Die Heldenreise – Teil 2: Die Zerstörung der ursprünglichen Ganzheit

Die zwölf Stationen der Heldenreise beschreiben die Charakterentwicklung der Hauptfigur. Sie ist eine Reise hin zu sich selbst, auf der die Hauptfigur den zerstörten ursprünglichen Seinszustand der Ganzheit wieder herstellt. Heldenreisen erzählen damit also Geschichten der Heilung eines verletzten Ichs. Sie lässt sich in fünf Phasen einteilen:

die Welt des alten Ichs als Verlust der Ganzheit – die Veränderung des alten Ichs – der Tod des alten und die Geburt des neuen Ichs – die Bewährung des neuen Ichs – die Wiederherstellung der Ganzheit

Heldenreisen erzählen von der Heilung einer verletzten Person.

Überblick

In den ersten fünf Stationen agiert das alte Ich der Hauptfigur: Die gewohnte Welt, der Alltag der Hauptfigur, ist die Welt des alten Ichs. Auf seine eigene Weise ist diese Welt in einem Gleichgewicht. Zugleich ist deutlich, dass mit der Hauptfigur etwas nicht stimmt: Sie befindet sich nicht im ursprünglichen Seinszustand der Ganzheit, da eine ihrer Funktionen Körper, Geist, Seele oder Herz zerstört ist. Der Ruf des Abenteuers als Störung der gewohnten Welt ist ein Hinweis darauf, dass sie sich verändern muss, eine Erinnerung an die zerstörte Funktion. Ihr altes Ich will jedoch nicht an die Verletzung erinnert werden und sich nicht verändern. Es will weiter das Sagen haben, denn seine Überlebensstrategie hat der Hauptfigur bislang ja auch immer das Leben gerettet. Also weigert sich die Hauptfigur, dem Ruf zu folgen bzw. die Störung als solche zu erkennen. Doch dieses Mal ist die Überlebensstrategie des alten Ichs nicht erfolgreich. Die Hauptfigur verliert die Kontrolle über ihr Leben, das immer mehr aus dem Gleichgewicht gerät. Es gelingt ihr nicht, das alte Gleichgewicht der gewohnten Welt wieder herzustellen. Trotzdem ist sie immer noch nicht bereit, die Reise anzutreten und sich auf eine Veränderung einzulassen. Dafür braucht sie die Unterstützung eines Mentors oder einer Mentorin. In der Begegnung mit ihm bzw. ihr wird die Hauptfigur auf die notwendige Veränderung vorbereitet.

Mit dem Überschreiten der ersten Schwelle begibt sie sich in eine neue Welt, mit dem Ziel, ein harmonisches Gleichgewicht wieder herzustellen. Dass sie dabei ihre Persönlichkeit verändern wird und am Ende irgendwo rauskommt wo sie gar nicht hinwollte – nämlich in der ursprünglichen Ganzheit – ist ihr nicht bewusst.

Mit der sechsten Station – den Prüfungen – beginnt der Entwicklungsprozess der Hauptfigur. Das alte Ich verändert sich nach und nach. Die zerstörten Funktionen werden geheilt. Noch wurde das verwandelte alte Ich aber keiner Probe unterworfen, musste sich die Hauptfigur nicht der größten antagonistischen Kraft – ihrer eigenen Angst – stellen. Diese Probe steht irgendwann bevor, und zwar in der tiefsten Höhle. In der Annäherung an die tiefste Höhle bereitet sich die Hauptfigur auf die große Auseinandersetzung mit der antagonistischen Kraft vor.

Diese Auseinandersetzung findet in der achten Station statt. Sie ist eine entscheidende Prüfung: Besteht die Hauptfigur diese Prüfung nicht, ist ihre Reise vorbei. Hier geht es um alles, sie wird mit ihrer größten Angst konfrontiert und droht zu sterben – physisch, emotional, seelisch oder mental. Sie überlebt jedoch, indem sie beweist, dass sie das, was sie in den Prüfungen der sechsten Station gelernt hat, auch tatsächlich beherrscht, es „verinnerlicht“ hat und ihre größte Angst überwinden kann. Diese Verinnerlichung lässt das alte Ich zusammenbrechen und das neue Ich die Oberhand gewinnen. Das alte Ich, dessen Angst sich in den antagonistischen Kräften – den Schatten, Gestaltwandlern, Schwellenhütern – widerspiegelt, ist jedoch noch nicht endgültig überwunden, die Funktionen sind noch nicht geheilt, die Ganzheit noch nicht wieder hergestellt.

