Diese Probe steht irgendwann bevor, und zwar in der tiefsten Höhle. In der Annäherung an die tiefste Höhle bereitet sich die Hauptfigur auf die große Auseinandersetzung mit der antagonistischen Kraft vor.
Diese Auseinandersetzung findet in der achten Station statt. Sie ist eine entscheidende Prüfung: Besteht die Hauptfigur diese Prüfung nicht, ist ihre Reise vorbei. Hier geht es um alles, sie wird mit ihrer größten Angst konfrontiert und droht zu sterben – physisch, emotional, seelisch oder mental. Sie überlebt jedoch, indem sie beweist, dass sie das, was sie in den Prüfungen der sechsten Station gelernt hat, auch tatsächlich beherrscht, es „verinnerlicht“ hat und ihre größte Angst überwinden kann. Diese Verinnerlichung lässt das alte Ich zusammenbrechen und das neue Ich die Oberhand gewinnen. Das alte Ich, dessen Angst sich in den antagonistischen Kräften – den Schatten, Gestaltwandlern, Schwellenhütern – widerspiegelt, ist jedoch noch nicht endgültig überwunden, die Funktionen sind noch nicht geheilt, die Ganzheit noch nicht wieder hergestellt.
Nachdem die Hauptfigur in der neunten Station eine Belohnung erhalten hat, wird ihr neues Ich auf ihrem Rückweg in weiteren Auseinandersetzungen mit der antagonistischen Kraft Bewährungsproben unterworfen. Noch ist ihre Charakterentwicklung nicht endgültig abgeschlossen, noch besteht die Gefahr, dass ihr altes Ich die Oberhand zurückgewinnt.
Am Ende der Reise hat die Figur den ursprünglichen Seinszustand der Ganzheit der Funktionen Körper, Geist, Seele und Herz wieder hergestellt.
Erst in der elften Station – der Auferstehung – wird ihre Charakterentwicklung endgültig zum Abschluss gebracht. Ihre Verletzungen werden geheilt, alle vier Funktionen funktionieren wieder, der ursprüngliche Seinszustand der Ganzheit ist wieder hergestellt. Hier geht es noch einmal um alles, ihr altes Ich startet den letzten und größten Angriff, um wieder in seine alte Position zu kommen. Besteht die Hauptfigur hier nicht, war alles vergebens. Aber natürlich besteht sie und indem sie die antagonistische Kraft – und damit ihr altes Ich – endgültig besiegt, erfährt sie ihre Auferstehung als neuer – geheilter – Mensch.
Die zwölfte Station – die Rückkehr – ist nicht primär geografisch zu verstehen. Sie zeigt vielmehr, dass die Hauptfigur wieder zu sich selbst zurückgekehrt ist, dass sie geheilt ist und den ursprünglichen Seinszustand der Ganzheit der Funktionen Körper, Geist, Seele und Herz wieder hergestellt hat.
Die Stadien
1. Gewohnte Welt – Notwendigkeit der Veränderung
Die Darstellung der gewohnten Welt enthält alle Informationen, die das Publikum braucht, um Hauptfigur und Geschichte zu verstehen. Sie erzählt die Routine der Hauptfigur, ihren Alltag, und dass irgendetwas nicht mit ihr stimmt (sie „inadäquates Verhalten“ in „Heldenreise Teil 2“). Auf irgendeine Weise ist sie in ihrer Selbstwirksamkeit und ihrem Leben begrenzt und schöpft nicht ihr volles Potenzial aus. Eine ihrer vier Funktionen – Körper, Geist, Seele, Herz – ist zerstört. Vielleicht ist sie einigermaßen zufrieden, aber sie ist definitiv nicht glücklich. An irgendetwas mangelt es ihr und das Publikum sieht, dass es in ihrem Leben so nicht weiter gehen kann – dass sie sich verändern muss. Der Hauptfigur muss das nicht unbedingt bewusst sein und meistens ist es das auch nicht.
Gewohnte Welt: Um glücklich zu werden, muss sich die Hauptfigur verändern.
Eine Metapher für diesen Zustand des Helden ist der Schlaf: In MATRIX und in AMERICAN BEAUTY sehen wir die Hauptfiguren in ihrem ersten Bild schlafend, in DAS FEST zwar nicht im ersten, aber in einem sehr frühen, und zwar genau dann, als ihn die Frau, die er am Ende fragen wird, ob sie mit ihm nach Paris geht, verführen will.
