Die emotionale Reise ist ein wunderbares dramaturgisches Werkzeug, um den langen und schwer zu entwickelnden Mittelteil einer Geschichte – die Konfliktaustragung im 2. Akt – aufzubauen. Sie unterscheidet sich von der kontinuierlichen Konfliktsteigerung, in der die Hauptfigur im 2. Akt mit immer größer werdenden Hindernissen konfrontiert wird, indem sie den 2. Akt in zwei Teile unterteilt: Hoffnung und Katastrophe. Der 2. Akt wird nun so aufgebaut, dass die Hauptfigur sich in einem Teil in der Hoffnung, im anderen Teil in der Katastrophe befindet. Der Wechsel zwischen diesen Phasen findet im zentralen Punkt statt, dem mid point, der so heißt, weil er ungefähr in der Mitte der Geschichte liegt. Ist die Hauptfigur also in der ersten Hälfte in der Hoffnung, gerät sie nach dem zentralen Punkt in der zweiten Hälfte in die Katastrophe. Befindet sie sich in der ersten Hälfte in der Katastrophe, kommt sie in der zweiten Hälfte in die Hoffnung.
Hoffnung und Katastrophe
Hoffnung bedeutet, dass es gut läuft für die Hauptfigur, dass sie sich ihrem Ziel annähert. An ihrem Ende kommt die Hauptfigur an den Hochpunkt. Alles scheint erreicht: Der Protagonist schläft zum ersten Mal mit der Person, die er liebt. Der Ermittler weiß, wer der Mörder ist. Die Betonung liegt auf „scheint“, denn noch ist das Ziel nicht endgültig erreicht: Für die geliebte Person war der Sex nur ein One-Night-Stand, sie will keine feste Beziehung mit dem Protagonisten und auch sonst keinen Kontakt mehr. Der Mörder ist abgetaucht oder hat jemanden entführt, um sich den Weg freizupressen.
Am Ende der Katastrophe gerät die Figur in ihren Tiefpunkt und erlebt ihren „symbolischen Tod“ und ihre „symbolische Wiedergeburt“.
Katastrophe bedeutet, dass es schlecht läuft für die Hauptfigur, sie entfernt sich von ihrem Ziel. Am Ende der Katastrophe gerät sie in den für ihre Charakterentwicklung wichtigen Tiefpunkt, der aus zwei Elementen besteht: dem symbolischen Tod und der symbolischen Wiedergeburt. Symbolischer Tod bedeutet: Alles scheint verloren – Die Hauptfigur wird mit ihrer größten Angst konfrontiert. Das Schlimmste, was ihr passieren kann, tritt ein: Sie sitzt gefesselt auf einem Stuhl mit einer Waffe am Kopf. Oder sie gibt auf, weil sie denkt, ihr Ziel niemals zu erreichen. Auch hier liegt die Betonung wieder auf „scheint“, denn natürlich ist noch nicht alles verloren. Vielmehr erlebt die Hauptfigur ihre symbolische Wiedergeburt: Sie kann sich von den Fesseln befreien und entkommen. Sie schöpft neuen Mut und gibt nicht auf, sondern kämpft weiter um ihr Ziel.
Mit der emotionalen Reise kann man den Handlungsverlauf entwickeln, die Charakterentwicklung der Hauptfigur entwerfen und die Beziehungsdynamik zwischen zwei Figuren gestalten.
Das Erzählmuster der emotionalen Reise lässt sich auf unterschiedliche Weisen anwenden: Man kann mit ihr den Handlungsverlauf entwickeln wie in „hard-boiled“-Krimis, man kann mit ihr die innere Reise und Charakterentwicklung entwerfen wie in dem Film Gegen die Wand und man kann mit ihr die Beziehungsdynamik zwischen zwei Figuren gestalten wie Rita will es endlich wissen:
Die emotionale Reise in „hard-boiled“-Krimis
Hard-boiled-Krimis wie beispielsweise von Dashiell Hammett, Raymond Chandler und Mickey Spillane mit ihren berühmten Detektiven Sam Spade, Philip Marlowe und Mike Hammer funktionieren sehr oft nach der emotionalen Reise:
Im ersten Akt wird der Detektiv eingeführt: Er sitzt in seinem Büro, hat kein Geld, die Füße auf dem Tisch und meistens ein Alkoholproblem. Im auslösenden Ereignis kommt jemand – oft eine Frau, eine femme fatal – und gibt ihm einen Auftrag. Wie reagiert er? Er weigert sich, lehnt den Auftrag häufig aus moralischen Gründen ab, obwohl er das Geld dringend braucht. Im zweiten Erzählabschnitt geschieht irgendetwas, das ihn dazu bewegt, im ersten Wendepunkt doch mit den Ermittlungen zu beginnen.
