Plot vs. Story – Worüber Drehbuch-Gurus NICHT sprechen

Der Plot ist nur die Spitze des Eisbergs einer Geschichte
Urheber: mikekiev / 123RF Lizenzfreie Bilder

Warum funktioniert Drehbuchtheorie, auch wenn sie auf dem Papier gut klingt, in der Praxis nur selten? Warum bedankt sich bei der Oscar©-Verleihung niemand bei Syd Field, Robert McKee oder Blake Snyder? Nein, es liegt nicht am Umschlag, der die falsche Laudatio enthält. Der Grund
ist vielmehr darin zu suchen, dass die meisten Drehbuch-Modelle sich zwar eifrig am Plot abarbeiten, wir als Autor*innen es aber mit einer Story zu tun haben. Und Himmel, was für ein Unterschied!

Plot ist die Spitze, Story der gesamte Eisberg.

Was ist ein Plot? Ein Plot ist der sichtbare Teil einer Geschichte, die Spitze des Eisbergs. Ganz grob können wir sagen: In der Regel sind 10 Prozent einer Geschichte der Plot, 90 Prozent aber sind die Vorgeschichte.

Die Story hingegen ist der gesamte Eisberg. Der sichtbare und der unsichtbare Teil.

Die Drehbuch-Gurus dieser Welt halten diesen Unterschied offenbar nicht für erwähnenswert und man muss annehmen, dass er Ihnen nicht ausreichend bewusst ist. Drehbuchtheorie, so wie wir sie kennen, ist eigentlich bloß Plot-Theorie. Was also fehlt, ist eine Theorie der

Drehbuchtheorie, so wie wir sie kennen, ist eigentlich bloß Plot-Theorie.

Betrachten wir ein berühmtes Beispiel: THE GODFATHER von Francis Ford Coppola und Mario Puzo. Auf der Plot-Ebene haben wir es mit einem blutigen Bandenkrieg zu tun. Man könnte sagen: Der Plot folgt – und das Szene für Szene – der Logik des Krieges. Zuerst die gescheiterten Verhandlungen zwischen Don Corleone und Sollozzo, dann das Attentat (die „Kriegserklärung“), das Sich-Verbarrikadieren, Spionieren, Verhandlungen, Abkommen, Geißelnahmen, geheime Killerkommandos und schließlich der Überraschungsangriff, mit dem der inzwischen zum Paten aufgestiegenen Michael Corleone die alten Machtverhältnisse wiederherstellt.

In einem Interview, das im Bonusmaterial der im Übrigen äußerst empfehlenswerten „Coppola Restoration“ enthalten ist, spricht der Regisseur allerdings vom „Paten“ nicht als einem Kriegsfilm (und das wäre wohl auch kaum zutreffend). Stattdessen erklärt er uns, er habe eine „succession story“ erzählen wollen, als die Geschichte einer Thronfolge.

Solche „Nachfolger“-Geschichten gibt es viele. Netflix hat derzeit gleich zwei am Start: „The Crown“ über die junge Queen Elisabeth und „Designated Survivor“ über einen einfachen amerikanischen Kongressabgeordneten, der nach einem Terroranschlag plötzlich Präsident wird. Eine komische Variante derselben Geschichte ist „King Ralph“ mit John Goodman als wenig königlichem Amerikaner, der in den Buckingham Palace einzieht, nachdem das gesamte britische Königshaus von einem Stromschlag dahingerafft wurde.

Succession stories begegnen uns nicht nur im Film. Das Grimm’sche Märchen „Die Drei Federn“ handelt von einem alten König, der drei Söhne hat. Zwei davon gelten als klug und gescheit, der dritte hingegen als ein Dummbart und Taugenichts. Der König schickt sie alle drei los, um eine Reihe von Prüfungen zu bestehen. Und siehe da, der vermeintlich einfältige, von allen belächelte Nichtsnutz von einem Sohn erweist sich als Einziger würdig, seinen Vater als König zu beerben. Soweit der Plot.

Doch was ist hier die Story? Nun, im Grunde habe wir es hier mit der erwachsenen Variante einer „Coming-of-age“-Geschichte zu tun: Ein Mensch findet sich, unfreiwillig zumeist, in eine Rolle gedrängt, die ihn überfordert und der er, zumindest am Anfang, nicht gewachsen scheint. Eine Rolle, die er vielleicht nie haben und die ihm auch nie jemand geben wollte. Eine Rolle, für die es ihm an Autorität fehlt, aber auch an Wissen und Erfahrung. Willkürlich scheint er dazu bestimmt, etwas Übermenschliches zu vollbringen. Etwas, das kein Sterblicher vollbringen kann und für das er einen hohen Preis bezahlen muss. Vielleicht einen zu hohen.

Die heimliche Botschaft vieler dieser Geschichten ist dennoch eine Positive: Natürlich wissen wir, dass der naive Held mit dem reinen Herzen der großen Aufgabe gewachsen sein wird, wie kein Zweiter. Wir wissen, dass in ihm ein heimlicher König steckt oder eine Königin. Woher wir das wissen? Nun, vielleicht ist es ja nur eine Story-Konvention, die so tief in unserem kollektiven Unbewusstsein verankert ist, dass wir sie mit der Wirklichkeit verwechseln. Vielleicht ist es aber auch eine Vision, ein Traum, der in vielen von uns schlummert. Dass wir mehr sind, als dass, was wir zu sein scheinen.