In AMERICAN BEAUTY wird der Mangel des Helden von ihm selbst im Voice Over direkt benannt: Sein Leben ist beschissen. Seine Frau und seine Tochter halten ihn für den totalen Verlieren und haben seiner Meinung nach recht damit. Er hat etwas verloren, er weiß zwar nicht was, aber er weiß, dass es nie zu spät ist, es sich zurückzuholen. Damit formuliert der Autor Alan Ball das Grundprinzip der Heldenreise: Die Hauptfigur hat etwas verloren bzw. ihr wurde etwas genommen – eine ihrer Funktionen wurde zerstört – und im Laufe der Geschichte wird sie es sich wieder holen, ihre zerstörte Funktion heilen. In AMERICAN BEAUTY ist Lesters Herzfunktion zerstört: Er hat seine Liebe verloren, vor allem seine Vaterliebe. In Mitleidenschaft gezogen wurde seine Seelen-Funktion. Es mangelt ihm an Lebendigkeit und Authentizität. Auch sein Körper wurde in Mitleidenschaft gezogen. Er ist die erste Funktion, die er wieder heilt, indem er anfängt Sport zu treiben. Überlebt hat seine Geistfunktion.
Probleme im Job bekommt übrigens auch Neo in MATRIX, nachdem ihn der Ruf des Abenteuers erreicht hat und seine Welt immer mehr aus dem Gleichgewicht gerät. Sein Schlaf im ersten Bild hat noch eine weitere Bedeutung: Neo wird seiner Bestimmung als Auserwähltem erst dann gerecht werden können, wenn er seinen Geist befreit, sprich: wenn er – im spirituellen Sinne – aufwacht. In MATRIX geht es um ein Erwachen aus einem betäubten und begrenzten Bewusstsein. Im Schlaf ist Neo noch in einem unbewussten Zustand, im Laufe der Geschichte wird er ein immer weiter gesteigertes Bewusstsein erlangen und seine körperlichen Begrenzungen überwinden.
2. Ruf des Abenteuers – Aufforderung zur Veränderung
Der Ruf des Abenteuers bringt die Geschichte in Gang. Mit ihm Ruf wird die Hauptfigur aufgefordert, ihr Leben zu verändern. In MATRIX erscheinen auf Neos Bildschirm plötzlich die Worte „Wake up, Neo…follow the white rabbit“. In AMERICAN BEAUTY begegnet Lester Angela, der Freundin seiner Tochter, mit der er unbedingt Sex haben will.
Ruf des Abenteuers: Die Hauptfigur wird aufgefordert, sich zu verändern.
Ist der Ruf des Abenteuers erst einmal an die Hauptfigur ergangen, kann sie nicht länger unentschieden in der Bequemlichkeit ihrer gewohnten Welt verharren, da diese immer mehr aus dem Gleichgewicht gerät. Sie kommt in eine Art Zwischenwelt, ist also nicht mehr ganz in ihrer gewohnten Welt, aber auch noch nicht in der neuen Welt.
Der Hauptfigur muss nicht bewusst sein, dass es mit ihrer gewohnten Welt nicht zum Besten steht, und sie sieht folglich auch nicht die geringste Notwendigkeit für eine Veränderung. Sie ist bislang immer halbwegs durchgekommen, hat sich vieler Krücken bedient, Abhängigkeiten und Abwehrmechanismen entwickelt. Deshalb ist der Ruf oftmals verstörend und verwirrend für sie. Ihre naheliegende Reaktion ist daher die Weigerung.
3. Weigerung – Angst vor der Veränderung
In den meisten Filmen weigert sich die Hauptfigur, dem Ruf zu folgen, weil sie Angst hat, sich zu verändern. Hierin besteht eine wichtige Funktion der Weigerung: Sie zeigt, dass die Reise kein Pfannkuchenbacken ist, sondern gefährlich wird. Zwar gibt es die allzeit bereite Hauptfigur, die sich sofort ins Getümmel stürzt. Ihre Weigerung hat jedoch den Vorteil, dass durch ihre Angst und ihre Zweifel deutlicher wird, dass es um etwas Großes und Bedeutsames geht, ihre Fallhöhe also groß ist.
