Drei-Akt-Struktur IV: der dritte Akt

Dies ist eine Fortsetzung der Artikel »Drei-Akt-Struktur I: Struktur ist wichtig. Aber nicht so wichtig«, »Drei-Akt-Struktur II: der erste Akt« und »Drei-Akt-Struktur III: der zweite Akt«.

Mit dem zweiten Wendepunkt rückt die endgültige Konfliktauflösung in den Blick, das heißt, die vielen Optionen, die die Hauptfigur bis dahin hatte und von denen sie nicht wusste, welche sie zur Auflösung des Konfliktes führen kann, werden bis auf eine ausgeschlossen. Alle Hindernisse bis auf ein letztes großes sind überwunden. Der zweite Wendepunkt markiert den „Anfang vom Ende“. Die Hauptfigur bekommt noch einmal eine letzte Chance, sie weiß, wohin sie gehen muss oder was sie nun tun muss, um ihr Ziel zu erreichen.

Die dramaturgische Frage des zweiten Wendepunkts lautet: Welches Ereignis führt eine Wendung herbei, durch die die Geschichte einen neuen Weg einschlägt, an dessen Ende der zentrale Konflikt der Geschichte aufgelöst und die Geschichte damit beendet wird? Wann sind alle Möglichkeiten der Hauptfigur, ihr Ziel zu erreichen, bis auf eine letzte ausgeschöpft?

Der zweite Wendepunkt ist ein Moment höchster Emotionalität und Spannung für das Publikum. Denn es weiß jetzt, dass sich der Konflikt gleich auflösen wird; dass sich entscheiden wird, ob die Hauptfigur ihr Ziel erreicht oder nicht. Mit dem zweiten Wendepunkt geht die Geschichte in den dritten Akt über.

Der dritte Akt – Die Auflösung des Konflikts

Im dritten Akt löst sich der Konflikt auf, die Geschichte wird beendet, die Hauptfigur erreicht ihr Ziel oder verliert es für immer, ihr neuer Charakter wird auf eine letzte große Probe gestellt, ihre Charakterentwicklung vollzieht sich endgültig. Auch der dritte Akt lässt sich in zwei Erzählabschnitte einteilen.

Im dritten Akt von Little Miss Sunshine findet der Schönheitswettbewerb statt, an dem die Tochter Olive teilnimmt. Nachdem der Vater und der Bruder die anderen Teilnehmerinnen gesehen haben, wollen sie, dass die Mutter Olive nicht auf die Bühne lässt, weil sie befürchten, dass Olive verlieren und eine große Enttäuschung erleben wird. Die Mutter gerät dadurch in ihre Krise und muss sich entscheiden: Will sie eine gute Mutter sein, muss sie Olive vor einer Verletzung beschützen. Schützt sie Olive, zerstört sie ihren Traum, eine Schönheitskönigin zu sein. Sie entscheidet sich dafür, Olive auftreten zu lassen. Als Olives Auftritt auf ein Desaster zuläuft, geraten auch die anderen Familienmitglieder in eine Krise und müssen sich entscheiden, ob sie zu ihr auf die Bühne gehen und füreinander einstehen oder ob sie Olive alleine verlieren lassen.

Der dritte Akt hat eine eigene Spannungsfrage. Während sich in Little Miss Sunshine auf der Handlungsebene im zweiten Akt die Fragen stellen, ob die Familie rechtzeitig in Kalifornien ankommen wird, ob der Bus durchhält, der Polizist sie verhaftet, der Sohn wieder in den Bus einsteigen wird usw., bleibt im dritten Akt nur noch die eine große Frage übrig: Wird Olive den Wettbewerb gewinnen?
Die Qualität einer Geschichte hängt mehr von der Beziehungsebene als von der Handlungsebene ab.
Da recht früh im dritten Akt klar ist, dass Olive den Wettbewerb wohl kaum gewinnen wird, rückt diese Spannungsfrage auf der Handlungsebene hinter die Beziehungsebene: Werden sich Mutter und Vater wieder annähern? Wird sich der Sohn wieder in die Familie integrieren? Werden die anderen Familienmitglieder Olive auf die Bühne lassen und sie damit der Gefahr aussetzen, eine verletzende Erfahrung zu machen oder werden sie sie schützen und sie nicht auftreten lassen? Wird der Vater akzeptieren können, dass Olive keine Gewinnerin ist?