Nachdem die Hauptfigur in der neunten Station eine Belohnung erhalten hat, wird ihr neues Ich auf ihrem Rückweg in weiteren Auseinandersetzungen mit der antagonistischen Kraft Bewährungsproben unterworfen. Noch ist ihre Charakterentwicklung nicht endgültig abgeschlossen, noch besteht die Gefahr, dass ihr altes Ich die Oberhand zurückgewinnt.

Am Ende der Reise hat die Figur den ursprünglichen Seinszustand der Ganzheit wieder hergestellt.

Erst in der elften Station – der Auferstehung – wird ihre Charakterentwicklung endgültig zum Abschluss gebracht. Ihre Verletzungen werden geheilt, alle vier Funktionen funktionieren wieder, der ursprüngliche Seinszustand der Ganzheit ist wieder hergestellt. Hier geht es noch einmal um alles, ihr altes Ich startet den letzten und größten Angriff, um wieder in seine alte Position zu kommen. Besteht die Hauptfigur hier nicht, war alles vergebens. Aber natürlich besteht sie und indem sie die antagonistische Kraft – und damit ihr altes Ich – endgültig besiegt, erfährt sie ihre Auferstehung als neuer – geheilter – Mensch.

Die zwölfte Station – die Rückkehr – ist nicht primär geografisch zu verstehen. Sie zeigt vielmehr, dass die Hauptfigur wieder zu sich selbst zurückgekehrt ist, dass sie geheilt ist und den ursprünglichen Seinszustand der Ganzheit der Funktionen Körper, Geist, Seele und Herz wieder hergestellt hat.

Die vierseitige Ganzheit des Menschen

Joachim Hammann beschreibt in seinem Buch Die Heldenreise im Film sehr ausführlich die vier Funktionen eines Menschen, ihre Zerstörung und ihre Heilung. Wer sich detailliert damit auseinandersetzen will, der oder dem sei dieses Buch empfohlen. In den folgenden Zeilen werde ich wichtige Punkte wiedergeben:

Die ursprüngliche menschliche Ganzheit besteht aus vier Wesenheiten:

Körper: die Funktion der Willens- und Handlungskraft – Stärke, Aktivität

Geist: die Funktion des Denkens – Logik, Planen

Herz: die emotionale Funktion – Gefühle, Werte

Seele: die spirituelle oder psychologische Funktion – Lebendigkeit, Kreativität, Authentizität

Die elementare Idee der vier Funktionen ist in ihrer Bedeutung für ein adäquates Verstehen der Heldenreise nicht zu unterschätzen.

Die ursprüngliche menschliche Ganzheit besteht aus vier Wesenheiten: Körper, Geist, Seele und Herz.

Eine der vier Funktionen des Helden wird zerstört

Im „paradiesischen Zustand“ sind die vier Funktionen heil – der Mensch ist „ganz“. Vertrieben wird er, als böse, zerstörerische Kräfte ihm den Geist, das Herz oder die Seele rauben, oder seinen Körper zerstören und so die vierseitige Vollständigkeit aufbrechen: Der Mensch wird verletzt und unvollständig. Zugleich wird die unbewusste Sehnsucht nach einer Rückkehr in den paradiesischen Zustand zum Leben erweckt, die ihn letztlich bei allem, was er tut, antreibt.

Inferiore und superiore Funktion

Bei der Zerstörung einer der vier Funktionen werden auch die drei anderen in Mitleidenschaft gezogen: eine wird zerstört, zwei werden beeinträchtigt, eine überlebt typischerweise irgendwie. Die zerstörte Funktion wird C.G. Jung folgend die inferiore Funktion genannt, die überlebende ist die superiore Funktion.

Wird die inferiore Funktion wieder eingegliedert, gesunden auch die drei anderen Funktionen und die Hauptfigur erlangt wieder ihre ursprüngliche vierseitige Ganzheit. Diese Funktion zu heilen ist jedoch am schwersten, da sie die am weitesten in das Dunkel der Vergangenheit geschobene, am gründlichsten Vergessene und Verdrängte und am stärksten mit Angst und Verleugnung besetzte Funktion ist.

Wie können die Verletzungen der Funktionen erzählt werden?

Die physische oder Willensfunktion des Helden wird zerstört: sein Körper

Ein körperliches Trauma kann die Funktion der Handlungs- und Willenskraft nachhaltig schädigen. In Sleepers werden vier jugendliche Straftäter von einem sadistischen Wärter gefoltert und missbraucht. In MARY REILY wird ein junges Mädchen von ihrem Vater sadistisch misshandelt und in einen Verschlag mit Ratten eingesperrt. In GEBOREN AM 4. JULI kehrt die Hauptfigur schwer verwundet und verstümmelt aus dem Krieg zurück. Auch in Filmen wie DER ELEFANTENMENSCH, Mein linker Fuß, DER GLÖCKNER VON NOTRE-DAME, Das Phantom der Oper und Die Maske ist das Thema die Zerstörung der Ganzheit des Körpers.