Weigerung: Die Hauptfigur hat Angst vor Veränderung.
Im Falle der Weigerung bedarf es noch eines weiteren Motivs, bis die Hauptfigur ihre Angst überwindet, etwa das unvorhergesehene Eintreten neuer Umstände oder eines zusätzlichen Vergehens gegen die natürliche Ordnung der Dinge. Oder im Auftreten und der Unterweisung eines Mentors.
Manchmal muss der Ruf wie in MATRIX auch mehrmals wiederholt werden, was entsprechend mehrere Weigerungen nach sich zieht. Neo glaubt bei seinem ersten Ruf – „Wake up, Neo“ -, geträumt zu haben. Dann sieht er das weiße Kaninchen als Tätowierung (Wiederholung des Rufs, die Tätowierung fungiert hier als Herold). Als drittes spricht ihn Trinity (als Herold) an und zu guter Letzt Morheus selbst, der hier als Mentor und zugleich als Herold agiert.
Lester in AMERICAN BEAUTY weigert sich nicht direkt, sondern will sofort die erste Schwelle überschreiten, indem er Angela anruft. Er schafft es jedoch nicht, weil er von seiner Tochter Jane – die in dieser Situation die Funktion des Schwellenhüters ausfüllt – gestört wird.
4. Der Mentor – Unterstützung zur Veränderung
Aufgabe des Mentors ist, die Hauptfigur auf die Begegnung mit dem Unbekannten vorzubereiten. In seiner klassischen Version ist der Mentor ein Ratgeber, der der Hauptfigur den Weg weist oder sie mit einer Gabe ausstattet, die die Hauptfigur braucht, um ihre Reise zu bestehen. Er ist eine Quelle der Weisheit. Oftmals hat er die Reise, die der Hauptfigur bevorsteht, bereits hinter sich. Er hilft ihr, indem er ihr seine Erfahrungen weiter gibt. Der Mentor muss jedoch keine positive Figur sein. Er kann die Hauptfigur auch zwingen oder dazu prügeln, die Reise anzutreten.
In MATRIX ist Morpheus Neos Mentor. Er ist dies in klassischer, mythologischer Weise, indem er ihn in die neue Welt einführt und ihn nahezu in allen Fähigkeiten, die Neo für seine Reise braucht, unterweist.
In AMERICAN BEAUTY ist es der Nachbarjunge Ricky, der Lester dabei unterstützt, die erste Schwelle zu überwinden: Vor Lesters Augen kündigt er spontan seinen Job, womit er zum persönlichen Vorbild Lesters wird, der es ihm einige Filmminuten später nachmachen wird. Außerdem gibt Ricky ihm eine Gabe, die Lester auf seiner Reise benötigt: einen Joint.
Mentoren treten nicht nur nach der Weigerung der Hauptfigur auf, sondern können sie in jeder weiteren Situation dabei unterstützen, den nächsten Schritt zu gehen und die bevorstehende Schwelle zu überschreiten.
5. Überschreiten der ersten Schwelle – Bereitschaft zur Veränderung
Aufgrund der Unterweisung des Mentors ist die Hauptfigur nun bereit, sich auf das Abenteuer einzulassen. Sie hat ihre anfängliche Angst und Zweifel überwunden, sich entschlossen, das Problem anzugehen und zu handeln. Es gibt für sie nun kein Zurück mehr. An diesem Punkt beginnt das eigentliche Abenteuer. Mit dem Überschreiten der ersten Schwelle begibt sie sich in eine fremde Welt – geografisch, mental, emotional oder seelisch.
Überschreiten der ersten Schwelle: Die Hauptfigur verlässt ihre gewohnte Welt und beginnt, sich zu verändern.
In MATRIX schluckt Neo die blaue Pille, wacht daraufhin in seinem „Aufbewahrungsbecken“ auf und rutscht wie durch einen Geburtskanal in die neue Welt des Schiffs Nebukadnezzar.
In AMERICAN BEAUTY schafft Lester das Überschreiten der ersten Schwelle endlich, als er hört, wie Angela seiner Tochter sagt, dass sie mit ihm ficken würde, wenn er mehr Muskeln hätte: Lester kramt noch in derselben Nacht seine Hanteln hervor und beginnt zu trainieren.
