Neulich in Neukölln: Das Hauptereignis einer Geschichte

Nach Neukölln verschlägt es mich selten. Früher war ich mal bei den Schachfreunden. Eine Freundin hat mal in der Flughafenstraße in einer WG gewohnt. Aus dem fahrenden Bus habe ich mal einen fettwanstigen Araber im schwarzen Anzug beobachtet, der auf der Rückbank eines Mercedes Cabrio kniete und für alle sichtbar mit einem Revolver in der Luft rumfuchtelte. Er war Teil einer Hochzeitsgesellschaft. Er hätte auch Teil eines Filmsets sein können.

Neukölln ist ein Problembezirk. Isso. Angeblich sollen hier Kids ihr Dasein fristen, die mit einem Aktivwortschatz von 50 Vokabeln durch den Tag kommen. Kein Scheiß, ich Schwör!

Neulich habe ich versucht, im Gespräch mit einem Klienten, einem Drehbuchautor, ein neues Konzept zu etablieren. Ein neues Wort sozusagen. Man muss wissen, dass die Sprache der Dramaturgie – obwohl 2.500 Jahre gewachsen – auf ein ähnlich begrenztes Repertoire an Ideen zurückgreift wie die Kinder vom Herrmannplatz. Auf der diesjährigen FilmStoffEntwicklung – immerhin einer Fachtagung für Dramaturgie – waren es genau vier: „Heldenreise“, „3-Akt-Struktur“, „Plot Points“ sowie das „Want“ und das „Need“ des Helden. Ich meine, hallo! Da braucht es keine #Ermittler$killZ, um zu wissen wo die Reise hingeht. Von wegen Zukunft des Fernsehens!

Mein neues Wort heißt übrigens „Hauptereignis“ wie in: „Was ist das Hauptereignis deiner Geschichte?“ Es ist nämlich so, dass viel passiert, wenn ein Drehbuch lang ist. Aber genau wie jeder Nachrichtenbeitrag, Zeitungs- oder Blogartikel dreht sich auch jede Geschichte um ein zentrales Ereignis. Nicht zwei, nicht mehrere. Genau eines. Denk mal drüber nach!

Das Hauptereignis seiner Geschichte zu kennen ist echt nice. Als Übung empfehle ich, sich einmal die „Tagesschau in 100 Sekunden“ anzuschauen und sich anschließend zu fragen: Wie würde meine Geschichte als 20-sekündiger Newsclip aussehen? Zum Beispiel ALIEN von Dan O’Bannon und Richard Shusett: „Falsches SOS-Signal: Raumschiff-Crew fällt Alien zum Opfer. Nur eine Überlebende.“ Das Hauptereignis bringt die Geschichte sogar noch deutlicher auf den Punkt, indem es die eine Sache benennt, deretwegen sie zu einem berichtenswerten Ereignis wird: das Alien selbst.

In THE SILENCE OF THE LAMBS (DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER) von Ted Tally nach einem Roman von Thomas Harris geht es um einen junge FBI-Agentinnen, die Jagd auf einen gefährlichen Serienmörder macht und dabei auf die Hilfe eines weiteren Serienmörders angewiesen ist, der sich als sogar noch gefährlicher erweist, obwohl er hinter Gittern sitzt. Als Tagesschau-Beitrag würde das Ganze möglicherweise so lauten: „Gefährliches Spiel: FBI setzt auf Mithilfe eines Serienkillers“. Zentrales Ereignis: Ein Serienkiller.

Drauf gekommen bin ich, als wir uns über den Film THE LEGEND OF HELL HOUSE (TANZ DER TOTENKÖPFE) aus dem Jahr 1973 unterhielten. Sowohl Drehbuch als auch Romanvorlage stammen von dem 2013 verstorbenen Richard Matheson, der sich als Autor von Romanen, Kurzgeschichten, Film- und Fernsehdrehbüchern einen Namen machte.


Richard Burton Matheson (1926 – 2013)

Dem jüngeren Publikum dürfte Matheson hauptsächlich durch den Film I AM LEGEND mit Will Smith aus dem Jahr 2007 bekannt sein, der auf einem seiner frühen Romane basiert. Es ist bereits die vierte Leinwandadaption dieses Stoffes. Für die erste (THE LAST MAN ON EARTH) schrieb Matheson selbst das Drehbuch, und zwar unter dem Pseudonym Logan Swanson. Fans klassischer TV-Serien erinnern sich sicher noch an THE TWILIGHT ZONE (UNGLAUBLICHE GESCHICHTEN), für die er zahlreiche Episoden verfasste. Für Roger Corman adaptierte er eine Reihe von Edgar Allan Poe-Romanen, namentlich HOUSE OF USHER (DIE VERFLUCHTEN), PIT AND THE PENDULUM (DAS PENDEL DES TODES), TALES OF TERROR (DER GRAUENVOLLE MR. X) und THE RAVEN (DER RABE – DUELL DER ZAUBERER). Nach seiner eigenen Romanvorlage schrieb Matheson das Drehbuch zu dem B-Movie-Klassiker THE INCREDIBLE SHRINKING MAN (DIE UNGLAUBLICHE GESCHICHTE DES MR. C) von Jack Arnold. Ebenfalls von ihm stammt das Skript zu dem ursprünglich fürs TV geplanten Thriller DUEL (DUELL), der die Karriere von Steven Spielberg begründete. Beider Namen sind auch mit einem anderen Klassiker verbunden, nämlich der „Jaws“-Franchise. Während jedoch JAWS – Teil 1 für Spielberg den endgültigen Durchbruch als Regisseur bedeute, markierte der dritte Teil, JAWS 3D, ohne Zweifel einen Tiefpunkt in Mathesons Karriere als Drehbuchautor.


Was ist nun also das Hauptereignis von TANZ DER TOTENKÖPFE? Die Handlung dreht sich um einen Physiker und seine Frau, die mit Hilfe zweier hellseherisch begabter Begleiter das Geheimnis des Belasco-Hauses ergründen wollen, einem Geisterhaus, in dem angeblich die Opfer des ehemaligen Besitzers ihr Unwesen treiben, einem hünenhaften Serienkiller. Als Nachrichtenbeitrag klänge das ganze vielleicht so: „Der Fluch des Serienkillers: Forscherteam ergründet Belasco-Haus“. In einem Wort: Ein „Haunted House“-Thriller. Das berichtenswerte, zentrale Ereignis: Ein Geisterhaus.

In seiner Keynote Speech im Rahmen der FSE hat Robert Hummel vom Verband Deutscher Drehbuchautoren auf humorvolle Art aufgezeigt, was passiert, wenn Autor, Dramaturgin, Regisseur, Produzentin und Redakteurin nicht dieselbe Sprache sprechen (nachzulesen auch in seinem Gastbeitrag auf filmschreiben.de) auf. Dramaturgie ist diese Sprache. Sie ist für einen Autor, was die Tonleiter für einen Musiker ist. Dramaturgie ist keine Wissenschaft. Sie ist, wie das Schreiben selbst, ein kreativer Akt.

Ich hoffe, Ihr habt heute das eine oder andere neue Wort gelernt. Meine letzte Entdeckung war das Wort „fly sein“. Es ist das Jugendwort des Jahres 2016 und bedeutet soviel wie „etwas oder jemand geht besonders ab.“

In Neukölln habe ich es noch nie gehört.

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