Motivation ist eng mit Emotionen und Bedürfnissen verknüpft und dadurch notwendiger Bestandteil einer Erzählung. Motivation entsteht durch das Bedürfnis, Emotion entsteht durch die Befriedigung oder die Enttäuschung des Bedürfnisses.
Motivation ist auch eines der wichtigsten Elemente der Dramaturgie, zusammen mit der Anstrengung (Stärke des Protagonisten gegen Stärke des Antagonismus, wobei damit nicht physische Stärke gemeint sein soll, obwohl sie natürlich sehr visuell ist) und dem Einsatz. Warum diese und nicht andere Elemente wie Protagonist, Ziel, größte Angst, oder Struktur dazugehören habe ich schon öfter ausgeführt (z.B. hier und hier), ganz kurz: Diese drei Elemente beeinflussen das dramaturgische Gewicht, die Bedeutung einer Handlung für die Figur, und die anderen nicht.
In der Dramaturgie wird das Bedürfnis dem Ziel gegenübergestellt.
Darum soll es heute hier nicht gehen, doch: Motivation ist außerdem eines der wichtigsten Elemente in der Entwicklung von Videospielen. Im Film, Fernsehen, in der Literatur und bei allen Medien, die rezipiert werden sprechen wir kaum von der Motivation des Rezipienten, vielleicht findet sie ein wenig in den Überlegungen von Produzenten zum Thema Zielgruppe statt. In Videospielen, Gesellschaftsspielen, Medien, bei denen es nicht so sehr um Rezeption als viel mehr Partizipation geht, ist die Motivation des Teilnehmenden, die Spielermotivation eine der wichtigsten Überlegungen in der Entwicklung. Mehr dazu: Motiviert im Videospiel. (Und an dieser Stelle die Video-Empfehlung Extra Credits: The Skinner Box (YouTube).)
Wenn ich mich im Folgenden mit Motivation und verschiedenen Theorien befasse, dann tue ich das sehr unwissenschaftlich. Zum einen sind die Theorien, auf die ich mich beziehe selbst oft wissenschaftlich nicht bewiesen oder sogar widerlegt worden, zum anderen werde ich bunt philosophische, psychologische und soziologische Ideen vergleichen, verbinden und vermischen. Deshalb, weil ich es nicht besser kann, und deshalb, weil das okay ist, solange es uns weiterhilft. Und damit die echten Wissenschaftler auch noch was zu tun haben. Wer glaubt, dass er besser Bescheid weiß als ich, hat vermutlich recht, muss das aber erstmal mit einem Gastartikel beweisen.
Den Begriff Bedürfnis benutzen wir hier übrigens nicht im dramaturgischen Sinne. In der Dramaturgie wird das (unterbewusste) Bedürfnis dem (bewussten) Ziel einer Figur gegenübergestellt. Die Figur verfolgt ein Ziel und um es zu erreichen, ignoriert sie das Bedürfnis. Bis es bewusst wird, sich nicht mehr ignorieren lässt, und die Figur eine Entscheidung treffen muss: Zugunsten des Ziels (Tragödie) oder des Bedürfnisses (Komödie). Geld oder Liebe. Das Bedürfnis hier soll aber auch das beschreiben, dass die Figur zur Verfolgung seines Ziels motiviert. Desto besser das Ziel motiviert ist, desto größer ist der innere Konflikt zwischen Ziel und Bedürfnis, das Dilemma, das Drama.
Horror und Thriller bedienen sich physiologischer Bedrohung.
Die Bedürfnishierarchie (Wikipedia) von Abraham Maslow (Wikipedia) ist höchstwahrscheinlich bekannt. Sie sortiert Bedürfniskategorien in folgender Reihenfolge hintereinander, und zwar danach welche Bedürfnisse befriedigt sein müssen (zu einem gewissen Grad, nicht vollständig!), bevor andere Bedürfnisse empfunden oder berücksichtigt werden können: Physiologische Bedürfnisse, Sicherheitsbedürfnisse, soziale Bedürfnisse, Individualbedürfnisse, Selbstverwirklichung, und Transzendenz.