Oftmals bekommt der Held es hier mit einem Schwellenhüter zu tun, der ihn daran hindern will, die Schwelle zu überschreiten.
6. Prüfungen, Verbündete und Feinde – Veränderung des alten Ichs
Von der sechsten bis zur achten Station wird die Wandlung der Hauptfigur erzählt. Sie eignet sich neue Fähigkeiten und neues Wissen an, wird mit ihren Ängsten und unterdrückten Persönlichkeitsanteile konfrontiert und muss sie auflösen bzw. integrieren. In der achten Etappe – der entscheidenden Prüfung – wird sie mit ihrer größten Angst konfrontiert. Aus dieser Prüfung geht sie als neuer Mensch hervor. In der zehnten und elften Station geht es dann darum, die „Nachhaltigkeit“ dieser Entwicklung zu beweisen.
Sobald die Hauptfigur die erste Schwelle überschritten hat, steht sie vor neuen Herausforderungen und Bewährungsproben. Sie ist einer beständigen Prüfung ausgesetzt, gewinnt Verbündete, macht sich Feinde, begreift allmählich die Regeln der anderen Welt und eignet sich die Fähigkeiten und das Wissen an, das sie braucht, um ihre Reise weiter fortsetzen zu können. Einige der Prüfungen wird sie bestehen, bei anderen wird sie durchfallen.
Prüfungen: Das alte Ich verändert sich.
In MATRIX erfährt Neo zuerst einmal, was es mit der Matrix auf sich hat. Danach durchläuft er ein Trainingsprogramm, in dem er sich verschiedene Fähigkeiten aneignet, beispielsweise mehrere Kampfsporttechniken. In mehreren Prüfungen wird er getestet, ob er bereits so weit ist, seine Aufgabe zu erfüllen, seinen Geist zu befreien, um seine körperliche Begrenztheit zu überwinden: In einem Kampf gegen Morpheus scheint er zu unterliegen, siegt am Ende aber doch. Einen Sprung von einem zu einem anderen Hochhausdach schafft er nicht, fällt also durch die Prüfung. In einem weiteren Trainingsprogramm lässt er sich von einer Frau in einem roten Kleid ablenken und besteht diese Prüfung ebenfalls nicht. Als Morpheus ihn zum Orakel bringt, begegnet er einem kleinen Buddhistenjungen, der ihn mit einer letzten wichtigen Fähigkeit, die Neo zur Befreiung seines Geistes braucht, ausstattet. Jetzt wäre Neo also eigentlich so weit, er hat nur noch ein Problem: Er glaubt nicht an sich selbst, glaubt nicht, dass er der Auserwählte ist, vor allem, nachdem das Orakel ihm diesen Glauben bestätigt hat. Mit dem Besuch des Orakels ist die Phase der Prüfungen abgeschlossen. Neo nähert sich nun der tiefsten Höhle an.
Während sich in den meisten Filmen der Held nicht mit dem klaren Ziel auf den Weg macht, sich zu verändern, ist es in AMERICAN BEAUTY genau das, was Lester will: Er will ein anderer Mensch werden, ein Mensch, der er vor 20 Jahren schon einmal war: Nach seiner ersten Begegnung mit Angela liegt er im Bett und stellt fest, dass es ihm so vorkommt, als ob er 20 Jahre im Koma gelegen wäre und erst jetzt wieder aufwachen würde. Er will also an sein Leben von damals wieder anknüpfen, kauft sich Drogen, hört die Musik von damals, betreibt Sport und so weiter.
Bei seiner Verwandlung muss er sich mehreren Prüfungen unterziehen, von denen er einige besteht, durch andere durchfällt. So sagt er seiner Frau Carolyn – die ihm beständig als Schwellenhüterin entgegen tritt – zum ersten Mal die Meinung, als sie ihn beim Onanieren unter der Bettdecke erwischt: „Ich habe mich verändert…mein neues Ich holt sich einen runter“. Hier testet er zum ersten Mal sein neues Ich und stellt fest, dass es ihm gefällt. Als Carolyn ihn später jedoch beim Hantelstemmen und Kiffen erwischt, behält sie wieder das letzte Wort – Lester hat diese Prüfung nicht bestanden. Auf dem weiteren Weg seiner neuen Ich-Werdung kündigt Lester seinen Job und sucht sich einen neuen als Burgerwender in einem Fast-Food-Restaurant. Damit ist die Phase der Prüfungen abgeschlossen und Lester nähert sich der tiefsten Höhle und der entscheidenden Prüfung.
