Psychologische Grundkonflikte VII – Identität

Beide, meine Frau und meine Tochter, halten mich für einen totalen Verlierer. Und, sie haben recht. Ich habe etwas verloren. Ich bin mir nicht ganz sicher, was es ist, aber ich weiß, ich habe mich nicht immer so gefühlt. So betäubt! Aber wissen sie was? Es ist niemals zu spät, es sich zurückzuholen!

Lester Burnham (Kevin Spacey) in AMERICAN BEAUTY (USA, 1999)

Dieser Artikel behandelt einen der sieben psychologischen Grundkonflikte und baut damit auf meinen allgemeinen Ausführungen zur Psychodynamik auf. Ebenfalls bereits erschienen sind Artikel zum Abhängigkeits- vs. Individuationskonflikt, zum Unterwerfungs- vs. Kontrollkonflikt, zum Versorgungs- vs. Autarkiekonflikt, zum Selbstwertkonflikt, zum Schuldkonflikt und zum ödipalen Konflikt.

Was Lester Burnham in AMERICAN BEAUTY verloren hat, ist seine Identität. Die Identität im psychologischen Sinne beschreibt die Selbstdefinition eines Menschen, also die eigene Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“. Eine sichere Identität entsteht durch Identifikation einerseits und Abgrenzung andererseits. Identifikation bedeutet, sich selbst über Eigenschaften zu beschreiben, die sich aus der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen ableiten, da sie für diese Gruppen als konstitutiv oder typisch wahrgenommen werden. Man spricht hier von der sozialen Identität. Wenn ein Lannister immer seine Schulden begleicht und Tyrion Lannister aus GAME OF THRONES sich mit diesem Familienmotto identifiziert, kann er sich selbst als ehrbaren und vertrauenswürdigen Menschen definieren.

Identität: Wer bin ich? Wo gehöre ich hin? Was macht mich einzigartig?

Während die soziale Identität die Frage beantwortet „Wo gehöre ich hin?“, bedarf es daneben auch der Beantwortung der Frage „Was macht mich einzigartig?“, also der Abgrenzung des Selbst gegenüber Anderen. Daenerys erlebt sich selbst als Targaryen, wild und ungezähmt, mit absolutem Herrschaftsanspruch. Neben dieser sozialen Identität, definiert sie sich jedoch auch als Sturmtochter, Mutter der Drachen, Sprengerin der Ketten und so weiter, fähig zu Gnade und Ratio, mit dem Anspruch, die Welt nicht nur zu beherrschen, sondern auch zu einem besseren Ort zu machen – persönliche Eigenschaften und Ideale, welche sie innerhalb ihrer Dynastie abgrenzen und einzigartig machen.

Entwicklungspsychologisch wird die Ausbildung einer grundsätzlich stabilen und dabei hinreichend flexiblen Identität als zentrale Entwicklungsaufgabe des Jugendalters gesehen. Jedoch kann die Identitätsentwicklung auch mit Ende der Pubertät keineswegs als abgeschlossen betrachtet werden, selbst wenn Identitätsunsicherheiten in vielen Fällen dann nicht mehr so gravierend empfunden werden und Selbstwahrnehmung sowie soziale Beziehungen im besten Falle nicht mehr so intensiv durcheinanderwirbeln.

Gelingende Identitätsentwicklung als Heldenreise

In fiktionalen Stoffen ist die Identitätsentwicklung ein Lieblingsthema, weil es uns allen vertraut und damit intuitiv verständlich ist. „Ich bin Odysseus“ weiß dieser am Ende der Odyssee selbstbewusst zu verkünden. Die Unsicherheit angesichts einer Identität, die sich noch nicht in ausreichendem, für den Betroffenen greifbarem Maße herausgebildet hat, wird uns in den Erzählungen oft als manifeste Unkenntnis der eigenen Herkunft versinnbildlicht. Paris von Troja und Ödipus von Theben, Luke Skywalker und Harry Potter, Jon Snow und Dexter Morgan – sie alle wissen, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne, nicht, wer sie sind. Filmisch wird die gelingende Identitätsentwicklung dann oft als Heldenreise dargestellt, zu der ich an dieser Stelle nichts weiter schreiben und stattdessen auf die vielen großartigen filmschreiben-Texte zum Thema verweisen möchte, zum Beispiel die sehr anschaulichen Ausführungen von Ron Kellermann.

Aus psychotherapeutischer Sicht mindestens ebenso spannend, wie die vielen verschiedenartigen Wege zu einer sicheren und gleichzeitig hinreichend flexiblen Identität, sind die Figuren, welche daran (zunächst) scheitern. Psychodynamisch gesprochen, gelingt ihnen keine ausgewogene, moderate Lösung des inneren Konflikts zwischen Identitätssicherheit und Identitätsflexibilität.

