Jens Becker, Drehbuchautor, Regisseur und Professor für »Drehbuch und Dramaturgie« an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, veröffentlichte im April letzten Jahres einen Drehbuchratgeber mit dem Titel »Das Drehbuch-Tool: Charaktere und Struktur gestalten mit dem Enneagramm«. Becker hat bereits 2014 zwei Vorläufer vom »Drehbuch-Tool« veröffentlicht. Einen Großteil des Kanons der Drehbuchratgeber habe ich vor ein paar Jahren mühsam hinter mich gebracht, weshalb ich skeptisch war: Brauche ich wirklich einen weiteren Drehbuchratgeber?
An dieser Sinnfrage wird sich die »Rezension« abarbeiten. Wie kann meine Schreibpraxis von einem Ratgeber profitieren? »Das Alleinstellungsmerkmal des Buches ist, dass es die Geschichte konsequent aus der Sicht des Protagonisten schildert und nicht wie in anderen Drehbuchratgebern aus einer objektiven Außensicht«, heißt es zu Anfang des Buches. Das Alleinstellungsmerkmal des Buches ist, dass es die Geschichte konsequent aus der Sicht des Protagonisten schildert. Statt die Struktur in den Vordergrund zu stellen, wird die Handlung der Protagonist*innen als Leitfaden der Dramaturgie etabliert. Aber macht das tatsächlich einen Unterschied? Schließlich bestimmt die Handlungsweise des/der Protagonist*in die Struktur. Wird hier ein Dramaturgen-Mantra in einem anderen Gewand verkauft? Aus meiner Sicht macht es, so viel kann ich vorwegnehmen, vor allem einen praktischen Unterschied, aber dazu später mehr.
Mit einer langen Einleitung skizziert »Das Drehbuch-Tool« die Grundmechanismen von menschlichem (Gruppen)Verhalten, die sich auf soziologische und psychologische Erkenntnisse berufen. Leider orientieren sich diese kurzen wissenschaftlichen Exkurse an den konventionellen Formen filmischen Erzählens, weshalb zumindest die Einleitung ähnlich agiert wie in anderen Drehbuchratgebern: Sie rechtfertigt, was ist. Sie bestätigt, was »funktioniert«. Darauf folgt das Kernstück des Buches: die Vorstellung des Enneagramms, ein ausdifferenziertes Charaktermodell mit neun Profilen.
Ein komplexes Charaktermodell
Analog zu gängigen Typenlehren wird in drei Grundtypen unterschieden: Bauch-, Kopf- und Herz-Typen, wozu jeweils drei Charakterprofile gehören. Neun Profile werden samt ihrer Grundeigenschaften und ihren daraus hervorgehenden inneren und äußeren Konflikten beschrieben. Dazu kommen entsprechende Kindheitsmuster und potenzielle Plot-Elemente für jedes Profil.
Die Beschreibungen mäandern in zahllosen Adjektiven. Die Interdependenzen der Charakterzüge bilden ein dichtes, psychologisches Gefüge. Jedes Profil ist eine Geschichte für sich. Im Zuge der Lektüre blitzen Freunde und Filmfiguren als Abgleichbilder in Gedanken auf. Anders gesagt: Von den Eigenschaften der jeweiligen Profile bleibt zunächst wenig hängen.
War jetzt die 6 der/die Selbstlose oder die 2? Wenn die 5 über sich hinauswächst und ihren inneren Konflikt löst, ähnelt sie doch der 8 in ihrem Ursprungszustand?! Im Enneagramm hängt alles zusammen. Darin besteht seine Plausibilität. Ohne zu viel vorwegzunehmen, möchte ich an dieser Stelle das Enneagramm ein wenig erklären: Ein Charakterprofil besitzt zwei Flügelcharakter, bei der 8 ist das logischerweise die 7 und die 9, mit denen sich Schnittmengen ergeben.
Die 8 (Bosse – Kämpfer – Triebhafte) hat zudem wie alle anderen Typen auch eine positive und negative Entwicklung, die sie jeweils zu den positiven oder negativen Grundeigenschaften einer weiteren Figur (in diesem Fall die 2 und 5) führt. Das bedeutet, dass eine Figur aus Teilmengen von 4-5 Figurenprofilen bestehen kann. Das ist durchaus erfrischend, betrachtet man die häufig simplifizierten Drehbuchratgeber. Doch Ausführlichkeit bedeutet nicht gleich Schöpfung. Wie und wo kann ich das alles anwenden?
Das Enneagramm in der Anwendung
Beim Überarbeiten. So lautet zumindest die Antwort des Buches. Um mögliche Figurenkonstellationen und Konflikte zu schärfen, lassen sich bereits angelegte Figuren mit dem Enneagramm analysieren und auf Basis der Charakterprofile schleifen. Ich kann also überprüfen, ob die Muster aus dem Enneagramm auf den Stoff anwendbar sind und meine Handlung anhand der inneren und äußeren Konflikte der Profile weiterentwickeln.
Nun zurück zur Frage, ob das vermeintliche Alleinstellungsmerkmal des Buchs, die konsequente dramaturgische Entwicklung aus der Sicht des/der Protagonist*in einen Mehrwert besitzt. Bei der Entwicklung einer Geschichte gibt es immer wieder Momente, in denen die Handlung ins Stocken gerät. Als Autor*in weiß ich, was passieren müsste. Aber wie passiert es? Wie kommt mein/e Protagonist*in zu bzw. an diesen Punkt?
