Wie wichtig ist die Backstory einer Figur? Wann sollte sie erzählt werden und wann nicht?
Es gibt zwei verschiedene Arten von Informationen aus der Backstory einer Figur: Informationen, die die Autorinnen und Autoren brauchen, um die Figur besser zu verstehen und zu führen, die aber nicht erzählt werden müssen (und die deshalb hier nicht interessieren). Und Informationen, die das Publikum braucht, um die Figur und die Geschichte zu verstehen, die also erzählt werden müssen, weil sie eine bestimmte dramatische Funktion für die Geschichte und damit eine bestimmte Wirkung auf das Publikum haben.
Die Betonung liegt hier auf „verstehen“. Denn genau das ist das Problem: Erzählte Backstory-Informationen haben erklärenden Charakter. Sie erklären, warum die Figur so geworden ist wie sie ist. Damit bremsen sie aber jedesmal automatisch die Dynamik der „Frontstory“-Erzählung aus, also der Geschichte, die in der Gegenwart spielt. Man sollte sich also besser einmal mehr überlegen, ob man eine Information aus der Backstory einer Figur tatsächlich erzählen muss, und es sein lassen, wenn man keinen triftigen Grund dafür hat – wenn die Information keine dramatische Relevanz hat (zum Thema „dramatische Relevanz“ siehe auch: Erzählökonomie). Nur weil es cool ist, was man sich ausgedacht hat, reicht nicht aus. Dafür die Dynamik der Gegenwartserzählung auszubremsen, ist es nicht wert. Zwei dieser triftigen Gründe für das Erzählen einer Backstory sind beispielsweise, Empathie für die Figur zu erzeugen und ihre Motivation nachvollziehbar zu machen.
Ich will in diesem Text zwei Backstory-Erzählungen miteinander vergleichen. In der einen ist die Backstory dramatisch relevant, in der anderen ist sie dramatisch irrelevant: die Backstory der Figur Mike aus BETTER CALL SAUL und die Backstory der Figur Dominik aus BLOCHIN.
Zugegeben: Der Vergleich ist nicht ganz fair. BETTER CALL SAUL hat eine wesentlich längere Erzählzeit als BLOCHIN und kann sich also entsprechend mehr Zeit nehmen, um eine Backstory zu erzählen. Dennoch dürfte deutlich werden, inwiefern die Backstory von Mike eine klare und im Hinblick auf die Wirkung beim Publikum wichtige Funktion erfüllt und deshalb erzählt werden muss, und inwiefern die Backstory von Dominik keine ausreichende Funktion erfüllt und Matthias Glasner besser darauf verzichtet hätte, sie zu erzählen.
Die Backstory der Figur Mike in BETTER CALL SAUL
Mike war Polizist in Philadelphia. Wie seine Kollegen war auch er korrupt. Die Korruption hatte System: Wenn alle Polizisten korrupt sind, dann kann keiner den anderen drankriegen, ohne sich selbst zu verraten. Nur Mikes Sohn wollte nicht mitmachen. Als sein Kollege und Vorgesetzter ihm Geld anboten, fragte er Mike um Rat. Mike riet ihm, das Geld anzunehmen. Denn wenn er das Geld nicht annimmt, dann vertrauen ihm seine Kollegen nicht und er schwebt in Lebensgefahr, da er sie ins Gefängnis bringen kann. Und das ist das Schlimmste, was einem Polizisten passieren kann: in den Knast zu müssen, dorthin, wo all die sitzen, die er da hingebracht hat.
Nachdem er den Schock, dass sein Vater korrupt ist, überwunden hatte, ließ sich Mikes Sohn darauf ein. Als er das Geld jedoch annehmen wollte, zögerte er einen Moment zu lange. Sein Kollege und sein Vorgesetzter wurden misstrauisch, erschossen ihn und legten eine falsche Fährte. Mike wusste jedoch, dass nur die beiden die Mörder sein können. Also stellte er ihnen eine Falle, erschoss sie ebenfalls und quittierte seinen Dienst.
Dieser Backstory widmet BETTER CALL SAUL eine ganze Folge und erzählt sie auf drei Zeitebenen.
Warum wird diese Backstory erzählt? Inwiefern ist sie relevant? Was ist ihre Funktion und welche Wirkung erzielt sie beim Publikum? Dass Mikes Sohn ermordet wurde, ist ein „ungerechtfertigtes Leid“ (siehe hierzu auch Wie man Identifikation erzeugt – und wie nicht und meine Antwort auf den Kommentar von Rainer Butt zu Was macht eine Qualitätsserie eigentlich zu einer Qualitätsserie – Teil I).