7. Annäherung an die tiefste Höhle
Nachdem die Hauptfigur die Regeln der neuen Welt kennt, sich bestimmte Fähigkeiten und ein bestimmtes Wissen angeeignet hat, zieht sie weiter an einen Ort, an dem sie die entscheidende Prüfung zu bewältigen hat. Dies ist der für sie gefährlichste Ort in der anderen Welt bzw. sie nähert sich der für ihn bisher gefährlichsten Situation an. Oft handelt es sich hier um das Hauptquartier der antagonistischen Kraft.
Die Annäherung kann auch eine Phase der Vorbereitung auf die große Auseinandersetzung sein, beispielsweise indem die Hauptfigur seine Waffen kontrolliert, einen Plan schmiedet, sich noch einmal ausruht. Oftmals begegnet sie hier wieder Schwellenhütern.
In MATRIX beginnt die Annäherung nach dem Besuch bei dem Orakel. Cypher – der Gestaltwandler, der sich vom einst Vertrauten zum Verräter entwickelt – hat Neo und den anderen eine Falle gestellt, in der sich Morpheus für Neo opfert und von den Agenten gefangen genommen wird, und bis auf Neo und Trinity alle anderen Begleiter ums Leben kommen. Nachdem Cypher von dem schwerverletzten Operator Tank auf dem Mutterschiff Nebuchadnezzar außer Gefecht gesetzt wird, können Neo und Trinity aus der Matrix fliehen. Tank weiß, dass die Agenten von Morpehus den Code von Zion – dem Zentralrechner der Widerstandsbewegung – wollen, mit dem sie den Aufstand endgültig niederschlagen können, und dass Morpheus ihnen nicht wird standhalten können. Er will ihn deshalb töten. Neo, der zwar immer noch nicht glaubt, dass er der Auserwählte ist, aber dennoch davon überzeugt ist, Morpheus retten zu können, geht zurück in die Matrix. Hier beginnt die Annäherung an die tiefste Höhle. Trinity begleitet ihn. Schwer bewaffnet schießen sie sich den Weg auf das Dach des Hauptquartiers der Agenten frei, wo es zur entscheidenden Prüfung für Neo kommt.
In AMERICAN BEAUTY gibt es keine ähnlich lange und eindeutige Annäherung an die tiefste Höhle. Nachdem Lester mit seiner Kündigung und seinem neuen Job in einem Fastfood-Restaurant seine letzte Prüfung bestanden hat und wieder sein Leben von vor 20 Jahren führt, macht er sich direkt auf den Weg in die entscheidende Prüfung – dem Gespräch mit seiner Frau Carolyn.
8. Entscheidende Prüfung – Beweis der Veränderung
In der entscheidenden Prüfung geht es um den symbolischen Tod des alten Ichs der Hauptfigur – des Ichs aus der gewohnten Welt – und um ihre symbolische Wiedergeburt als neuer Mensch. Die Hauptfigur muss beweisen, dass sie die Fähigkeiten und das Wissen, das sie sich bisher angeeignet hat, auch richtig anwenden kann. Sie wird mit ihrer größten Angst konfrontiert und muss ihre negativen Aspekte ablegen. Oftmals tritt sie hier dem gegenüber, was sie am meisten fürchtet. Besteht sie diese – deshalb auch als „entscheidende“ Prüfung bezeichnete – Prüfung nicht, war alles umsonst. Besteht sie sie, wird sie als neuer Mensch wiedergeboren. Dieses Stadium ist eine entscheidende Wendung für die Hauptfigur und die Geschichte.
Entscheidende Prüfung: Das alte Ich stirbt, das neue Ich wird geboren.
In MATRIX gelingt es Neo zum ersten Mal, sich so schnell zu bewegen, dass er den Kugeln eines Agenten ausweichen kann. Er ist damit zu einem neuen Menschen geworden, auch wenn er immer noch nicht glaubt, dass er der Auserwählte ist.