In der ersten Hälfte des 2. Aktes befindet er sich in der Katastrophe. Er schnüffelt überall herum, findet aber nichts heraus, er sticht in ein Wespennest, ohne es zu merken, legt sich mit den Mächtigen an, wird verfolgt, zusammen geschlagen, angeschossen, bis es im zentralen Punkt nicht mehr weiter zu gehen scheint: Er schwebt in Lebensgefahr oder er gibt auf und stellt die Ermittlungen ein. Schlimmer kann es nicht mehr kommen. Er befindet sich an seinem Tiefpunkt – symbolischer Tod. Alles scheint verloren.
Symbolischer Tod bedeutet: Alles scheint verloren.
Doch dann geschieht etwas, das ihn dazu veranlasst, weiter zu machen – symbolische Wiedergeburt. Jetzt – in der zweiten Hälfte des 2. Aktes – kommt er in der Hoffnung. Er schnüffelt weiter; findet neue Informationen, mit denen er nun etwas anfangen kann; gewinnt ein immer klareres Bild des Ganzen, bis er im zweiten Wendepunkt den Mörder enttarnt.
Im dritten Akt, dem fünften Erzählabschnitt, verfolgt er den Mörder, im Höhepunkt verhaftet er ihn. Der sechste Erzählabschnitt – der Epilog – zeigt, dass die Welt ein bisschen besser geworden ist – bis zum nächsten Mord.
Die emotionale Reise in Gegen die Wand
In typischen Hard-boiled-Krimis befindet sich die Hauptfigur also in der ersten Hälfte des 2. Aktes in der Katastrophe, in der zweiten Hälfte in der Hoffnung. Fatih Akins Film Gegen die Wand, der u.a. 2004 mit dem Goldenen Bären der Berlinale ausgezeichnet wurde, ist ein Beispiel für eine emotionale Reise, in der sich die Hauptfigur zuerst in der Hoffnung und dann in der Katastrophe befindet:
Erster Erzählabschnitt: Cahit (Birol Ünel), Ende 40, Säufer, depressiv, Selbstmordversuch. In einer psychiatrischen Klinik lernt er Sibel (Sibel Kekilli) kennen, 20, ebenfalls Selbstmordversuch. Im auslösenden Ereignis fragt Sibel Cahit, ob er sie heiraten will. Sie will eine Scheinehe mit ihm eingehen, um endlich ihrem strengen Elternhaus zu entkommen und ihr Leben selbstbestimmt zu führen und vor allem zu genießen. Cahits Reaktion: Warum sollte er sie heiraten, er hat gerade eben noch versucht, sein Leben zu beenden. Sibel gelingt es aber doch, ihn zu überreden. Erster Wendepunkt: Sie heiraten und ziehen zusammen, mit der klaren Absprache: Sie wohnen zusammen, aber sie leben nicht zusammen, also keine partnerschaftlichen Verpflichtungen, kein Sex.
Hochpunkt bedeutet: Alles scheint erreicht.
In der ersten Hälfte des zweiten Aktes genießt Sibel ihre Freiheit, sie ist unterwegs, feiert, hat wechselnde Liebhaber. Cahit ist in der Hoffnung: Durch Sibel bekommt sein Leben wieder Sinn, er entdeckt Freude am Leben, er verliebt sich in sie. Am Ende der Hoffnung – im zentralen Punkt – ist er kurz davor, sein Ziel zu erreichen: Hochpunkt – alles scheint erreicht. Er schläft mit Sibel und wünscht sich eine Beziehung. Sie will jedoch keine feste Beziehung, sondern so weiter leben wie bisher. Was sie auch macht. Und wodurch Cahit in die Katastrophe stürzt: In der zweiten Hälfte des zweiten Aktes kommt er immer weniger damit zurecht, dass Sibel wechselnde Liebhaber hat, er wird immer eifersüchtiger bis er im zweiten Wendepunkt einen ihrer Liebhaber erschlägt.
Das ist Cahits Tiefpunkt: Alles scheint verloren. Es sieht so aus, als ob die Beiden nie ein Paar werden könnten. Cahit wird verhaftet, die Scheinehe wird enttarnt, Sibel muss vor ihrer Familie in die Türkei fliehen, sagt Cahit aber noch, dass sie ihn liebt und auf ihn warten wird, Cahit wird zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Im dritten Akt erzählt die Geschichte weiter von Sibel in der Türkei: Sie nimmt Drogen, stürzt immer weiter ab, wird vergewaltigt und halb tot geschlagen, im letzten Moment jedoch von einem Taxifahrer gerettet. Mit ihm lebt sie die nächsten Jahre bis zu Cahits Entlassung zusammen und hat eine Tochter mit ihm.