Die Funktion eines „ungerechtfertigten Leids“ ist es, Empathie beim Publikum zu erzeugen. Wir verstehen, warum Mike so freudlos ist und können mitfühlen.
Obwohl Mikes Sohn auch dann umgebracht worden wäre, wenn Mike ihm nicht geraten hätte, das Geld anzunehmen, fühlt Mike sich schuldig. Dieses Schuldgefühl ist seine Motivation, sich im weiteren Verlauf von BCS auf krumme Geschäfte einzulassen, um mit dem Geld seine Schwieger- und Enkeltochter zu unterstützen. Würden wir diese Motivation nicht kennen, wäre er für uns nur irgendein Kleinkrimineller, der sich etwas Geld dazu verdienen will.
Mikes Backstory hat also zwei Funktionen: Sie erzeugt Empathie und lässt uns nachvollziehen, warum er krumme Geschäfte macht. Wir haben also Verständnis für ihn. Wir sehen ihn aufgrund der Backstory in einem anderen Licht.
Die Backstory der Figur Dominik in BLOCHIN
Dominik ist Blochins Vorgesetzter und zugleich der Bruder von Blochins Frau Inka, die an MS erkrankt ist. Inka und Dominik haben ein sehr enges Verhältnis zueinander. Blochin nennt Dominik immer „Lieutenant“, auch Blochins und Inkas Tochter Grille nennt ihn so. Dominiks Backstory wird bei einem seiner Besuche bei Blochin, Inka und Grille erzählt:
Grille
Warum heißt du eigentlich Lieutenant?
Dominik
So heiß ich nicht, so nennt mich immer dein Papa.
Blochin
Onkel Lieutenant war mal Polizist in Amerika, Quantico, beim FBI.
Grille
Wow.
Das ist alles. Warum wird diese Backstory erzählt? Was sind ihre dramatische Relevanz und Funktion? Zunächst einmal wirkt die Situation, in der Grille Dominik diese Frage stellt, konstruiert. Dominik scheint ein regelmäßiger Gast bei Blochin, Inka und Grille zu sein. Grille begrüßt ihn am Anfang der Szene freudig mit „Lieutenant“. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn längst gefragt hat, warum er „Lieutenant“ genannt wird, ist also sehr groß. Die, dass sie ihn erst jetzt fragt, sehr gering.
Unmittelbar vor diesem Dialog erklärt Inka Grille übrigens, was sie beruflich macht und dass sie so eine Art Detektivin ist wie Grilles Papa und der Lieutenant, womit sie Grille das Stichwort gibt, Dominik zu fragen, warum er so heißt. Offensichtlich hat Inka einen neuen Job, trotzdem ist es recht unplausibel, dass sie Grille bisher noch nichts davon erzählt hat. Auch dieser Dialogteil ist also konstruiert. Das heißt, innerhalb eines Dialoges wird die Charakterisierung einer Figur und mittels einer Backstory-Erzählung die Charakterisierung einer anderen Figur erzählt. Dass ein solcher Dialog keine Dynamik haben kann, liegt auf der Hand. Ihn so zu gestalten, kann man nur als schlechtes Erzählen bezeichnen (zur Dialogarbeit in BLOCHIN siehe auch Mutet uns mehr zu – erklärende und erzählende Dialoge in BLOCHIN.
Zurück zur Backstory: Ihr Problem ist, dass sie außer der Charakterisierung von Dominik keine dramatische Funktion erfüllt. Diese Charakterisierung hat jedoch keine dramatische Relevanz. Würde Blochin Dominik nicht Lieutenant nennen und wäre Dominik nicht beim FBI gewesen, würde sich weder die Geschichte verändern, noch würden wir Dominik anders sehen, mit ihm mitfühlen und sein späteres Handeln – beispielsweise als er den Kriminellen Garbo kaltblütig von hinten erschießt – nachvollziehen können. Mit anderen Worten: Die Erzählung dieser Backstory bringt keine Vorteile und ist deshalb überflüssig.
Wo ist beim Blochinbeispiel eigentlich die Story? Eigentlich ist es nur eine Information zum Hintergrund einer Figur.
Das andere Beispiel ist ja tatsächlich eine Geschichte.
Hallo Wall-E,
das ist es ja: Es ist noch nicht einmal eine Story. Trotzdem ist es Backstory, weil es Informationen aus der Vergangenheit sind. Nur eben keine gute Backstory.
Viele Grüße
Ron
Mal eine dumme Frage, ich habe Blochin nicht gesehen. Stellt Grille die logische Frage, warum die andere Figur nicht mehr beim FBI ist?
Hätte eine interessante Antwort auf eine logische Frage werden können. Aber nein, sie stellt sie nicht. Sie fragt, warum er Lieutenant heißt und sagt dann wow, das war´s.