Digitale Distribution: Liebe ARD, liebes ZDF, bitte bitte!

Der Vertrieb digitaler oder digitalisierter Werke über das Internet bedeutet ungeheure Chancen für die Weiterentwicklung jeder Darstellungs- und Erzählform. Das Ergebnis mag nicht jedes Mal beeindrucken, und ist nie ganz unproblematisch. Doch wir im Film, im deutschen Film versuchen es gar nicht.

Der große Vorteil der Digitalisierung: Die Herstellung und der Vertrieb physikalischer Kopien ist teuer, die Lagerung einer Ausgangsdatei auf einem Server und die Erstellung einer Kopie bei Bedarf (on demand) ist es nicht. Und sie ist umweltfreundlicher: Der Speicherplatz auf den verwendeten Speichermedien (der Server, die heimische Festplatte) kann jederzeit anderweitig benutzt werden; DVDs, die nicht mehr benötigt werden landen hingegen im Müll.

Die geringen Vertriebskosten ermöglichen es quasi jedem zu veröffentlichen: Musik, Literatur, Videospiel, Film. Das beschert uns eine wohl nie dagewesene Flut an qualitativ eher fragwürdiger Kunst, ermöglicht aber auch viel Kluges, Gutes, Schönes, ermöglicht vielleicht Meisterwerke, die unser Dasein sonst nie hätten bereichern können. Und es gibt immer mehr Möglichkeiten (wiederum digitale) sich zwischen guten und schlechten Werken zurechtzufinden, bzw. zwischen solchen, die einem gefallen (könnten), und solchen, die es (vermutlich) nicht tun.
Geld war noch nie Qualitätsmerkmal.
Das finanzielle Vermögen des Produzenten aber gehört nicht mehr dazu – und das ist gut so: Geld war noch nie Qualitätsmerkmal. Das sollte doch hinreichend bewiesen sein. Bisher gab es keine Möglichkeit, diesen finanziellen Filter – der ein schlechter Filter ist, weil er naturgemäß kein anderes Interesse am Werk hat, als an seinem finanziellen Wert – zu umgehen, mit der digitalen Distribution ist sie endlich da.

Einige unserer neuen Filter, Algorithmen, die anhand einiger Entscheidungen, die wir getroffen haben, selbstständig entscheiden, welche Inhalte wir gerne sehen möchten und welche nicht, sind zurecht in der Kritik: Gerade bei Nachrichten ist solch eine Blase gefährlich, und auch fiktionale Narrative beeinflussen ja unser Weltbild. Doch es ist auch eine Befreiung, dass nicht mehr das Geld darüber entscheidet, welche Inhalte uns erreichen und welche nicht. Und wir werden immer bessere Wege finden mit der Flut an Informationen umzugehen.

Nutzerrezensionen sind – solange sie nicht gefälscht werden – solche Wege. Oder die Kuratoren auf der Videospiel-Vertriebsplattform Steam: Jeder Nutzer kann Kurator werden und Spiele empfehlen, desto mehr Nutzer diese Empfehlungen hilfreich finden und dem Kurator folgen, desto prominenter wird er in der Liste platziert. (Übrigens: Auch wir sind Steam-Kurator! Siehe auch: Videospielen (kennen-)lernen [N2L])
Experimente erreichen die Verbreitung, die sie rentabel macht.
Steam ist ein Beispiel für außerordentlich erfolgreiche und für die Kunstform unersetzlich wertvolle (aber zum Beispiel verbraucherrechtlich nicht unproblematische) digitale Distribution. Erst dank Steam können Abertausende, vielleicht Millionen kleine, finanzschwache Videospielentwickler Videospiele entwickeln und vertreiben. Frei von den (finanziellen) Abhängigkeiten eines großen Triple-A-Spiels, das von seiner Bedeutung (und kreativen Schwäche) her in etwa den Blockbustern im Film entspricht. Die digitale Distribution hat Videospiele befreit, denn dank ihr erreichen selbst gewöhnungsbedürftige und doch für eine Kunstform so wichtige Experimente die Verbreitung, die sie für die Entwickler rentabel macht.