Ein körperliches Trauma schädigt die Handlungs- und Willenskraft der Hauptfigur.

Symptome einer zerstörten Willens- und Handlungsfunktion

Die zerstörte Willens- und Handlungsfunktion kann sich darin ausdrücken, dass die Hauptfigur eine niedere, demütigende, lächerliche oder würdelose Tätigkeit ausübt. Rocky arbeitet für einen miesen Kredithai, in Good will hunting muss das Mathegenie als Putzkraft arbeiten.

Die Hauptfigur kann aber auch ein hoffnungsloser Fall und schwerer Alkoholiker sein (THE VERDICT), sie kann sich selbst für einen Verlierer und Schwächling halten (EINE GANZ NORMALE FAMILIE), aber nach außen so tun, als ob alles großartig um ihn bestellt sei.

Die gestörte Körperfunktion muss nicht wie eine Schwäche aussehen, sondern kann auch als (Pseudo-) Stärke daherkommen, als Angeberei, Dummstolz, Arroganz, Ruhmsucht oder Machtstreben. Sie kann sich außerdem als kriminelle Energie und rücksichtsloses Streben nach Besitz und Macht äußern.

Ein körperliches Trauma manifestiert sich als Schwäche oder Angst, also einem Mangel an Stärke und Mut. Stärke und Mut bzw. Schwäche und Angst sind immer auf die Funktion des Körpers – der Handlungs- und Willenskraft – bezogen.

Die Denk- oder Erinnerungsfunktion des Helden wird zerstört: sein Geist

Eine Geisteskrankheit ist der offensichtlichste Ausdruck einer gestörten Denkfunktion. In A BEAUTIFUL MIND, KING GEORGE, Shine und ICH HAB´ DIR NIE EINEN ROSENGARTEN VERSPROCHEN geht es um den Kampf der Hauptfigur, ihre gesunde Denkfunktion wiederzugewinnen.

Die Traumatisierung der Denkfunktion kann dazu führen, dass die Hauptfigur Intellekt statt Klugheit, theoretisches Wissen statt Weisheit und Fachkompetenz statt wirklicher Kenntnisse besitzt: In DIE REISEN DES MR. LEARY schreibt die Hauptfigur Reiseführer, ohne selbst zu reisen.

Die Hauptfigur kann auch ein leichtgläubiger, naiver Einfaltspinsel sein. Oder sie ist ein großer Intellektueller und Akademiker, dabei aber engstirnig und kleingeistig.

Eine weitere Möglichkeit, in der sich eine gestörte Denkfunktion ausdrücken kann: Die Hauptfigur hat die Fähigkeit verloren, sich eine freie Meinung zu bilden und selbständig und unabhängig von Autoritäten zu denken.

Interessanterweise werden in Filmen, die Wahnsinn oder Besessenheit (DER EXORZIST) schildern, oft keine Ursachen für den Ausbruch der Geisteskrankheit genannt.

Blendung, Verdrängung, Amnesie

Blendung bedeutet vor allem die Zerstörung des Erinnerungsvermögens. Blendung heißt, dass man etwas nicht mehr sehen kann oder sehen will. Was der Mythos als Verblendung oder Blindheit bezeichnet, kann auch Verleugnung oder Amnesie genannt werden.

Amnesie ist eine Variante der großen Frage, die über jeder Heldenreise steht: Wer bin ich wirklich? Was ist damals passiert? Wer war ich einmal? (DIE 27. ETAGE, DIE BOURNE IDENTITÄT, ANGEL HEART, Memento)

Weil die Hauptfigur geblendet wurde, kann sie die Wahrheit über sich und ihre Vergangenheit nicht sehen oder sich nicht mehr erinnern, was wirklich passiert ist. Die Hauptfigur vergisst alles: das Paradies und die Vertreibung.

Da die Hauptfigur das Trauma verdrängt hat, sehen wir auch im Film ihre dunkle Vergangenheit oft nicht gleich zu Beginn, sondern verfolgen im Laufe des Films, wie sie aufgedeckt wird. Diese „Suchwanderung“ der Hauptfigur kann als die Geschichte einer Rätsellösung gelesen werden. Nur wenn sie die dunklen, verworrenen und unvollständigen Geschehnisse der Vergangenheit rekonstruiert, kann sie Glückseligkeit und Frieden finden.

Weil die Hauptfigur geblendet und dazu gebracht wurde, zu vergessen, akzeptiert sie den Zustand der Traumatisierung als den Zustand der Normalität.

