Die stärksten Geschichten sind die, in denen sich der Hauptprotagonist selbst verändert. Sie haben die größte Tiefe und Bedeutung: Der Hauptprotagonist erlangt Selbsterkenntnis und Selbst-Bewusstsein, entwickelt seine Persönlichkeit weiter und wird dadurch glücklich.
Diese Veränderung ist ein Merkmal des charakterorientierten Erzählens: Am Ende der Geschichte ist der Hauptprotagonist quasi ein neuer Mensch, er hat sein Wertesystem neu justiert und als Folge dessen ein anderes Welt- und Selbstbild, andere Überzeugungen und moralische Kriterien, er denkt anders, handelt anders, fühlt anders, gestaltet seine Beziehungen anders – lebt anders: glücklicher. Oder unglücklicher. Aber diese Variante wird selten erzählt, auch wenn sich mit ihr die gleiche Aussage treffen lässt. Unterm Strich hat sie aber weniger positive Ausstrahlung, macht weniger Hoffnung und hat daher weniger Anziehungskraft.
Wie sieht die Charakterentwicklung der Hauptfigur aus? Wie verändert sie sich? Was ist ihr am Ende der Geschichte wichtiger als am Anfang? Wie entwickelt sich ihr Wertesystem?
In Little Miss Sunshine entwickelt sich die Familie als Plural-Protagonist von einer gestörten Gemeinschaft in eine funktionierende – geheilte – Gemeinschaft und wird dadurch glücklich. In Breaking Bad entwickelt sich ein unbescholtener Bürger in einen Schwerstkriminellen, verliert dadurch seine Familie und endet in Einsamkeit. Beide Hauptprotagonisten verändern sich, hauptsächlich hinsichtlich ihres Wertesystems und damit ihrer inneren Welt:
Nachvollziehbare Charakterentwicklungen vollziehen sich dynamisch.
In Breaking Bad wird der universelle Wert Anerkennung wichtiger als der universelle Wert Familie. In Little Miss Sunshine wird der universelle Wert Familie wichtiger als der universelle Wert Anerkennung. Der Wertewandel wird insbesondere beim Vater deutlich: Am Anfang war der Wert „Erfolg“ bzw. „Anerkennung“ der wichtigste für ihn, am Ende ist es der Wert „Familie“ bzw. „Gemeinschaft“. Er bewegt sich also im Laufe der Geschichte von dem Wert des kognitiven Themas, der sich in seinem bewussten Bedürfnis – Anerkennung und Selbstbestätigung – ausdrückt, zu dem Wert des emotionalen Themas, der das unbewusste Bedürfnis – Familie und Zugehörigkeit – darstellt.
Muster der Charakterentwicklung
Entscheidend für die Charakterentwicklung ist die Frage, wie sie stattfindet, wie ihr Prozess aussieht. Geschichten, die die Entwicklung der Hauptfigur nicht darstellen, sondern am Ende bloß zeigen, dass sie sich verändert hat, behaupten eine Charakterentwicklung lediglich, erzählen sie aber nicht. Solche Entwicklungen werden als sprunghafte Charakterentwicklung bezeichnet. Sie sind weder als solche noch in der Aussage, die sie transportieren, glaubwürdig und befriedigend.
Nachvollziehbare Charakterentwicklungen vollziehen sich stattdessen dynamisch.
Darin, zu beobachten, wie sich jemand Schritt für Schritt verändert, besteht der Reiz.
Gerade darin, zu beobachten, wie sich jemand unter Druck Schritt für Schritt verändert, besteht der Reiz für die Rezipientinnen und Rezipienten. Diese Dynamik entfaltet sich im zweiten Akt einer Geschichte, der Konfliktaustragung, in der sich der Konflikt immer weiter steigert, die Hauptfigur zusehends unter Druck gerät und sich dadurch nach und nach verändert. Im dritten Akt – der Konfliktauflösung – kommt die Charakterentwicklung zu ihrem Abschluss, indem die neue Persönlichkeit des Hauptprotagonisten eine letzte und größte Bewährungsprobe bestehen muss.
