Theorie tl;dr: Über Hitchcock und über ihn hinaus

Too long; didn’t read: Texte aus Drehbuch-, Film- und Welttheorie, kurz, knapp, bündig zusammengefasst und auf ihren Wert fürs filmschreiben hin geprüft. Heute der Essay Hitch as Matrix-Figure: Hitchcock and Twentieth-Century Cinema von John Orr.

Anmerkung: Für gewöhnlich erscheint Theorie tl;dr am Mittwoch. Entschuldigt bitte die Verspätung, scheinbar ist irgendetwas bei der Veröffentlichung gestern schief gegangen.

In 140 Zeichen (Was ist das?):

John Orr: #Hitchcock als Nadelöhr – was der Film vor ihm war, ging in ihn hinein; was der Film nach ihm ist, kommt aus ihm heraus. #Metapher — Arno (@filmschreiben) 3. Dezember 2014

In 50 Worten (Was ist das?): Hitchcock ist überall, ist eng verwoben mit dem, was Film war und ist (und sein wird?). Eine Matrix Figure, oder ein Nadelöhr, oder ein Stern. Seine Motive, thematisch und visuell sind sein Vermächtnis, beeinflussen Filmemacher jeder Nationalität, Generation und auch Qualität. Und letzteres sehr zum Ärger Orrs und anderer Hitchcock-Fans.

Die Erkenntnis: Hitchcock ist der Star des Films, des Filmemachens. Mindestens in einer geometrischen Metapher: Alles was der Film vorher war, ging in ihn hinein, alles was der Film nach ihm ist kommt aus ihm heraus. Ein Schnittpunkt vieler Strecken, wie ein Stern eben, *. Bei John Orr heißt diese Metapher „Matrix Figure“ und meint dasselbe. Ich behaupte, mein Stern ist da verständlicher, selbst das Nadelöhr ist es. (Frohes Metaphern-Brainstorming!)

Orr versucht eine beispielhafte Auflistung von Filmemachern aus Hollwood, Europa und auch Asien, die maßgeblich von Hitchcock beeinflusst sind, und schon diese wohl noch sehr willkürliche, fast spontane Liste ist überwältigend. Einige bewundert er dafür („Chabrol, Rohmer, Resnais, Polanski, Lynch, and Weir“), andere eher nicht („Brian DePalma […] cannibalized Rear Window“).

Während die einen ihre eigene künstlerische Idee um Hitchcock ergänzten, würden die anderen ganz auf die Idee verzichten und sie durch Hitchcock ersetzen. Daneben sind nicht nur Hitchcocks Motive (Geheimnis, Erinnerung, Spannung, Ambivalenz, Terror) Bestandteil seiner Filme, die man wohl kopieren kann, sondern auch die filmischen Qualitäten, darunter ein Respekt vor Wort und Bild, der sich nicht kopieren lässt.

Das Zitat:

Through his work so much of the entire life of Western cinema has been nurtured and dispersed. So much shock, so much suspense, so much montage, so much mystery, so much watching, so much doubling, so much disaster, so much redemption: it all goes back to him. Or rather, because it all precedes him, it all goes through him.

Von besonderem Interesse (I) ist vielleicht ein Gegenargument zu einer Behauptung im letzten Theorie tl;dr. Darin besprachen wir einen Text von Walter Murch, der überlegte, welcher Filmemacher wohl zu gern auf die Last der Kooperation verzichtet hätte um allein seine Vision des Filmes umzusetzen. Murch kommt auf Hitchcock, John Orr sagt aber:

In America Hitchcock found such lasting and creative collaborators in art director Robert Boyle, music composer Bernard Herrmann, costume designer Edith Head, cinematographer Robert Burks, and editor George Tomasini. All were treated as creative colleagues and as instruments of his cinematic design, all as invaluable specialists bringing texture and detail to his vision.

Von besonderem Interesse (II) ist vielleicht, wer denn nun in meiner Sternmetapher in Hitchcock hinein ging, wer ihn beeinflusste. Das führt uns auch zurück zu unserem Theorie tl;dr mit Sergej Eisenstein, der uns über die Montage zu Walter Murch führte, womit sich für uns ein kleiner Kreis schließt.

It was indeed varied: the surrealist impulse of Luis Buñuel and Salvador Dali countered by the montage aesthetics of Les Kuleshov and Sergei Eisenstein, and then the key inheritance of Weimar cinema, especially the work of Friedrich Wilhelm Murnau and Fritz Lang, that lasted throughout his professional life.

Von besonderem Interesse (III) ist vielleicht ein Konzept Hitchcocks für einen seiner letzten Filme, der bei seinen Produzenten aber auf Widerstand stieß: Kaleidoscope.

Hitchcock did want to update his filmic style, late in life, to absorb the European modernisms of the 1960s. […] A serial-killer story like the later Frenzy (and inspired by the life of British murderer Neville Heath), this was to be a location shoot with sequences featuring male and female nudity, natural light, experimental color, and handheld camera.

Gutes Schlusswort:

What shows through instead with this contagion of imitation is a time illusion of “progressive cinema,” of moving things one stage on for a new age and a new generation, an illusion of progress that masks a compulsion to repeat, a compulsion indeed that is often threadbare, an easy addiction in which “inspiration” is too easily an excuse for lacking vision.

John Orr: Hitch as Matrix-Figure: Hitchcock and Twentieth-Century Cinema. Im Hitchcock-Reader von Marshall Deutelbaum und Leland Peague (bei Google Books).

Schreibe einen Kommentar