Heilung der zerstörten Erinnerungsfunktion

Die in ihrer Erinnerungsfunktion traumatisierte Hauptfigur kann die Rückkehr ins Paradies nur schaffen, wenn sie lernt, sich an das zu erinnern, was passiert ist, und wenn sie den Beweis dafür findet, dass die tatsächliche Wahrheit des damaligen Geschehens völlig anders ist als die Lügenerzählungen, die der räuberische Dämon des Erinnerungsvermögens darüber verbreitet.

EIN OFFIZIER UND GENTLEMAN erzählt die Biografie der Hauptfigur ausführlich und zeigt, auf wie vielen Ebenen sie als Kind traumatisiert wurde: auf der körperlichen Ebene durch eine Bande kampfsporterprobter Jugendlicher, die ihn zusammenschlagen; sein Herz wird traumatisiert, als seine Mutter Selbstmord begeht, und von seinem Vater lernt er, dass alle Frauen Huren sind; seine Seele und sein Selbstwertgefühl nehmen Schaden, als er erkennen muss, dass sein Vater ein Schwächling und Versager ist, der es nie zu etwas bringen wird. Da sich der Held an alle diese Verletzungen erinnert, heißt das, dass zumindest eine seiner Funktionen noch intakt ist: die Funktionen des Denk- und Erinnerungsvermögens.

Ohne ein Erkennen der Blindheit gegenüber sich selbst ist eine Heldwerdung nicht möglich.

Blindheit der eigenen Unvollständigkeit gegenüber: Dummheit

Die Traumatisierung der Denkfunktion kann sich im Symptom der Dummheit zeigen. Ohne ein Erkennen der eigenen Dummheit, also der Blindheit gegenüber sich selbst, ist eine Heldwerdung nicht möglich: Selbstgefälligkeit, absolute Überzeugung von der Richtigkeit des eigenen Standpunkts sowie der Dummheit und Fehlerhaftigkeit aller anderen Menschen, Verachtung abweichender Meinungen etc.

Die Funktion des Gefühls, der Liebe und des Wertempfindens des Helden wird zerstört: sein Herz

Wie muss ein Trauma beschaffen sein, um das Herz der Hauptfigur zu brechen, um ihre Gefühls- und Liebesfunktion zur inferioren Funktion zu machen?

Die Hauptfigur verliert die Liebe ihres Lebens (Titanic); sie wird von ihrem Partner oder ihrer Partnerin betrogen und verlassen und dadurch gefühlsmäßig kalt, zum Zyniker und Frauenhasser (CASABLANCA); sie verliert einen Elternteil früh (DER KÖNIG DER LÖWEN, VERTRAUTER FEIND); sie verliert ein Kind (SOPHIES ENTSCHEIDUNG, WENN DIE GONDELN TRAUER TRAGEN); ihre Familie wird getötet (FINDET NEMO); Mutter oder Vater begehen Selbstmord (EIN OFFIZIER UND GENTLEMAN, THE GAME); ein Elternteil wird vor den Augen des Kindes umgebracht (VERTRAUTER FEIND).

Die Folge dieses Traumas ist, dass die Hauptfigur an gebrochenem Herzen leidet. Sie schneidet sich von ihrem Gefühl der Liebe ab und wird stattdessen von negativen Gefühlen und Verhaltensweisen beherrscht: paranoides Misstrauen, krankhafte Eifersucht, Verachtung des anderen Geschlechts, neurotische Partnerwahl, ständig scheiternde Beziehungen und die Unfähigkeit, Intimität und Nähe zuzulassen oder Gefühle zu äußern sind Symptome einer gestörten Herzfunktion.

Kein anderes Genre zeigt das Trauma, die daraus resultierende Zerrissenheit und Vereinzelung, Symptome wie Angst und Einsamkeit, romantische Träume und Sehnsüchte nach paradiesischer Einheit so eindrucksvoll wie Liebesfilme.

In guten Liebesfilmen geht es immer um die Durchleuchtung der gestörten Liebes- oder Gefühlsfunktion. Liebesfilme erzählen, wie Mann und Frau mit gegenseitiger Unterstützung ihr jeweiliges Thema überwinden, wieder lieben lernen und zueinander finden. Zunächst aber sind sie bestrebt, ihr Trauma voreinander zu verstecken. Sie zeigen sich nicht so, wie sie wirklich sind, sondern die Ich-Oberfläche einer „normalen“ Person. Früher oder später kommt der Augenblick der Wahrheit, und beide Seiten beginnen, an der Echtheit der Gefühle und der Authentizität der Person zu zweifeln, in die sie sich verliebt haben. Erst wenn sie es schaffen, sich so zu zeigen, wie sie wirklich sind, können sie ihr Trauma überwinden und sich der „wahren“ Liebe öffnen.