Die „rationale“ Reise
In ihrer Grundform lassen sich unter anderem zwei Charakterentwicklungsmuster unterscheiden: Im einfachsten versucht die Hauptfigur in der ersten Hälfte des zweiten Aktes mit ihrer herkömmlichen Denk- und Handlungsweise aus der „alten Welt“ ihr Ziel zu erreichen, um ihr Bedürfnis zu befriedigen und den universellen Wert zu realisieren, kommt damit aber nicht weiter, weil sie auf Hindernisse trifft (äußere Welt), falsch denkt, falsche Schlussfolgerungen zieht, ihre Pläne scheitern, sie erfolglos argumentiert usw. (rationale Welt), sie Probleme mit anderen Menschen bekommt, eine Beziehung misslingt (emotionale Welt). Im zentralen Punkt hat sie die Erkenntnis, dass sie mit ihren alten Methoden nicht weiterkommt und beginnt, nach und nach ihr Denken und Handeln zu verändern bis sie am Ende ihre letzte Bewährungsprobe erfolgreich besteht, damit ihr Ziel erreicht, ihr Bedürfnis befriedigt und ihre Charakterentwicklung abschließt.
In diesem Muster ist die Handlungsebene dominant, also die äußere Welt der Handlungen und die rationale Welt des Denkens. Die emotionale Welt der Beziehungen verändert sich nur insofern es für den Erfolg in den anderen beiden Welten erforderlich und relevant ist. Die innere Welt ist weitestgehend statisch, das heißt, die neue Denk- und Handlungsweise der Hauptfigur stimmt mit ihrem Wertesystem, ihren Überzeugungen, Glaubenssätzen etc. weiterhin überein.
Seele und Herz der Figur bestimmen ihren Geist und ihren Körper.
Geschichten, die auf diesem Muster aufbauen sind verglichen mit denen der anderen Muster die oberflächlichsten und transportieren die schwächste Aussage, da sie von keiner existenziellen Persönlichkeitsentwicklung erzählen. Eine solche findet statt, wenn die Hauptfigur mit ihrer „größten Angst“ konfrontiert wird, wenn das Schlimmste, was ihr passieren kann, eintritt. Ihr muss sie sich stellen und sie muss sie überwinden. Denn sie ist es, die sie davon abhält, ihre größte Sehnsucht zu befriedigen.
Die emotionale Reise
Ein zweites Muster baut auf der emotionalen Reise der Hauptfigur auf. In der Hoffnung entwickelt sich die Hauptfigur positiv weiter, sie verändert ihre Verhaltensweise, handelt richtig, schöpft Zuversicht, geht Richtung Sehnsucht und nähert sich deshalb auf der Handlungsebene ihrem Ziel an. In der Katastrophe entwickelt sie sich nicht oder negativ, macht Fehler, geht Richtung Angst, verliert ihre Zuversicht, entfernt sich deshalb auf der Handlungsebene von ihrem Ziel und wird mit ihrer größten Angst konfrontiert: Das Schlimmste, was ihr passieren kann, tritt ein.
Auf diese Weise sind Handlungs- und Beziehungsebene miteinander verknüpft: Wenn die Hauptfigur sich emotional in der Katastrophe befindet, dann ist sie auch kognitiv in der Katastrophe, das heißt, sie denkt falsch und handelt entsprechend falsch. Befindet sie sich emotional in der Hoffnung, dann auch kognitiv, sie denkt richtig und handelt richtig. Die kognitive Handlungsebene ist im charakterorientierten Erzählen also eine Funktion der emotionalen Beziehungsebene: Hauptfiguren funktionieren von innen nach außen. Ihre Seele und ihr Herz bestimmen ihren Geist und ihren Körper, also ihr Denken und Handeln. In Geschichten, in denen die Hauptfigur keine Charakterentwicklung erlebt, funktioniert die Hauptfigur von außen nach innen. Bei der Entwicklung schließt man von ihren Handlungen auf ihre Werte, von der kognitiven auf die emotionale Ebene.
Im dritten Akt muss die Figur sich aus dem Tiefpunkt befreien.
In der ersten Variante dieses Musters befindet sich die Hauptfigur wie bereits weiter oben beschrieben in der ersten Hälfte des zweiten Aktes in der Hoffnung und gerät mit dem zentralen Punkt in die Katastrophe, die ihre Bewegungsrichtung in der zweiten Hälfte des zweiten Aktes bestimmt. In der zweiten Variante befindet sie sich zuerst in der Katastrophe und kommt dann in die Hoffnung.
Kommt sie zuerst in die Hoffnung, setzt ihre Charakterentwicklung mit Beginn des zweiten Aktes ein. Im zentralen Punkt gelangt sie an ihren Hochpunkt: Alles scheint erreicht. Doch dann wendet sich die Situation und sie kommt in die Katastrophe, entwickelt sich negativ weiter und / oder fällt in alte Denkweisen und Verhaltensmuster zurück. Ihren Tiefpunkt erlebt sie dann im zweiten Wendepunkt.
