Digitaler Journalismus 2 – Multilinearität und Interaktivität

Jedes Medium besitzt Eigenschaften, die die Entwicklung und Gestaltung von Inhalten bedingen und beeinflussen. Um das Potenzial eines Mediums auszuschöpfen, muss man diese Bedingungen berücksichtigen und nutzen.

Die medienspezifischen Eigenschaften des Internet, die sich daraus ergebenden Bedingungen für die Möglichkeit des digitalen Journalismus und des digitalen Storytellings und die wiederum daraus resultierenden Chancen und Risiken der digitalen Content-Entwicklung werden allerdings noch zu wenig berücksichtigt.

Zu viele digitale Inhalte werden noch analog gedacht und entwickelt und mit digitaler Technik umgesetzt.

Deshalb will die Artikel-Reihe „Digitaler Journalismus“ diese Eigenschaften, Bedingungen, Chancen und Risiken näher beleuchten und einige mehr oder weniger gelungene Beispiele vorstellen.

Der erste Artikel der Reihe thematisiert die Eigenschaft Multi-, Cross- und Transmedialität. In diesem Artikel geht es Multilinearität und Interaktivität. In den noch folgenden wird es um Konnektivität, Modularität, Offenheit, Dezentralität, Partizipation, Personalisierung und Viralität gehen.

Fernsehen und Radio sind klassische lineare Medien: Man kann die Nachrichten nicht überspringen und sofort den „Tatort“ schauen. Auch in einer Nachrichtensendung kann man eine Nachricht nicht auslassen und sich die nächste anschauen oder anhören. Wesentliche Eigenschaften des Fernsehens und des Radios sind ihre Linearität und eine feste Programm- und Inhaltsstruktur. Der Rezeptionsprozess ist fremdbestimmt, die Rezeption passiv. Man kann lediglich den Sender wechseln.

Im Fernsehen und Radio ist der Rezeptionsprozess fremdbestimmt, die Rezeption passiv.

Leserinnen und Lesern einer Zeitung steht es frei, welche Artikel sie in welcher Reihenfolge lesen. In einem Artikel müssen sie jedoch die Inhalte Zeile für Zeile in der Reihenfolge lesen, die die Journalistin oder der Journalist vorgegeben hat. Zeitungen sind also zum Teil multilinear und damit selbstbestimmt und aktiv rezipierbar.

Das Internet kann sowohl linear sein – indem ein ursprünglich für Zeitung, Radio oder Fernsehen produzierter Beitrag über das Internet verbreitet wird, Stichwort „Shovel-Ware“ – als auch multilinear. Seine Multilinearität löst das alte Sender-Empfänger-Modell auf und führt zu einer Verschiebung von der „Autorgesteuertheit“ zur „Nutzergesteuertheit“ des Rezeptionsprozesses, mit weitreichenden Konsequenzen für die Entwicklung und Gestaltung von Inhalten.

Aus Sicht des Storytelling ist Multilinearität eine Eigenschaft, die Multiplot-Storys nutzen können, also Storys mit mehreren Protagonisten und Konflikten, die ein Thema multiperspektivisch beleuchten. Die Nutzerinnen und Nutzer können dann selbst entscheiden, in welcher Reihenfolge sie die Storys rezipieren wollen.

Digitale Multiplot-Sorys sind Storys mit mehreren Protagonisten und Konflikten, die ein Thema multiperspektivisch beleuchten.

Für die Entwicklung der Inhalte der einzelnen Storys bedeutet das, dass sie jeweils eigenständig und unabhängig voneinander funktionieren müssen. Man kann beispielsweise nicht voraussetzen, dass Nutzerinnen und Nutzer eine bestimmte Information bereits aus einer anderen Story kennen, weil man nicht weiß, ob sie sie schon rezipiert haben. Multilineares Erzählen bedeutet also, bestimmte Informationen mehrfach erzählen zu müssen und damit bewusst mit Redundanzen zu arbeiten.

Die nutzergesteuerte Rezeption hat den Vorteil, dass Nutzerinnen und Nutzer gezielt rezipieren und Inhalte, die sie nicht interessieren, auslassen können. Das hat aber auch den Nachteil, dass sie ständig Entscheidungen treffen müssen und die Multioptionalität manche möglicherweise überfordert. Der Rezeptionsprozess kann also einerseits gezielter stattfinden, andererseits aber auch komplizierter werden.

Die nutzergesteuerte Rezeption kann zielgerichteter stattfinden, aber auch komplizierter sein.

Das ist übrigens ein Grund, warum Zeitungen, Radio und Fernsehen weiter existieren werden (Medienhistorisch betrachtet hat außerdem ein neues Medium noch nie ein altes zum Verschwinden gebracht.). Sie sind einfach zu rezipieren, Radio und Fernsehen noch einfacher als Zeitungen. Wer abschalten will, muss einfach nur einschalten und sich nicht entscheiden. Bei Radio und Fernsehen kommt noch hinzu, dass sie den Alltag strukturieren. Wer gerne „Tatort“ schaut, muss sich nicht überlegen, was er Sonntagabend viertel nach acht macht.

Das mag banal klingen, ist aber in einer Zeit, in der wir ständig alles Mögliche entscheiden müssen – vom richtigen Joghurt über den richtigen Handy-Tarif zur richtigen Altersvorsorge etc. – nicht zu unterschätzen. Wahrscheinlich wächst das Bedürfnis, nicht entscheiden zu müssen, sogar. Der „lean back“-Charakter von Fernsehen und Radio ist ihr großer Vorteil.

Das Internet ist prinzipiell ein „lean forward“-Medium. Die Frage ist, wie weit man sich die Nutzerinnen und Nutzer nach vorne beugen lässt oder – und das zu ermöglichen ist wieder ein Vorteil des Internet – ob man Inhalte nicht so gestaltet und strukturiert, dass sie sowohl das „lean forward“- als auch das „lean back“-Bedürfnis befriedigen können, also Angebote sowohl für aktive als auch für passive Nutzungsbedürfnisse anbietet.

„Snowfall“, (New York Times), „Willkommen in Deutschland“ (DIE ZEIT), „NSA Files decoded“ (The Guardian) und „Tod in Texas“ sind linear und wenig interaktiv. Im Grunde handelt es sich bei ihnen um mit Videoclips, Bilderstecken, animierten und interaktiven Grafiken etc. angereicherte Text-Reportagen. Ihr inhaltliche Entwicklung und ihr struktureller Aufbau bleiben im analogen Denken verhaftet.

Zwei digital gedachte Beispiele sind „Machtmaschine“ (vom Team 4 der Axel Springer Akademie, das damit 2009 den 2. Preis des Axel-Springer-Preises in der Kategorie Internet gewonnen hat) und „Geheimer Krieg“ (ein Gemeinschaftsprojekt von NDR und Süddeutsche Zeitung). Sie sind nicht nur multilinear und interaktiv, sondern bedienen noch weitere spezifische Eigenschaften des Internet, beispielsweise Konnektivität, Modularität und Dezentralität, die der nächste Artikel dieser Reihe thematisieren wird.

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