In AMERICAN BEAUTY flippt Lesters Frau Carolyn total aus, als sie davon erfährt, dass Lester gekündigt und sich damit auch seiner letzten, nämlich der finanziellen Verantwortung für die Familie komplett entzogen hat. Doch Lester lässt sich von ihr nichts mehr sagen, wirft den Spargelteller an die Wand und bringt Carolyn damit nicht nur zum Schweigen, sondern kündigt auch noch an, dass er ab sofort die Musikauswahl während des Essens bestimmen wird, was bisher die unangetastete Domäne Carolyns war. Würde Lester hier wieder kuschen – so wie er es in der gleichen Situation am Anfang der Geschichte getan hat – würde er die entscheidende Prüfung nicht bestehen und seine Reise wäre zu Ende.
9. Belohnung – Anerkennung für die Veränderung
Nachdem der Held die entscheidende Prüfung gemeistert hat, nimmt er seine Belohnung in Besitz. Das kann ein bestimmtes Wissen sein; eine Selbsterkenntnis, beispielsweise darüber, wer er eigentlich ist und welchen Platz er in der Ordnung der Dinge einnimmt; eine Fähigkeit; bestimmte Erfahrungen, die ihn zu einem tieferen Verständnis führen oder ein bestimmter Gegenstand, dessentwegen er aufgebrochen ist.
In MATRIX ist die Belohnung Morpheus´ Befreiung aus den Händen der Agenten. In AMERICAN BEAUTY kauft sich Lester den Sportwagen, von dem er vor 20 Jahren schon geträumt hat.
10. Rückweg – Bewährung des neuen Ichs
In der zehnten und elften Station wird die Hauptfigur getestet, ob ihre Charakterentwicklung nachhaltig ist. Sie muss beweisen, dass ihr neues Ich keine einmalige Angelegenheit war. Dazu muss sie sie in der elften Station für die Gemeinschaft einsetzen und ihre Bereitschaft zur Selbstaufopferung für die Gemeinschaft zeigen. Erst dann – durch die Bereitschaft zur Selbstaufopferung für die Gemeinschaft – wird die Hauptfigur zum Helden.
Nachdem die Hauptfigur ihre Belohnung in Besitz genommen hat, macht sie sich auf den Rückweg. Noch hat sie ihre Reise also nicht beendet. Sie muss nun nämlich noch unter Beweis stellen, dass die Veränderung, die sie bisher gemacht hat, von Bestand ist. Da die antagonistische Kraft jedoch noch nicht endgültig besiegt ist, rafft sie sich wieder auf, verfolgt und bedrängt die Hauptfigur und holt zu einem großen letzten Gegenschlag aus.
Rückweg: Das neue Ich muss sich bewähren.
In MATRIX gelingt Trinity und Morpheus die Flucht auf die Nebuchadnezzar. Neo bleibt zurück und muss sich einem Agenten stellen. Im letzten Moment, kurz bevor er von einer heran rasenden U-Bahn zermatscht wird, glaubt Neo nun endlich an sich selbst, kann sich gerade noch retten und flieht. Der Agent ist ihm jedoch noch immer auf den Fersen und stellt ihn in dem Hotelzimmer, in dem das Telefon steht, mit dem Neo aus der Matrix entkommen kann. Er erschießt Neo. Trinity und Morpheus können es nicht glauben, da sie immer noch überzeugt sind, dass Neo der Auserwählte ist.
In AMERICAN BEAUTY lebt Lester sein neues Ich und fühlt sich wohl dabei. Selbst als er Carolyn mit ihrem Geliebten Buddy erwischt, bleibt er gelassen und sagt er, dass er will, dass sie glücklich ist. Er lebt sein Leben wie vor 20 Jahren – nur eins fehlt ihm noch: Sex mit einem jungen Mädchen, Sex mit Angela. Diese Möglichkeit bietet sich ihm, als Angela wieder bei seiner Tochter übernachtet, die Beiden sich heftig streiten, Lester Angela im Wohnzimmer begegnet und sie ihm unmissverständlich signalisiert, dass sie mit ihm schlafen will.
11. Auferstehung – erneute und endgültige Veränderung
In einer allerletzten Prüfung – einer Art Abschlussprüfung – muss die Hauptfigur nun beweisen, dass sie sich nachhaltig verändert hat. Erst dann darf sie in die gewohnte Welt zurückkehren. Mit dieser letzten Abschlussprüfung verwandelt sie sich erneut, dieses Mal endgültig.