Irgendwo in dieser Reihe beginnt der Übergang zwischen zwei Gruppen von Bedürfnissen, die Henry Murray (Wikipedia) „viszerogen“, ungefähr vom Körper ausgehende, durch den Körper kommunizierte Bedürfnisse, und „psychogen“, in dieser Gegenüberstellung wohl von der Psyche ausgehende, durch die Psyche kommunizierte Bedürfnisse, nennt. Murray hat sich dann mit der zweiten Gruppe auseinandergesetzt, die auch für das Erzählen meist die wichtigere ist (Ausnahme zum Beispiel Cast Away). Wir werden später noch auf ihn zurückkommen.
Desto fortgeschrittener das Bedürfnis in Maslows Hierarchie ist, desto mehr ist Motivation und der Versuch das Bedürfnis zu befriedigen der sehr individuelle Ausdruck einer Person/einer Figur, ihres Charakters und ihrer Situation. Droht einer Figur der Tod, werden ihre physiologischen Bedürfnisse bedroht: Wir müssen die Figur nicht kennen um die Bedrohung verstehen und empfinden zu können. Horror und viele Thriller bedienen sich daran.
Wir können als Autoren Bedürfnisse verwenden, indem wir sie bedrohen.
Droht einer Figur der Arbeitsplatzverlust, kann das ihr Sicherheitsbedürfnis bedrohen, muss es aber nicht, je nach Charakter und Situation der Figur. Das wäre sicherlich schnell verständlich, auch ohne viel über die Figur zu wissen, jedoch nicht ohne sie gar nicht zu kennen. Denn vielleicht bedroht es „nur“ ihr soziales Bedürfnis, vielleicht „nur“ ihr Individualbedürfnis, und vielleicht bedroht es sie gar nicht. Und um das verstehen zu können, müssen wir die Figur kennen. Desto fortgeschrittener das Bedürfnis ist, desto besser müssen wir die Figur kennen um eine solche Bedrohung zu verstehen und zu empfinden.
Diese Beispiele dürfen nicht missverstanden werden: Bedürfnisse wirken nicht nur dann auf die Motivation, wenn sie aktiv bedroht werden, sondern dann, wenn sie nicht erfüllt sind, andere Bedürfnisse zu einem gewissen Grad schon. Wie im Beispiel der genannten Genres Horror und Thriller, die oft dadurch gekennzeichnet sind, dass der Antagonist die Handlung durch die Bedrohung voran treibt. So können wir als Autoren Bedürfnisse verwenden, indem wir sie durch den Antagonisten bedrohen.
Genauso kann eine Handlung aber auch durch die Möglichkeit der Befriedigung eines nächsten Bedürfnisses durch den Protagonisten angetrieben werden. Viele Geschichten funktionieren ja nicht darüber, dass dem Protagonisten etwas genommen wurde, sondern darüber, dass er mehr will, als er hat.
Motive messen, durch das Erzählen von Geschichten.
Apropos mehr wollen: Manche Bedürfnisse können vollends befriedigt werden, die Motivation dieses Bedürfnis weiter zu erfüllen nimmt dann ab. Wird das Bedürfnis über die Befriedigung hinaus „befriedigt“, kann das sogar negative Folgen haben, negative Emotionen bewirken. Das kennt die Volkswirtschaft seit Hermann Heinrich Gossen (Wikipedia) als das erste Gossensche Gesetz (Wikipedia). Bei anderen Bedürfnissen funktioniert diese Sättigung nicht. Das weiß B. F. Skinner (Wikipedia) in dem oben empfohlenen Video, das wusste auch Maslow, der die erste Gruppe von Bedürfnissen Defizitbedürfnisse, die zweite Wachstumsbedürfnisse nannte.
Zurück zu Henry Murray. Murray identifizierte eine ganze Menge von Bedürfnissen, ein Bedürfnissystem (Wikipedia (en)), zwischen denen sich der einzelne Mensch bewegt und je nach Persönlichkeit, kulturellem Hintergrund und Situation bestimmte Bedürfnisse stärker gewichtet als andere. Das „je nach Persönlichkeit“ ist etwas schwierig, weil sich bei Murray, so wie ich es bisher verstanden habe, die Persönlichkeit über diese Gewichtung definiert, also erst aus ihr heraus entsteht. In dieser Sammlung von Bedürfnissen gab es drei, die David McClelland (Wikipedia) in seiner Motivations- oder Bedürfnis-Theorie (Wikipedia (en)) weiterverwendete, die auch in der Managementlehre Anwendung findet: Das Bedürfnis nach Erfolg, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, und das Bedürfnis nach Macht.