Mir fehlt das Wissen und scheinbar auch die Recherchefähigkeit, ob das im E-Book-Bereich und in der Musik ähnlich funktioniert. Hat Apples Verkaufsplattform iTunes die Musik befreit? Es heißt, dass das soziale Netzwerk MySpace damals ganz vielen kleinen, unbekannten Band erst ermöglichte, eine Masse zu erreichen. MySpace ist kaum noch relevant, Soundcloud, eine Plattform für jede Art von Tondateien vielleicht eher. Sie erinnern, gemeinsam mit dem umstrittenen iTunes an ein noch großes Problem digitaler Distribution: Die Vergütung für die Künstler.

Oft gibt es sie gar nicht, Aufmerksamkeit muss als Vergütung genügen. Das funktioniert nur, wenn diese Aufmerksamkeit sich in Verkaufszahlen niederschlägt. Dann ist es Werbung, für die Künstler mit einem Werk statt mit Geld bezahlt haben. Das ist nicht unfair, aber unsicher.
Der ÖRR hat die Struktur zur digitalen Distribution deutscher Filme.
Und oft genug ist eine Vergütung zwar da, aber dann ist sie in keinerlei Hinsicht ausreichend. Gerade in der Musik gibt es immer wieder Beschwerden von Künstler – mit einem gefährlichen Gefälle: Bekannte Künstler können den Anbietern ihre eigenen Bedingungen diktieren, unbekannte Künstler müssen sich den Bedingungen der Anbieter unterwerfen. Eine Situation, in der man (auch als gefrusteter YouTube-Nutzer) sehr froh sein kann, dass wir in Deutschland die GEMA haben, die (soweit ich weiß) für alle Künstler die selben Konditionen verhandelt.

Denn beides ist problematisch: Für die unbekannten Künstler, die schlecht bezahlt werden. Und für die Verbraucher, wenn bekannte Künstler die Nutzung ihrer Werke erst unter exklusiven, vielleicht persönlichen Bedingungen bewilligen: Käufer werden diskriminiert. Früher galt: Wer entsprechend bezahlt, bekommt das Produkt. Das ist irgendwie demokratisch. Heute gilt: Wer entsprechend bezahlt und dem Verkäufer (dem Künstler) passt, bekommt das Produkt. Das ist grundsätzlich diskriminierend. Jeder kleinste deutsche Radiosender darf jedes Lied spielen, solange er dafür entsprechend bezahlt – schaut man sich die Allüren einiger Musikstars an, würden die das lieber verhindern.

Solche Probleme sind in Deutschland dank der Verwertungsgesellschaften eher unwahrscheinlich. Und dank der Struktur, der ich am ehesten die digitale Distribution von Filmen in Deutschland zutrauen würde: Den öffentlich-rechtlichen Sendern. Ich werde hier nicht behaupten, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk Künstler immer angemessen bezahlt (Stichwort Buy-Out), aber durch sein öffentlich-rechtliches Selbstverständnis verhindert er einen Grad der Ausbeutung, den es in dieser freien Wirtschaft ja durchaus gibt (Stichwort Online-Journalismus) (möchte ich behaupten).
Abertausende deutsche Produktionen, die in Archiven verrotten.
Denn ja: Ich glaube, wir brauchen hier in Deutschland Strukturen zur digitalen Distribution von deutschen Filmen. Es wird höchste Zeit! Weil es wie im Videospiel eine Welle der Indie-Kreativität bewirken könnte. (Amerikanische Filme sind so an ihren B-Movies gewachsen, es wird doch langsam Zeit für unsere eigenen!) Und weil abertausende deutsche Produktionen in irgendwelchen Archiven ob analog oder digital verrotten und das eine Schande ist. (Wird Smog irgendwann nochmal wiederholt? Oder Acht Stunden sind kein Tag? Kann doch nicht so schwer sein!)