Identitätskonflikt als Konflikt zwischen Identitätssicherheit und -flexibilität.

Wem ersteres fehlt, der wird als Persönlichkeit wenig sichtbar, wirkt überangepasst und beliebig, ist suggestibel und irritierbar. Es fehlt ihm an Identifikationsobjekten, deren positive Eigenschaften sich in der eigenen Person wiederfinden und den eigenen Selbstwert steigern. Ein negatives Selbstbild, bis hin zu depressiven Symptomen, Abhängigkeit und Unterordnung in sozialen Beziehungen und quälende Unklarheit über die eigenen Motive, Bedürfnisse und Ziele, können die Auswirkungen eines solchen einseitig passiven Konfliktlösungsmodus sein.

So scheint es Lester zu Beginn von AMERICAN BEAUTY zu gehen. Depression und Selbstverachtung, bei gleichzeitiger selbstmitleidiger Passivität, zeichnen seinen Umgang mit dem Fehlen einer stabilen und positiv besetzten Identität aus: „Vierzehn Jahre bin ich Hure der Werbebranche gewesen. Ich könnte mich nur noch retten indem ich Brandbomben werfe.“

Dem gegenüber steht als anderes Extrem das aktive, aber unflexibel-forcierte Bemühen um eine möglichst starke, möglichst durchgängig positive Identität, welchem ebenso wie im passiven Modus eine gravierende Identitätsunsicherheit zugrunde liegt, die aber hier aktiv verdrängt und überspielt wird. Wenngleich hier oberflächlich große Identitätssicherheit vorliegt, fehlt es dafür an Flexibilität. Eine Überidentifikation mit einzelnen, hervorstechenden Eigenschaften der eigenen Person, der Lebensweise oder der sozialen Gruppe, welcher man sich zuordnet, verhindert, dass die Betroffenen in vielen unterschiedlichen Lebensbereichen und Situationen jeweils flexibel die verschiedenen Facetten ihrer Persönlichkeit akzentuieren können, um den aktuellen Anforderungen gerecht zu werden.

Lester fällt, nachdem er seinen passiven Modus bewusst aufgibt, zunächst in dieses andere, entgegengesetzte Extrem:

Ein 1970er Pontiac Firebird. Der Wagen, den ich immer wollte. Und jetzt hab ich ihn. Ich bin klasse!

Blanker Hedonismus und forcierte Selbstzufriedenheit ersetzen ihm die Auseinandersetzung mit der Komplexität seiner vielen verschiedenen Persönlichkeitsfacetten und sozialen Rollen. So fühlt er sich zwar zunächst besser, als in der vorangegangenen Phase von Entfremdung und Selbstverleugnung, nimmt jedoch nicht wahr, dass er für andere ebenso unzugänglich bleibt und wichtige soziale Verantwortungen, vor allem für Jane, Ricky und Angela, zu deren Schaden vernachlässigt. Es ist auch zu bezweifeln, dass Lester langfristig mit seinem Pontiac Firebird, dem Job im Burgerladen und ein Bisschen Kiffen und Bankdrücken glücklich geblieben wäre. Es kommt ja ohnehin anders…

2 Comments

  1. Wirklich sehr spannend! Im ersten Teil Deiner Serie sagst Du, dass schon Freud sich mit dem Thema „Psychologische Grundkonflikte“ beschäftigt hat. Geht die Liste der sieben auch auf ihn zurück? Und der Begriff „Psychodynamik“? Und gesetzt den Fall, dass ich in meinem Bücherregal noch eine alte Freud-Studienausgabe zu stehen hätte: An welcher Stelle müsste ich sie aufschlagen, um mehr über das Thema zu erfahren? Oder hast Du sonst noch einen Lesetipp für Psychologie-Amateure wie mich? Danke!

    27. November 2017
  2. Lieber Alex,
    vielen Dank! Der Begriff Psychodynamik geht meines Wissens nicht auf Freud zurück, aber er hat das was wir heute darunter verstehen – die Interaktion größtenteils unbewusster motivationaler Kräfte – entscheidend geprägt. Er ging allerdings noch von einer übergeordneten, quasi letzten, Triebkraft, der Libido aus, weshalb er neurotische Konflikte meist ödipal verstanden hat. Weitere, gleichwertige Konfliktthemen sind im Laufe der Zeit von anderen Autoren differenzierter herausgearbeitet worden (Macht/Kontrolle z.B. von Alfred Adler, Identität z.B. von C.G. Jung, Selbstwert von Heinz Kohut usw.). Eine moderne Einführung, auf der auch meine Artikelreihe basiert, bietet das Standardwerk ‚Operationalisierte psychodynamische Diagnostik (OPD-2)‘.

    30. November 2017

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