Little Miss Sunshine ist also eindeutig ein Film, der die Beziehungsebene und die Charakterentwicklung der Hauptfigur – und damit die Werte, die für sie auf dem Spiel stehen – ins Zentrum rückt. Er will nicht erzählen, wie eine verrückte Familie nach Kalifornien fährt, sondern wie eine kaputte Familie zusammenwächst. Das ist seine Intention. Little Miss Sunshine ist also charakterorientiert entwickelt. Diese Charakterorientierung fußt auf einer starken werteorientierten Dimension. Das macht ihn zu einem guten Film.

Little Miss Sunshine ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Qualität einer Geschichte mehr von der Beziehungsebene als von der Handlungsebene abhängt: Wäre die Familie bereits am Anfang intakt und müsste also keine Charakterentwicklung machen, dann wäre der Film selbst bei identischer Handlungsebene eindimensional und schwach.

Die Bedeutung der Beziehungsebene sieht man auch an der Qualitätsserie Breaking Bad: Ein Chemielehrer wird kriminell, um zu verhindern, dass seine Familie nach seinem Krebstod vor dem finanziellen Ruin steht. Der zentrale Konflikt entsteht dadurch, dass seine Familie nichts davon wissen darf. Auf der Handlungsebene geht es um seine Karriere als Krimineller, auf der Beziehungsebene um die Verheimlichung seines Tuns vor seiner Familie. Wäre er ein Chemielehrer, der nicht an Krebs erkrankt ist, der keine Familie hat und der anfängt, Drogen herzustellen, weil er reich werden will, würden wir uns nicht für seine Geschichte interessieren, zumindest nicht über sechs Staffeln.

Höhepunkt

Der Höhepunkt im dritten Akt ist das fünfte obligatorische Ereignis. In ihm löst sich der Konflikt auf. Die Hauptfigur erreicht ihr Ziel oder sie verliert es für immer. Sie vollzieht ihre Charakterentwicklung endgültig oder nicht. Damit ist die Geschichte beendet. Die Fragen des Höhepunktes lauten demnach: Erreicht die Hauptfigur ihr Ziel? Was bekommt sie am Ende und worauf verzichtet sie? Vollzieht sie ihre Charakterentwicklung?

Der Höhepunkt ist die endgültige Antwort auf die dramatische Frage, die mit dem ersten Wendepunkt gestellt wird: „Wird die Hauptfigur ihr Ziel erreichen?“ Das ist der große Bogen einer Geschichte: vom ersten Wendepunkt zum Höhepunkt. Die Krisenentscheidung, so die Hauptfigur denn eine zu treffen hat, also das Dilemma, in dem sie sich zwischen zwei Werten entscheiden muss, findet unmittelbar vor dem Höhepunkt statt.

In Little Miss Sunshine wird Olives Auftritt tatsächlich ein Desaster. Die Veranstalterin will ihn abbrechen und fordert den Vater auf, Olive von der Bühne zu holen. Er geht zwar auf die Bühne, holt sie jedoch nicht herunter, sondern unterstützt sie und tanzt mit ihr. Nach und nach kommen auch die anderen Familienmitglieder auf die Bühne und steigen mit ein. Sie blamieren sich total, haben ihr dramatisches Ziel zwar nicht erreicht, aber: Sie halten zusammen, stehen füreinander ein, sind wieder eine Familie geworden und dadurch glücklich.

Epilog

Der sechste Erzählabschnitt ist der Epilog. Er gibt Antworten auf die Fragen: Wie haben sich der Konflikt und seine Auflösung auf die Hauptfigur ausgewirkt? Wie hat sie sich verändert? Wie wird ihr Leben weiter verlaufen? Ist sie glücklich oder unglücklich? Da der Konflikt bereits aufgelöst und die Geschichte beendet ist, bleibt für diesen Ausblick auf das weitere Leben des Protagonisten nicht mehr viel Zeit.

In Little Miss Sunshine wird der Familie mitgeteilt, dass Olive nie wieder an einem Schönheitswettbewerb in Kalifornien teilnehmen darf. Der Familie ist das egal, denn wie der Sohn vorher einmal sagt: „Auf Schönheitswettbewerbe ist geschissen.“ Die Familie macht sich glücklich auf den Rückweg.

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