Die Krise ist eine Dilemmasituation, in der sich die Hauptfigur zwischen zwei Werten entscheiden muss.
Cahit hat im Gefängnis seine Alkoholsucht überwunden und ist wieder gläubig geworden. Auf freiem Fuß macht er sich sofort auf den Weg in die Türkei. Er trifft sich mit Sibel und sie stellen fest, dass sie sich immer noch lieben. Cahit will mit Sibel ein neues Leben anfangen. Sibel entscheidet sich jedoch für ihren Mann und ihre Tochter. Cahit verlässt Istanbul. Er hat seine große Liebe verloren. Aber in seinem Blick wird deutlich, dass er seinen Frieden gefunden hat.
Die spiegelbildliche emotionale Reise in Rita will es endlich wissen
Rita will es endlich wissen (1983) ist ein britischer Spielfilm von Regisseur Lewis Gilbert nach dem Theaterstück Educating Rita von Willy Russell. Interessant ist diese Geschichte aus dramaturgischer Sicht unter anderem, weil sie zwei emotionale Reisen erzählt, die spiegelbildlich angelegt sind. Thematisch ist es eine Pygmalion-Geschichte, also die Geschichte eines Mentors und eines Schützlings (My Fair Lady ist der moderne Prototyp, Der Stadtneurotiker von Woody Allen ist ein typischer Vertreter): Frank (Michael Cane) ist ein versoffener, desillusionierter Literaturprofessor, der seine Studierenden und ihr intellektuelles Gewäsch hasst. In dem Projekt Open University soll er zudem Menschen ohne Hochschulzulassung einmal die Woche unterrichten, worauf er überhaupt keine Lust hat.
Im auslösenden Ereignis trifft er zum ersten Mal seine neue Studentin: Rita (Julie Walters), eine Friseurin mit losem Mundwerk, geringer Bildung, aber viel Ehrgeiz. Sie will lernen, weil sie wissen will, wer sie ist, bevor sie mit ihrem Ehemann eine Familie gründet. Frank lehnt sie zunächst ab. Doch Rita lässt sich nicht abwimmeln. Im ersten Wendepunkt beginnt Frank, sie doch zu unterrichten. Rita stürzt nun im dritten Erzählabschnitt in die Katastrophe: Sie bekommt immer mehr Ärger in ihrer alten Welt, mit ihrem Mann und ihrem Vater, die dagegen sind, dass sie liest und lernt. Frank hingegen kommt in die Hoffnung: Das Treffen mit Rita ist das Highlight in seiner Woche, er genießt ihre freie Art zu leben und ihren unbefangenen Umgang mit Literatur.
Pygmalion-Geschichten erzählen von der Emanzipation eines Schützlings von seinem Mentor.
Kennzeichnend für Pygmaliongeschichten ist, dass in der ersten Hälfte des zweiten Aktes der Mentor eine sehr große Macht über den Schützling hat und der Schützling glaubt, ohne den Beistand des Mentors nicht in der neuen Welt überleben zu können. Im typischen Verlauf der Geschichte des Schützlings betritt dieser die neue Welt, ohne seine alte ganz zu verlassen. Er fühlt sich in der neuen Welt noch nicht angekommen, während er immer mehr Probleme in der alten Welt bekommt: Die alte Welt will ihn nicht mehr. Der Schützling hängt zwischen beiden Welten, ist in keiner von ihnen mehr zuhause. Irgendwann wirft die alte Welt ihn raus, obwohl er in der neuen noch nicht wirklich angekommen ist.
So ergeht es auch Rita in ihrem zentralen Punkt: Sie wird zuhause rausgeworfen und ist an ihrem Tiefpunkt angelangt, an dem sie alles verloren und noch nichts gewonnen hat. Das ist ihr symbolischer Tod. Sie überlegt, ob sie ihr Studium abbrechen soll, weil sie daran zweifelt, jemals der Welt der Literatur und der Bildung angehören zu können. Ihre symbolische Wiedergeburt findet statt, als sie ein Zimmer bei einer exaltierten Frau mietet, die sie in Kontakt mit klassischer Musik bringt und sie ermuntert weiter zu studieren. Rita kommt in die Hoffnung: Sie findet sich in der neuen Welt immer besser zurecht. Zugleich braucht sie Frank immer weniger, sie bleibt ohne Ankündigung und Entschuldigung dem Unterricht mit ihm fern; sie informiert ihn nicht, dass sie einen neuen Job angenommen hat und so weiter. Am Ende der Hoffnung ist sie in der neuen Welt angekommen. Sie wird von den anderen Studierenden akzeptiert und sogar um Rat gefragt.