Andere Möglichkeiten, in denen sich eine zerstörte Herzfunktion zeigen kann: Eine Frau, deren Liebesfunktion traumatisiert wurde, kann in einer Beziehung kaum etwas anderes sehen als die Möglichkeit, einen Mann zu erniedrigen und lächerlich zu machen, und dies umso mehr, je verliebter der Mann ist. Da sie aufgrund der Traumatisierung ein niedriges Selbstwertgefühl hat, muss sie jeden Mann verachten, der etwas so Wertloses wie sie liebt.

Ein Mann, dessen Liebesfunktion gestört ist, kann nicht wirklich lieben; er sieht in einer Liebesbeziehung nur die Möglichkeit, die Frau zu verletzen, zu missbrauchen und zu zerstören. Er wird zum Casanova oder Frauenhasser, um sich an jeder Frau zu rächen, sofern es eine Frau war, die sein Unglück verschuldet hat. Oder er betrachtet Frauen nur als Objekte eines kurzen Vergnügens (CASABLANCA) oder erzeugt mit Witz und Sarkasmus und lockeren Sprüchen Distanz zwischen sich und seinen Gefühlen (UND TÄGLICH GRÜßT DAS MURMELTIER).

Die gestörte Liebesfunktion kann sich auch darin zeigen, dass die Hauptfigur schon seit Jahren als überzeugter und vermögender Junggeselle lebt (DER UNSICHTBARE DRITTE). Die demonstrativ zur Schau gestellte Freiheit und Unabhängigkeit ist aber nur der klägliche Versuch, zu verbergen, dass sie es nie geschafft hat, sich von der schrecklichen Mutter zu befreien, erwachsen zu werden und mit einer anderen Frau als der eigenen Mutter neu zu beginnen.

Ein gefühlsmäßig und in seiner Liebesfähigkeit beeinträchtigter Mann kann leicht das Opfer einer erotisch faszinierenden Frau werden, die ebenso traumatisiert, herzlos und eiskalt berechnend ist wie er (GEFÄHRLICHE BEGEGNUNG, WENN DER POSTMANN ZWEIMAL KLINGELT, Body Heat,FRAU OHNE GEWISSEN).

Wenn sich ein kranker Mann und eine kranke Frau zusammentun, kann daraus eine sadomasochistische Beziehung entstehen (NEUNEINHALB WOCHEN).

Wird die Hauptfigur traumatisiert, weil sie verlassen wurde, besteht das neue Paradies nicht darin, die andere Person wiederzubekommen, sondern darin, auf sie zu verzichten und eine Liebe zu entwickeln, die größer und umfassender ist als die einmal gelebte (CASABLANCA).

Ein gefühlsmäßig traumatisierter Held ist unfähig, sich emotional zu binden oder sich zu verlieben, weil das sein ursprüngliches Selbst aktivieren und ihn an den Raub seines Herzens erinnern würde. Was der Held deshalb tut, ist, sich in die falsche Person zu verlieben, eine, die ihn in Ruhe lässt, aber nicht glücklich macht. Sie wird seinem aktuellen, unvollständigen Ich schmeicheln, aber nichts dazu beitragen, dass er sein früheres, wahres Selbst wiederfindet.

Die Gefühlsfunktion als Funktion des Wertempfindens

Die Gefühlsfunktion ist auch die moralische und ethische Funktion des Wertempfindens – die Funktion, die uns spüren lässt, was anständig, human und richtig ist. Die Traumatisierung dieses Wertempfindens, des Gefühls für das Menschliche und Anständige, zeigt sich als Egoismus, Kälte, Herzlosigkeit, Immoralität.

Darum ist ein Mensch, dessen Herz gebrochen wurde, oft egozentrisch und voller (verstecktem) Hass auf andere. Er ist jemand, der kein Mitgefühl kennt, keinen Abstand zu anderen Menschen wahrt, eigentlich nur sich selbst und seine eigenen Werte kennt und sich selber zum Gesetz und Maß aller Dinge macht (GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN). Seine Hauptaufgabe besteht darin, zu lernen, wieder zu lieben – einen anderen Menschen als sich selbst.

Oder er ist gleichgültig und drückt beide Augen zu, um Korruption und Verbrechen nicht sehen zu müssen (COP LAND). Die Hauptaufgabe einer Figur mit gestörtem Wertempfinden ist, zu lernen, die wirklichen Werte wieder zu erkennen.

Die Funktion der Schöpferkraft und der Intuition des Helden wird zerstört: seine Seele

Wie kann das Trauma die Seele des Helden rauben? Wie kann seine spezifische Eigenheit, seine Authentizität zerstört werden? Wie kann der Held zu einem anderen gemacht werden, als er wirklich ist, so dass er schließlich unter einer Identitätsverwirrung leidet?