Interessant ist dabei ist der Test, den Murray entwickelte, und McClelland später weiterentwickelte, um die Motive ihrer Probanden zu messen, also ihre Bedürfnis-Gewichtung festzustellen: Durch das Erzählen von Geschichten. In dem sogenannten Thematischen Auffassungstest (Wikipedia) wurden den Probanden Bilder gezeigt, zu denen sie spontan eine möglichst dramatische Geschichte erzählen sollten. Je nach der Charakterisierung des Helden der Geschichte und ihrer Aussage sollten Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Probanden gezogen werden.
Um eine Figur kennenzulernen, ist diese Methode einen Versuch wert!
Nachdem der Held der Erzählung identifiziert war, sollten seine Motive, Bestrebungen und Gefühle untersucht werden, und welchen Einfluss seine Umwelt auf ihn in der Geschichte nimmt. Aus diesem inneren Zugang des Helden zur Welt und dem äußeren Zugang der Welt zum Helden, verbunden mit dem Ausgang der Geschichte sollte bei der Auswertung das Thema der Geschichte verstanden werden. Danach wurde dann festgestellt, was das Erzählen von genau dieser Geschichte über den Probanden aussagt.
Dass wir als Autoren uns mit in unsere Geschichten geben und also auch über diese Geschichten identifiziert werden können, auch über unser eigenes Selbstverständnis hinaus, überrascht wohl nicht besonders. Dieser Test kann aber vielleicht auch eine Methode sein, unsere Figuren kennenzulernen. Hören wir doch mal mit dem Erzählen auf, und lassen unsere Figuren erzählen, spontan. Und werten das Ergebnis dann aus. Es ist vielleicht ein schwieriges Verfahren, und wohl kaum eines, dass sich nachkonstruieren lässt: Für diesen Plot brauche ich diese Figur, deswegen erzählt sie ihre Geschichte so. Das wird in diese Richtung nicht funktionieren. Aber wenn wir schon eine Figur haben, die wir näher kennenlernen wollen, ist dieser Test als Methode doch einen Versuch wert!
Zuletzt einen kurzen Ausflug zu unserem Artikel Das Ziel ist Persönlichkeitsstörung über Fritz Riemann (Wikipedia) und seine vier Bestrebungen. Die Ähnlichkeiten sind deutlich: Das Streben nach Nähe scheint eng mit Maslows Sozialbedürfnissen verbunden zu sein, das Streben nach Sicherheit offensichtlich mit Maslows Sicherheitsbedürfnissen. Auch Maslow brachte das Sicherheitsbedürfnis mit zwanghaften Persönlichkeitsstörungen in Verbindung.
Wenn wir in Extremen denken, ist der dramatische Bogen weit gespannt.
Ähnlich wie sich der Mensch in Murrays Bedürfnissystem zwischen den Bedürfnissen bewegt, je nach Gewichtung, ist der Mensch auch in Riemanns „Koordinatensystem“ der vier Bestrebungen beweglich. McClellands Bedürfnis nach Zugehörigkeit scheint wieder mit Riemanns Streben nach Nähe zusammenzuhängen, das Bedürfnis nach Macht vielleicht mit dem Streben nach Autonomie.
So wie es bei Riemann interessant ist, die jeweiligen Bestrebungen in ihrer Gegensätzlichkeit zu sehen, kann ich mir das gut auch bei den Bedürfnissen vorstellen. So wie es bei Riemann interessant ist, die jeweiligen Bestrebungen mit Persönlichkeitsstörungen zu verbinden, kann ein ähnlicher Umgang mit den Bedürfnissen eine Stoffentwicklung sehr bereichern. Wenn eine Erzählung von dem Versuch der Befriedigung eines Bedürfnisses handelt, ist das zu erreichende positive Extrem die Befriedigung, das negative Extrem die Enttäuschung weiterer Bedürfnisse (wie dem klassischen tragischen Tod). Wenn wir in solchen Extremen, wie auch Riemanns Persönlichkeitsstörungen (entschuldige, Fritz, so ist das nicht gemeint), denken, ist der dramatische Bogen weit gespannt und die Bedeutung für die Figuren groß.