Franks Hoffnung in der ersten Hälfte des zweiten Aktes endet, als er Rita voller Vorfreude auf ihr Wiedersehen von einem mehrwöchigen Sommercamp abholt und feststellen muss, dass sie sich verändert hat. Sie raucht nicht mehr und den Dichter, den er ihr für das neue Semester vorschlägt, hat sie im Sommercamp bereits gelesen und kann ihn sogar auswendig. Dieser Beginn ihrer Emanzipation läutet Franks Katastrophe ein: Er kommt nicht damit zurecht, dass sich Rita von ihm abwendet. Er trinkt immer exzessiver, fällt im Unterricht negativ auf (beziehungsweise betrunken um) und wird abgemahnt.
Am Ende von Franks Katastrophe kommt es zum Bruch mit Rita: Völlig betrunken beleidigt er sie, nachdem sie ein Gedicht von ihm interpretiert und gelobt hat. Er wirft ihr vor, sich verraten zu haben, dass sie angefangen hat, zu studieren, weil sie ein „anderes Lied“ singen wollte und dass sie dieses Lied nun zwar singt, es aus ihrem Mund jedoch disharmonisch und falsch klingt. Rita will daraufhin nichts mehr mit ihm zu tun haben.
Dennoch denkt sie im dritten Akt über seinen Vorwurf, sich selbst verraten zu haben, nach. Als ihre Mitbewohnerin, von der Rita dachte, dass sie alles hat, um glücklich zu sein, versucht, sich das Leben zu nehmen und Rita sie im letzten Moment rettet, wird ihr klar das Frank recht hat: Man wird nicht glücklich, indem man ein anderes Lied singt, sondern indem man das eigene findet. Damit findet ihre Charakterentwicklung ihren Abschluss.
Frank hat in der Zwischenzeit in betrunkenem Zustand einen Skandal verursacht und wird nach Australien strafversetzt. Kurz vor seinem Abflug versöhnen sie sich wieder und Rita tut endlich, was sie vom Anfang der Geschichte an schon tun wollte: Sie schneidet ihm die Haare – und zeigt damit, dass sie ihre alte Welt des Arbeiter-Milieus, aus der sie fliehen wollte und die neue Welt der Literatur und der hohen Künste in ihrer eigenen Welt vereint.
Das emotionale Thema in der emotionalen Reise
An Rita will es endlich wissen kann man sehr schön erkennen, wie das emotionale Thema mittels der emotionalen Reise erzählt werden kann: Das emotionale Thema in „Rita will es endlich wissen“ ist Zugehörigkeit. Rita will ihre alte Welt verlassen und zu einer neuen Welt gehören. Ihre größte Angst ist, ausgeschlossen zu sein, also keiner Welt anzugehören.
Das emotionale Thema ist immer universell, transhistorisch, transkulturell: Liebe, Leben, Freiheit, Zugehörigkeit, Nähe, Sicherheit, Selbstbestimmung….
Diese Angst bewahrheitet sich in ihrem Tiefpunkt nachdem sie in der Phase der Katastrophe immer mehr Schwierigkeiten mit ihrem Ehemann und ihrem Vater bekommt: Ihre alte Welt wirft sie raus, in der neuen ist sie noch nicht angekommen. Am Ende der Geschichte gehört sie der neuen Welt an, ohne jedoch von ihr wie anfangs von ihrer alten Welt abhängig zu sein. Sie hat sich ihre eigene Welt geschaffen.
Reiseführer
Um eine emotionale Reise zu entwerfen, braucht es Antworten auf folgende Fragen: Was ist das Ziel der Figur und wie sieht ihre Vorstellung vom größten Glück aus (die sie mit dem Erreichen des Ziels realisieren will)? Im Hochpunkt am Ende der Hoffnung scheint sie dieses Ziel erreicht und ihre Vorstellung vom größten Glück realisiert zu haben.
Was ist die größte Angst der Figur? Was ist das Schlimmste, was ihr passieren kann? Die Antwort auf diese Fragen ergibt ihren symbolischen Tod im Tiefpunkt am Ende der Katastrophe, wenn alles verloren scheint. Was führt zu ihrer symbolischen Wiedergeburt?
Für die Planung einer Charakterentwicklung sind speziell noch folgende Fragen wichtig: Was ist das emotionale Thema der Geschichte? Um welchen Wert handelt es sich dabei? In welchen Wertekonflikt gerät die Figur und wie sieht ihre Werteveränderung aus?
Gute Reise.