Vor einem halben Jahr habe ich hier kurz MediathekView vorgestellt: Ein Programm, mit dem sich die öffentlich-rechtlichen Mediatheken durchsuchen, einzelne Sendungen herunterladen und bei serieller Ausstrahlung sogar abonnieren lassen. Warum ist dieses Programm so erfolgreich? Weil es so notwendig ist. Und das kann doch keine Überraschung sein: Das Durchsuchen ist so viel komfortabler als in den originären Angeboten der ARD und des ZDFs. Das Herunterladen ist möglich, ganz gleich ob es die Sender erlauben oder nicht – und das müsste soweit ich das beurteilen kann auch ganz richtig so sein:

(1) Zulässig sind einzelne Vervielfältigungen eines Werkes durch eine natürliche Person zum privaten Gebrauch auf beliebigen Trägern, sofern sie weder unmittelbar noch mittelbar Erwerbszwecken dienen, soweit nicht zur Vervielfältigung eine offensichtlich rechtswidrig hergestellte oder öffentlich zugänglich gemachte Vorlage verwendet wird. Der zur Vervielfältigung Befugte darf die Vervielfältigungsstücke auch durch einen anderen herstellen lassen, sofern dies unentgeltlich geschieht oder es sich um Vervielfältigungen auf Papier oder einem ähnlichen Träger mittels beliebiger photomechanischer Verfahren oder anderer Verfahren mit ähnlicher Wirkung handelt.
Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (Urheberrechtsgesetz)
§ 53 Vervielfältigungen zum privaten und sonstigen eigenen Gebrauch

Strukturen, die echtes Nutzer-Feedback ermöglichen
Warum ist dieses so notwendige Programm, das so sehr das Potential hat, junge nicht-fernsehschauende Zuschauer zu erreichen als Produkt eines Dritten und nicht im Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks entstanden? Denn hier haben wir ein Programm, dass die Grundzüge eines Klienten einer digitalen Verkaufsplattform deutscher Filme darstellen könnte. Was ich mir vorstelle: Die Sender stellen ihre Produktionen für den Zeitraum für lau online, der ihnen rechtlich möglich ist, danach ist es aber gegen Geld immer noch möglich, die Sendung zu leihen und zu kaufen – zu sehen. Und verschwindet nicht einfach! Jeder, der schon einmal das sehr erfolgreiche Amazon Prime genutzt hat, kennt das Prinzip.

Und wie großartig wäre das, abseits vom Quoten-Geschwafel Strukturen zu schaffen, die tatsächlich Nutzer-Feedback ermöglichen. Klickzahlen, Punkte-Bewertung, Rezensionen, Kuratoren. Alles vielleicht nicht optimal, aber alles besser als das Quoten-Fischen im Zuschauer-Trüben. Und: Mit einer Konten- und Anmeldestruktur wäre es vielleicht endlich möglich für deutsche Gebührenzahler außerhalb Deutschlands auf die von ihnen bezahlten Produktionen auch zuzugreifen. Die werden derzeit nämlich geogeblockt, es könnte sich ja um einen Ausländer handeln, der die Gebühren nicht bezahlt hat (Erdoğan schaut wohl dennoch). Mit einem Account und einer Verifikation (zum Beispiel der Verknüpfung mit den Daten des Beitragservices) wäre diese Ungerechtigkeit Geschichte.

Ich weiß nicht, ob derzeit so etwas vielleicht schon in Planung ist. Wenn, liebe ARD, liebes ZDF, dann seid ihr trotzdem zu langsam. Ihr seid diejenigen, die das in Deutschland (er-)schaffen können. Die deutschen Zuschauer und die deutschen Filmemacher (und viele künftige Filmemacher) brauchen euch. Es mag viele juristische Hürden geben, die ich hier gerade bequem ignoriere, aber das ist einfach keine Entschuldigung, noch viel länger auf diese Chancen für den deutschen Film und das deutsche Fernsehen zu verzichten.

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