Im dritten Akt muss sie sich aus ihm befreien. Der Spielfilm Gegen die Wand von Fatih Akin verläuft nach diesem Muster: Durch das Zusammenwohnen mit Sibel bekommt Cahits Leben in der ersten Hälft des zweiten Aktes wieder Sinn. Er verliebt sich in sie und will eine Beziehung mit ihr. Im zentralen Punkt sieht es so aus als würde sich Sibel auf eine Beziehung mit ihm einlassen – alles scheint erreicht –, gibt ihm dann aber doch einen Korb. Dadurch stürzt Cahit in die Katastrophe. Er fällt in alte Verhaltensmuster zurück, kommt immer weniger damit klar, dass Sibel keine Beziehung mit ihm führen will und wird immer eifersüchtiger auf ihre Liebhaber. Bis er im zweiten Wendepunkt einen von ihnen erschlägt, wodurch die Scheinehe der beiden, aufgrund der sie zusammenwohnen, auffliegt, und Sibel vor ihrer ehrverletzten Familie in die Türkei fliehen muss: Alles scheint verloren.
Darum geht es in Geschichten: Sie erzählen von Veränderungsprozessen.
In der zweiten Variante versucht die Hauptfigur in der ersten Hälfte des zweiten Aktes, ihren Konflikt mit ihren alten, aber nicht mehr adäquaten Denk- und Verhaltensweisen zu lösen, gerät deswegen in die Katastrophe und entwickelt sich negativ weiter. Am Ende der Katastrophe im zentralen Punkt gelangt sie an ihren Tiefpunkt. Erst nachdem sie ihn er- und überlebt hat – ihren symbolischen Tod und ihre symbolische Wiedergeburt -, beginnt sie, sich zu entwickeln. LITTLE MISS SUNSHINE ist ein Beispiel für diese Variante: In der ersten Hälfte des zweiten Aktes entwickelt sich die Familie negativ, sie driftet immer weiter auseinander bis es so scheint, als ob sie endgültig zerbrechen würde: Alles scheint verloren. Doch dann rauft sie sich zusammen und setzt ihren Weg weiter fort, auf dem sie dann nach und nach wieder zusammenwächst.
Mit der Entscheidung, die die Figur in der Krise trifft, geht sie in den Höhepunkt am Ende der Geschichte und löst ihren Konflikt auf. Damit vollzieht sich ihre Charakterentwicklung, die sie bis dahin Schritt für Schritt gemacht hat, endgültig: Am Ende der Geschichte ist sie ein anderer Mensch geworden.
Genau darum geht es in Geschichten: Sie erzählen von Veränderungsprozessen. Daraus beziehen sie ihre Dynamik. Diese Veränderungen beziehen sich auf Umstände, Zustände, Situationen, Ereignisse oder Menschen selbst: Unter welchen Umständen verändert sich etwas oder jemand? Wie verändert es oder er sich? In welchen Schritten verläuft dieser Prozess? Durch welche Kräfte wird er verursacht? Durch was kommt er zum Abschluss? Welche positiven und negativen Konsequenzen hat er? Dieser Veränderungsprozess transportiert die Aussage einer Geschichte, die Antwort auf die Frage nach dem besseren Leben und der besseren Gesellschaft.
Mit anderen Worten: Die stärksten Geschichten sind die, die sehr unrealistisch sind.
Auch wenn der Reiz an Geschichten vielleicht tatsächlich eine gewisse Märchenhaftigkeit ist, gefallen mir persönlich eher Geschichten, die wenigstens einigermaßen mit der Realität vereinbar sind.
Ich muss allerdings zugeben, dass Geschichten meistens wohl sehr langweilig wären, wenn sie sich absolut an der Wirklichkeit orientieren würden.
Die Persönlichkeit von Menschen verändert sich im Erwachsenenalter im Schnitt eher gering und deshalb behandeln Geschichten anscheinend gerne Wunschvorstellungen.
Wenn ich dich richtig verstehe, sind dir die genannten Beispiele — Breaking Bad, Little Miss Sunshine, Gegen die Wand — schon zu unrealistisch?
Geschichten befassen sich mit Menschen in großen Krisen. Sie sind quasi dazu da, uns große Krisen und einen Umgang damit vorzuführen. Das ist insofern eine »unrealistische« Auswahl, als dass wir im Alltag halt nicht ständig in großen Krisen stecken. Das ist aber eben kein Fehler bei den Geschichten oder den Autor*innen, sondern liegt eben in der Natur der Sache.