Was ist aus unserer Sicht die wahre menschliche Natur?

Wenn wir nun also eine solche Geschichte variieren wollen, dann nützt uns das „Drei-Akt-Modell“ offensichtlich nur sehr wenig. „Nachfolge“-Geschichten handeln von Menschen, die an Selbstzweifeln leiden. Die sich vor unmögliche Entscheidungen gestellt sehen. Die ihre persönlichen Bedürfnisse immer zurückstellen müssen zugunsten der „höheren“ Aufgabe. Die so viel Verantwortung tragen, dass selbst der kleinste Fehler katastrophale Konsequenzen haben kann. Wie können wir Entscheidungen treffen, wenn wir nicht alle Fakten kennen? Was passiert mit einem Verräter aus den eigenen Reihen? Wie werden wir uns verändern, wenn wir die Rolle annehmen? Wird das System uns unserer Menschlichkeit berauben? Oder wird es uns möglich sein, ein reines Herz zu bewahren und ein guter König zu werden? Das sind natürlich nur ein paar wenige Fragen, die mir ganz spontan einfallen.

Autor*innen, die mit einem Stoff zu mir kommen, der für mich wie eine „Succession story“ klingt, rate ich, sich zunächst eingehend mit diesem „Genre“ zu beschäftigen. Was sind die Herausforderungen, denen ein Protagonist auf diesem Weg begegnet? Auf welche emotionale Reise begibt er sich und was macht diese Reise mit ihm, wie verändert sie ihn? Was davon wurde schon tausendmal erzählt und was noch nicht? Was ist unser ganz persönlicher Blickwinkel auf dieses Thema? Und letztlich die Frage: Was ist aus unserer Sicht die wahre menschliche Natur?

Die Kunst des Erzählens ist eine Kunst des Variierens.

A propos, die Natur macht es vor: Kreation ist Variation. In ähnlicher Weise können wir sagen: Die Kunst des Erzählens ist eine Kunst des Variierens. Doch die Story-Modelle, die uns zur Verfügung stehen, sie sind nicht in Stein gemeißelt, sondern ihrerseits der Veränderung unterworfen. In einem fortwährenden Prozess beständiger Selbst-Optimierung.

Sicherlich wäre es wunderbar, als Autor*in einen Atlas sämtlicher möglicher Geschichten zu haben, wie es uns die Vertreter der „Masterplot“-Theorie so gern versprechen. Allein, dieser Atlas wird niemals aktuell sein und sich immer lesen, wie die Tageszeitung von gestern oder der Reiserführer vom letzten Jahr.

Wir müssen nicht mit jeder Geschichte das Rad neu erfinden.

Dennoch sollten wir uns bewusst sein, dass wir das Rad nicht mit jeder Geschichte neu zu erfinden brauchen. Wir müssen uns aber darüber klarwerden, dass wir nichts Neues erschaffen können, indem wir nur hier und da ein wenig an der Oberfläche kratzen. Wir müssen hinabtauchen zum dunklen Grund des Meeres. Dorthin, wo der Eisberg, der unsere Geschichte ist, seinen Ursprung hat. Sozusagen.

Mit Geschichten ist es letztlich wie mit Menschen: Erst wenn wir verstehen, was sie alle verbindet, lernen wir sie auch in ihrer Einzigartigkeit schätzen und lieben.

5 Gedanken zu „Plot vs. Story – Worüber Drehbuch-Gurus NICHT sprechen“

  1. BItte hört mit dieser *-Gender Politik auf. Das ist eine ungemein anbiedernde und hässliche Art, sich mit Lesern in Verbindung zu setzen. Uäh

  2. Guter Artikel, wichtig…
    Denn die meisten „Entscheider“ in der Branche kennen ja nicht mal den Unterschied zwischen Story und Plot, gebrauchen beide Begriffe als Synonyme. Sie sind übrigens auch ganz scharf aufs Mit-Plotten. Da kann jeder mitmachen, meinen sie.
    Was ist aber, wenn Plot – Ideen nicht zur Story passen? Dann müssen beim Autor alle Warnlampen angehen. Sonst kann er Buch oder Treatment in die Tonne werfen.

  3. Ein Buch, das ich gerade allen empfehle, ist STORY GENIUS von Lisa Cron. So deutlich hat mir selbst noch niemand den Unterschied zwischen Story und Plot erklärt.

  4. Die Filmschreiben-Redaktion macht diesbezüglich keine Vorgaben. Ich persönlich bin als Autor und Mensch bemüht, dem Thema Geschlechter nicht nur in der Sprache, sondern auch in meinem Denken und Handeln gerecht zu werden. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich das auch in Zukunft so beibehalten möchte, auch auf die Gefahr hin, dass Sie das „hässlich“ und „anbiedernd“ finden.

Schreibe einen Kommentar