Es ist spannend, Motivation dem Betrachter bis zum Schluss vorzuenthalten, wie das Tatmotiv im Krimi. Es ist spannend, sie so früh wie nur möglich zu vermitteln, wenn sie sich aus dem Einsatz speist und den Protagonisten zum Handeln zwingt. Sie zu kennen ist dann wichtig, für die Empathie und Identifikation des Betrachters – und dadurch für sein Interesse am Protagonisten und seiner Geschichte. So das Credo. Und ich glaube, daran ist etwas falsch.
Ich versuche, immer sehr vorsichtig mit solchen Behauptungen zu sein, weil doch all diese Überlegungen sich stetig verändernde Prozesse sind.
Eine dieser Behauptungen (derzeit für mich noch richtig) ist, dass nur Motivation, Anstrengung (Stärke des Antagonismus gegen Stärke des Protagonisten) und Einsatz die wichtigen Elemente der Dramaturgie sind. Andere Elemente, wie Protagonist/Figur, Ziel, größte Angst und Struktur sind identisch oder ergeben sich dann daraus, und erhöhen nicht das dramaturgische Gewicht der Handlung, die Bedeutung der Handlung für den Protagonisten. Und selbst Motivation und Einsatz könnte man vielleicht zusammenfassen, doch ich führe beide auf, denn mal ergibt sich die Motivation aus dem Einsatz (mir wurde etwas genommen, jetzt hole ich es mir zurück) und mal ergibt sich der Einsatz aus der Motivation (um das zu erreichen, bin ich bereit x einzusetzen).
Ein identischer Wissensstand mit der Figur, mit der der Betrachter sich identifizieren soll, ist wichtig, weil Voraussetzung dafür.
Wenn Motivation, Anstrengung und Einsatz die drei wichtigen Elemente der Dramaturgie sind, ist die Motivation wohl das wichtigste von ihnen. Ich kann mir eine Geschichte ohne Einsatz vorstellen: Bildschnitzer Steiner würde nichts verlieren, wenn er das gefährliche Skifliegen einfach sein ließe. Und trotzdem interessiert es mich sehr, warum jemand solche Anstrengungen auf sich nimmt und sich solchen Gefahren aussetzt; interessiert mich die Motivation. Und ich kann mir eine Geschichte ohne Anstrengung vorstellen, bei dem der Protagonist dennoch viel aus Spiel setzt, weil immer die Gefahr besteht auch an geringen Anstrengungen zu scheitern. Was also ist das für ein Mensch, der dennoch so viel setzt, was ist seine Motivation?
Vielleicht ist das nur meine Perspektive, aber in meinen Artikeln zur Dramaturgie schreibe ich scheinbar grundsätzlich über Motivation: Das Ziel ist Persönlichkeitsstörung („Es sind Bestrebungen und Ängste, die uns und die Figuren motivieren“) über Fritz Riemanns Persönlichkeitsmodell; Motiviert im Videospiel („Die Spielermotivation speist sich aus der Spielermotivation des Gegners“) über Wettbewerb im Spiel; und Struktur, Dramaturgie: und/oder (achja, und Liebe) („Wir lernen Figuren kennen und lieben, deren Schicksal uns betrifft. Und die selbst lieben“) über die Liebe des Betrachters als Grundlage seines Interesses an Protagonist und Geschichte, also als seine Motivation, die Geschichte zu erfahren.
Wenn aber die Motivation der Figuren so sehr interessant ist, warum zweifle ich dann diesen Satz an, das Wissen des Betrachters über die Motivation des Protagonisten sei Grundlage seiner Empathie und Identifikation? Nun, ein Teil davon ist richtig, ein anderer vielleicht nicht.
Natürlich ist ein identischer Wissensstand mit der Figur, mit der der Betrachter sich identifizieren soll, wichtig, weil Voraussetzung dafür. Und zu diesem Wissen gehört selbstverständlich auch das Wissen über die Motivation. Wenn wir nicht verstehen, warum jemand so handelt wie er handelt (vor allem im Schlechten, wenn er feige ist, oder andere Menschen verletzt; gute Taten akzeptieren wir auch weniger motiviert, weil Liebe), können wir uns nicht mit ihm identifizieren.
Empathie ist ein Akt des Forschens und Suchens, setzt Unwissenheit voraus.
Das gilt aber nicht für die Empathie des Betrachters, und ich habe zu oft gehört und gelesen, wie das mal eben gleichgesetzt wird. Empathie ist ein Akt des Forschens und Suchens, und setzt als solcher Unwissenheit voraus. Empathie bedeutet doch gerade, dass wir die Motivation des Menschen, mit dem wir empathisch sind, nicht kennen, und sie deswegen selbst erspüren müssen. Empathie und Identifikation schließen sich aus! Mit jemandem, mit dem ich identifiziert bin, brauche ich, nein kann ich nicht mehr empathisch sein.
Ist es nicht schade, dass ausbleibende Identifikation ein Ausschlusskriterium bei unserem Umgang mit Geschichten geworden ist? Ich glaube, dass es sehr wertvolle Erzählungen sein können, bei denen wir uns nicht mit dem Protagonisten identifizieren und die Geschichte durch ihn erleben, sondern ihn suchen und erforschen müssen, um ihn vielleicht zu verstehen. Denn während die erste Variante den Protagonisten zu uns selbst macht, macht die zweite Variante den Protagonisten zu einem der Menschen um uns herum. Zu all den Menschen, die wir nicht sind, die wir nicht kennen, über deren Motivation wir gar nichts wissen und nur mutmaßen können. Und bei denen dennoch unsere tägliche Aufgabe in dem Versuch besteht, sie zu trotzdem zu verstehen.
Danke für diese interessanten Gedanken.
„Ist es nicht schade, dass ausbleibende Identifikation ein Ausschlusskriterium bei unserem Umgang mit Geschichten geworden ist? “
Ist das tatsächlich so? Es gibt doch eine Menge Geschichten, ob in der Literatur oder im Film, wo wir uns als Rezipienten, Zuschauer, Leser nicht identifizieren sollen und schon gar nicht müssen. Die aber finden sich eher in der ernsteren Literatur oder auch in anspruchsvolleren Filmen. Aber eben nicht nur dort. In Komödien oder auch Animationsfilmen schaut man auf den Betrachter hinab, etwa in „Ich — einfach unverbesserlich“ identifiziert man sich nicht mit dem Protagonisten Gru. In manchen Komödien lacht man über den Protagonisten, will aber nicht unbedingt in seinen Schuhen stecken.
„Ich glaube, dass es sehr wertvolle Erzählungen sein können, bei denen wir uns nicht mit dem Protagonisten identifizieren und die Geschichte durch ihn erleben, sondern ihn suchen und erforschen müssen, um ihn vielleicht zu verstehen. “
Absolut :-)
Der Grund, weshalb so viel über die Identifikation gearbeitet wird: Sie ist die einfachste Möglichkeit, dem Zuschauer oder Leser ein emotional starkes Erlebnis zu verschaffen. Das geht auch anders, aber erfordert dann größere Meisterschaft von Seiten des Autors oder auch Regisseurs. Insofern ist es nur natürlich, dass die Identifikationsabsicht so beherrschend in vielen Geschichten ist.
Stephan Waldscheidt