Im Enneagramm finden sich Konfliktstrukturen, die genügend Freiraum lassen, um diese dem individuellen Sujet und Handlungsmoment anzupassen. Oft heißt es dann in Ratgebern oder in Tipps zu Schreibblockaden, man müsse zurück zu den Figuren kehren. Schließlich ergibt ihr Charakter, ihre Biografie die Handlung. Also Handlungsstrang schließen, die chaotisch geschriebene Biografie öffnen und nach Handlungsfetzen fischen; ein spürbarer Rückschritt. Sind meine Figuren überhaupt interessant genug?
In diesem Fall auf das Enneagramm zurückzugreifen, kann eine Verkürzung und Vereinfachung dieses Arbeitsschritts sein. Sie verbindet zwei zusammenhängende Bereiche, die im Arbeitsprozess und auch in vielen anderen Ratgebern, da gebe ich Jens Becker völlig Recht, zu stark voneinander getrennt betrachtet werden: Struktur und Figur.
Im Enneagramm finden sich Konfliktstrukturen, die genügend Freiraum lassen, um diese dem individuellen Sujet und Handlungsmoment anzupassen. Schließlich kenne ich doch meine Figuren und meinen Stoff bis zu diesem Zeitpunkt gut genug (so viel Selbstbewusstsein darf sein), um schnell entscheiden zu können, was von den typischen Konflikten und Handlungsweisen des Profils für meine Geschichte taugt.
Das Strukturmodell und ein verkürzter 3. Akt
Nach dem Charaktermodell überträgt Jens Becker das Enneagramm auf die Struktur einer Filmgeschichte. Er skizziert die gängigsten Strukturmodelle (3-Akt-Struktur, 5-Akt-Struktur, 8-Sequenz-Modell, 12-Stadien-Modell) und legt das zuvor erarbeitete 9-stufige Charaktermodell darüber. Dieser Transfer läuft im Grunde wie ein Beweisverfahren ab und tatsächlich passt das alles ganz gut. Die Entwicklungsschritte des Plottings korrespondieren mit den Eigenschaften der Figurenprofile.
Im Strukturmodell beschreiben Step 3 und Step 9 die beiden Wendepunkte. Step 6 stellt den Midpoint dar. Ihre Bedeutung wird durch ein im Kreis liegendes Dreieck hervorgehoben. Durch die Anordnung in Steps erinnert Beckers Modell an die »Heldenreise« von Christoph Vogler, mit dessen Titel er auch liebäugelt. Zum Glück ist dieser auf vielerlei Ebenen abschreckende Titel bereits besetzt und zum Glück ist Beckers Buch nicht ansatzweise so schematisch und belehrend geschrieben. Ansonsten hätte ich es wohl ebenso früh weggelegt.Wer zwei Akte gegangen ist, schafft auch einen dritten.
Das bemerkenswerte an der Enneagramm-Struktur ist die Aufteilung in 9 Schritte, woraus eine ungleichgewichtige Verteilung der drei Akte entsteht. Der 3. Akt besteht im Gegensatz zum 1. Akt, der aus zwei Steps besteht (1 und 2) und dem 2. Akt, der aus vier Steps (4 und 5 sowie 7 und 8) besteht, aus nur einer Strecke von Step 9 zu Step 1; die Rückkehr zu einem Ursprungszustand. Dies entspricht Beckers Praxiserfahrung, dass der dritte Akt in der Regel ohnehin nicht so viel zu erzählen habe, wie dies in anderen Strukturmodellen dargestellt werde; eine treffende Beobachtung, wie ich finde.
Die zeitliche Einteilung mag für manchen unpräzise oder inkonsequent erscheinen, auch weil der 3. Akt im Buch in seiner Ausgestaltung etwas kurz kommt. Aber ehrlich gesagt: Wer zwei Akte gegangen ist, schafft auch einen dritten. Statt Strukturwahn schafft das Enneagramm den Blick für das Wesentliche: Die Entwicklung der Geschichte durch den/die Protagonist*in.
Statt Strecken, wie in vielen anderen Ratgebern, sind es Punkte, die den Verlauf der Story verdeutlichen. Die Enneagramm-Struktur steht auf der Seite der Autor*innen und nicht auf der Seite der Dramaturg*innen, schaut nicht auf Seitenzahlen, sondern auf das Handlungsmomentum und hilft damit, Geschichten vergleichsweise unverkrampft zu entwickeln.
Das Buch ist online beim VISTAS Verlag erhältlich, oder besser noch, in der Buchhandlung bestellbar.
Interessanter Artikel. Als grundsätzlicher Skeptiker gegenüber fast allen Büchern über Drehbuchschreiben sind hier zumindest ein paar neue Aspekte beschrieben. Nur: was steht eigentlich immer am Beginn einer Idee: Eine Figur?
Am besten gefällt mir der letzte Absatz, legt er doch den Finger in die Wunde von Redakteuren & Dramaturgen: nämlich der Zwang in festen Strukturen zu denken und die auch noch abzumessen.