Die Funktion der Seele ist die reichste der vier Funktionen. Sie ist sowohl die psychische („psyche“ = die Seele) als auch die spirituelle, intuitive, spontane und kreative Funktion. Sie ist die Funktion der Ästhetik und Kunst, der Imagination und Fantasie, der Schöpferkraft und der Lebensenergie, der Zeugungskraft und damit des Lebens selbst.

Raub der Seele ist das Schlimmste, das einem Menschen passieren kann. Er bedeutet ein Austrocknen oder Einfrieren der Lebensenergie, eine Traumatisierung der Kreativität, der Spontaneität, der Fantasie, der Intuition, des Instinkts und der Selbstleitung von innen heraus.

Die Funktion der Seele ist auch die Funktion der Individualität, des ungeteilten Selbstseins. Ihre Traumatisierung bedeutet fast immer, dass der Hauptfigur nicht erlaubt wird, die zu werden, die sie ist oder die sie im Begriff war zu werden. Daran können die Eltern schuld sein, die Gesellschaft oder das Erziehungssystem. Die Mutter wollte ein Mädchen haben, bekommt aber einen Jungen. Sie lässt ihm die Haare lang wachsen und zieht ihm Rüschenhemdchen und Samtjäckchen an. Die Eltern bläuen ihm ein, dass seine Träume nichts wert sind. Seine Kreativität wird im Keim erstickt. Dadurch hat er das Ziel, sein wahres Selbst auszudrücken, verfehlt. Weil er nun Angst hat, bestraft zu werden, wenn er sein ursprüngliches, authentisches Selbst durchzusetzen versucht, nimmt er schließlich Abstand davon, sich für seine Neigungen und Überzeugungen einzusetzen. FLASHDANCE und BILLY ELLIOT erzählen von Figuren, die ihre gestörte Seelenfunktion wieder heilen.

Traumatisierung der Seele kann bedeuten, dass der Traum, den die Hauptfigur träumte, zerstört wird. Sie wollte Künstler werden, aber ihre Eltern lassen sie BWL studieren, weil sie die elterliche Firma übernehmen soll. In ZIMMER MIT AUSSICHT soll die Hauptfigur auf Wunsch ihrer Familie einen gesellschaftlich akzeptablen, aber für sie falschen Mann heiraten.

Die Hauptfigur kann seelisch so zerstört sein, dass sie ihrem wirklichen Wesen völlig entfremdet ist und es keine Heilung mehr für sie gibt: FALLING DOWN.

Je mehr die eigene Identität zerstört wurde, desto unnatürlicher wird das, wonach die Hauptfigur sucht und womit sie ihre innere Leere auszufüllen versucht, desto krankhaftere Wünsche produziert sie. Der Teufel kann erscheinen und das Versprechen machen, ihr all das zu geben, wonach sie sucht (IM AUFTRAG DES TEUFELS). Der traumatische Verlust der geliebten Tochter kann zur obsessiven Suche nach der dämonischen Macht führen, die das getan hat, so dass alles andere vernachlässigt wird (WENN DIE GONDELN TRAUER TRAGEN, DAS ZIMMER MEINES SOHNES).

Eine Störung der vierten Funktion kann sich als Depression äußern, als ein Resignieren am nicht mehr vorhandenen Sinn des Lebens, ein Getrenntsein von den Freuden des Lebens.

Sie kann bedeuten, dass die Hauptfigur zu sehr an ihren Eltern hängt, dass sie von einem der beiden oder von der (falschen) Erinnerung an einen Elternteil psychologisch in Gefangenschaft gehalten wird. Die Hauptfigur muss dann ihr authentisches Selbst bejahen und ihre Individualität verwirklichen, auch wenn das bedeutet, dass sie den Eltern wehtun muss.

Die vierte Funktion ist auch die Funktion der Spontaneität, des quirligen Lebens. Ihre Beeinträchtigung kann sich so äußern, dass die Hauptfigur unfähig ist, auf die Irritationen des Lebens spontan und adäquat zu reagieren. Ihre Reaktionen haben etwas Gezwungenes, Mechanisches, Stereotypes (The Game).

Die Geburt des Ich – die Maske der Pseudopersönlichkeit

Die neue, unvollständige, auf dem Trauma basierende und als Reaktion auf das Trauma entwickelte Persönlichkeit ist das Ich – im Gegensatz zum Selbst (des Paradieses). Die ursprüngliche Person wird eingetauscht für eine Scheinpersönlichkeit: Die neue Persönlichkeit der Hauptfigur nach dem Trauma ist eine falsche.