Oftmals muss sich die Hauptfigur hier zwischen zwei verschiedenen Möglichkeiten entscheiden. Daraus lässt sich ersehen, ob sie ihre Wandlung wirklich vollzogen hat, indem sie ihre wahren Werte zeigt: Wird sie wieder die alten Fehler begehen oder spiegelt ihre Entscheidung den neuen Menschen wider, zu dem sie geworden ist?
Auferstehung: Die Hauptfigur heilt endgültig ihre letzte zerstörte Funktion.
Ein zentrales Element der Heldenreise und der Charakterentwicklung der Hauptfigur ist ihre Bereitschaft zur Selbstaufopferung. Sie darf ihre neu erworbenen Fähigkeiten nicht für sich behalten, sondern muss sie für die Gemeinschaft einsetzen, selbst wenn das bedeutet, dass sie sich für die Gemeinschaft opfern muss. Oftmals handelt es sich deshalb hier um einen weiteren Augenblick, in dem es um Leben und Tod geht – physisch, mental, emotional, seelisch. Die antagonistische Kraft holt zu einem letzten Schlag aus, ehe sie endgültig besiegt wird.
Erst wenn die Hauptfigur ihre Bereitschaft zur Selbstaufopferung für die Gemeinschaft zeigt, hat sie sich die Auszeichnung „Held“ verdient, ist sie zu einem wirklichen Helden geworden.
In MATRIX ist es die – eher behauptete als erzählte – Liebe von Trinity, die Neo im wörtlichen Sinne auferstehen lässt. Jetzt hat er sich endgültig gewandelt und ist in der Lage, die Matrix zu erkennen und die Agenten zu besiegen.
In AMERICAN BEAUTY verzichtet Lester darauf, mit Angela zu schlafen, als sie ihm sagt, dass sie noch Jungfrau ist. Er hat sich hier endgültig gewandelt, ist bei sich angekommen und nach dem Irrweg der Regression endlich authentisch. Er hat nun auch sein Herz endgültig geheilt und seine Vaterliebe wiedergefunden.
12. Rückkehr
Nun kehrt der Held in seine gewohnte Welt zurück. Seine Reise wäre jedoch sinnlos gewesen, hätte er nicht aus der anderen Welt ein Elixier, einen Schatz oder neu erworbenes Wissen, Liebe, Freiheit oder Weisheit mitgebracht.
Rückkehr: Die Hauptfigur befindet sich wieder in ihrem ursprünglichen Seinszustand der Ganzheit.
Nachdem Neo in MATRIX einen Agenten zerstört und die beiden anderen in die Flucht geschlagen hat, schafft er es im letzten Moment, auf die Nebuchadnezzar zu kommen, bevor Morpheus das EMP aktivieren muss, um die eindringenden Squiddies zu zerstören. Am Ende kündigt er an, die Matrix zu zerstören – und damit die Gemeinschaft der Menschen zu retten – und fliegt von dannen.
Nachdem Lester in AMERICAN BEAUTY Angela mit einer Decke und etwas zu Essen versorgt hat, fragt er sie, wie es seiner Tochter Jane geht, mit der er noch am selben Abend eine Auseinandersetzung hatte, in der er ihr vorwarf, dass sie aufpassen solle, nicht ebenso eine hysterische blöde Kuh zu werden wie ihre Mutter. Als Angela ihm sagt, dass sie glücklich ist und glaubt, verliebt zu sein, lächelt Lester. Er setzt sich an den Tisch und betrachtet sehnsüchtig ein Familienfoto aus glücklichen Zeiten.
Indem er darauf verzichtet, mit Angela zu schlafen, opfert er sein Leben wie vor 20 Jahren dem Wohle seiner Familie. Er befindet sich auf dem Rückweg zu ihr, von der er sich im Laufe der Geschichte noch weiter entfernt hatte als er es am Anfang bereits war. Auf seinem weiteren Rückweg würde er vermutlich versuchen, sich mit Jane und Carolyn zu versöhnen, er würde sehr wahrscheinlich wieder Verantwortung für die Familie übernehmen und sich einen neuen, verantwortungsvolleren und besser bezahlten Job suchen – wenn er nicht erschossen werden würde.