Auf das Trauma reagiert die Hauptfigur mit zwei Verhaltensmustern: Das eine ist rückwärts, das andere vorwärts gerichtet. Die rückwärts gerichtete Strategie besteht darin, alles zu leugnen: das Paradies und das einmal erlebte Gefühl der Glückseligkeit, die Existenz des Traumas. Wegen der Schwere der Verletzung will sie sich nicht mit dem Trauma auseinander setzen, weil das ja bedeuten würde, sich noch einmal, wenn auch nicht real, dann doch geistig und emotional, einem Ereignis zu stellen, von dem sie weiß, dass sie es ein zweites Mal kaum überleben kann. Darum wird es von dem noch schwachen, gerade erst im Entstehen begriffenen Ich verdrängt.

Auf das Trauma reagiert die Hauptfigur mit zwei Verhaltensmustern: einem rückwärtsgewandten und einem nach vorne gerichteten.

Die vorwärts gerichtete Strategie soll verhindern, dass die Hauptfigur noch einmal traumatisiert wird. Sie schwört sich, dass ihr das nie wieder passieren wird (siehe das „Mode-Need-Modell“). Sie wird keinen weiteren Schritt machen, sondern an dem, was sie ist – wozu sie gemacht wurde -, festhalten. Sie bleibt auf ihrem Lebensweg stehen und will die neue Seinsweise, die sich gerade gebildet hat, unter allen Umständen bewahren.

Die Hauptfigur will Sicherheit und Schutz. Sie will nicht frei, gefährlich, abenteuerlustig und neugierig, offen und unkonditioniert durchs Leben gehen. Durch diese selbst verordnete Einschränkung schafft sie die Grundlage für ihr zukünftiges Leid, sie schneidet sich von ihrem lebendigen Selbst ab und erfindet eine neue, künstliche, tote Persönlichkeit. Dazu muss sie permanent lügen (vor allem sich selbst belügen) und aufpassen, dass sie sich nicht als die zeigt, die sie ist, weil sie sonst, wie sie glaubt, ihre Zerstörung zugeben und sich ihrem Trauma stellen müsste.

Die Hauptfigur ist unglücklich, aber doch irgendwie zufrieden: Sie hat überlebt und scheint den Nachstellungen böser Kräfte erst einmal entkommen zu sein.

Das neue Ich ist eine Überlebensstrategie, ein ernster, spontaner und zunächst erfolgreicher Versuch der Lebensbewältigung. Aber die Hauptfigur muss einen hohen Preis dafür bezahlen: Sie verliert den Bezug zu sich selbst, zu ihrer Seele, ihrer Lebensenergie.

Diese Pseudopersönlichkeit hat nichts mehr mit dem ursprünglichen Selbst zu tun. Die Hauptfigur trägt eine Maske, hinter der ihr wahres Selbst verschwindet. Die Maske ist ein Schutzschild, das zum einen verhindern soll, dass sie noch einmal verletzt wird, und zum anderen dazu dienen soll, ihr wahres (traumatisiertes) Selbst zu verbergen: Die Hauptfigur spielt eine Rolle.

In VANILLA SKY trägt die Hauptfigur nach einem Autounfall eine Maske, um ihr entstelltes Gesicht zu verbergen. Aber sie trägt nicht nur eine Maske. Sie ist ein anderer Mensch geworden.

Heroische Qualität und inadäquates Verhalten der Hauptfigur

Ein Film, der unser Interesse für die Hauptfigur und unsere Neugier auf eine Lösung des Konfliktes wecken will, muss zwei wichtige Szenen enthalten: eine Szene, die zeigt, dass die Hauptfigur einmal ein Held war – im Sinne der ursprünglichen Ganzheit – und damit das Potenzial besitzt, wieder ein solcher zu werden; und eine Szene, die ihre innere Schwäche zeigt, die von einem bekannten oder unbekannten Trauma in der Vergangenheit herrührt. Diese potenzielle Heldenhaftigkeit und die fatale Unvollständigkeit der Hauptfigur (die zu einem inadäquaten Verhalten führt) braucht ein Film, damit er seine therapeutische, dramatische und kathartische Wirkung entfalten kann.

Die Hauptfigur hat eine heroische Qualität, verhält sich aber inadäquat.

Heroische Qualität

Auf der Ebene des Körpers, der Funktion der Willenskraft und des Handelns, kann sich die heroische Qualität als Furchtlosigkeit äußern (JÄGER DES VERLORENEN SCHATZES), als Willenskraft (BEVERLY HILLS COP), als Durchhaltevermögen (DER MARATHON-MANN), als Starrsinn (AUF KURZE DISTANZ) oder als standhafte Weigerung der Hauptfigur, selbst bei extremem Druck nachzugeben, wenn sie weiß, dass sie im Recht ist (FORGET PARIS).

Auf der Ebene des Geistes, der Denk- oder Erinnerungsfunktion, kann sich die heroische Qualität der Hauptfigur als Cleverness und Intelligenz äußern (WIE EIN LICHT IN DUNKLER NACHT), als die Fähigkeit, logisch zu denken (viele Krimis und Detektivfilme), oder als Wachsamkeit und Aufmerksamkeit (COP LAND).

Heroische Qualität: Die Hauptfigur war einmal ein Held und besitzt deshalb das Potenzial, wieder ein solcher zu werden.

Auf der Ebene des Herzen, der Liebes- und Gefühlsfunktion, kann sich die heroische Qualität als Vermögen, Nähe zuzulassen, äußern, als Beziehungsfähigkeit, Sensibilität und Zärtlichkeit, als romantische Ader, Mitgefühl und Wärme, als Altruismus, Großzügigkeit oder als intuitives Gefühl für das, was wahr und richtig ist (Wert-Empfinden). Wir sehen, woran die Hauptfigur glaubt, was ihre Werte sind, wofür sie sich einzusetzen bereit ist. Daran, wie sie etwas tut, erkennen wir, dass sie ein Mensch mit einem großen Herzen ist, ein guter Mensch, der liebevoll um seine Mitgeschöpfe besorgt ist (DER WOLF HETZT DIE MEUTE).

Auf der Ebene der Seele, der intuitiven oder kreativen Funktion, kann sich die heroische Qualität als Spontaneität äußern, als Einfallsreichtum, Fantasie, Erfindungsgeist, Originalität, Humor, Witz, innere Ruhe. Die heroische Qualität der vierten Funktion erscheint oft als begnadete Leichtigkeit: Die Hauptfigur findet mühelos eine Lösung, die sich einem normalen Menschen auch bei größter Anstrengung nicht erschlossen hätte (GOOD WILL HUNTING, A BEAUTIFUL MIND).

Das Besondere, das die Hauptfigur (aus der Vergangenheit) noch in sich hat, kann auch durch einen guten Menschen personifiziert werden, der ihr sehr nahesteht, beispielsweise durch ihre Mutter (FORREST GUMP) oder ihren Vater (MALCOLM X). Dieser gute Mensch ist die Personifizierung der besonderen charakterlichen Qualitäten der Hauptfigur, ihres vergessenen, aber immer noch existierenden früheren Selbst.

Inadäquates Verhalten

Das inadäquate Verhalten ist ein Symptom der Zerstörung einer der vier Funktionen. Nach der Darstellung des heroischen Potenzials drückt es die dunkle Seite der Hauptfigur aus: Sie ist nicht nur ein potenzieller Held, sondern hat noch nicht näher spezifizierte Probleme, die sie scheitern lassen können. Diese Szene erzählt, dass im Leben der Hauptfigur etwas fehlt: Die Hauptfigur, die eben als Mathematikgenie vorgestellt wurde, hat ein schweres psychisches Problem (GOOD WILL HUNTING).

Das inadäquate Verhalten ist ein Symptom der Zerstörung einer der vier Funktionen.

Das inadäquate Verhalten kann sich ganz einfach darin zeigen, dass die Hauptfigur unfähig ist, eine leichte Aufgabe zu lösen, die wir selbst mühelos bewältigen könnten. Oder sie legt ein der Situation völlig unangemessenes Verhalten an den Tag, sie reagiert übertrieben, ist nicht in der Lage, ihren Alltag zu bewältigen oder normal mit ihren Mitmenschen auszukommen – sie hat auffällige Verhaltensstörungen. Ted Kramer schafft es noch nicht einmal, Frühstück für seinen Sohn zu machen, weil ihn das in seiner neuen Rolle als alleinerziehender Vater überfordert (KRAMER GEGEN KRAMER).

In diesen beiden Szenen – derjenigen, die das heroische Potenzial und derjenigen, die das inadäquate Verhalten zeigt – drückt sich der Konflikt der Hauptfigur zwischen Selbst und Ich, Paradies und Ödland, Heldentum und Verlierertum aus.

Ein Kommentar

  1. Lydia Scherer-Ziegler

    Spricht mich alles sehr an und erinnert mich sehr an meine Ausbildung zur Psychosynthese-Begleiterin nach Roberto Assagioli und C.G.Jung
    Harald Reinhardt, mein Ausbilder, bietet in seinem Kölner Institut wirkliches Erleben einer Heldenreise in Form eines 7-Tage- Seminars : „Die Reise des Odysseus“ an.
    Diese Web-Seite werde ich mir merken, denn sie unterstützt mich bei der Auswahl meiner Filme.

    28. Februar 2016

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