Strukturiert-systematische Drehbuchentwicklung: Ein Beispiel mit Erfahrungsbericht (4/4)

Über die Arbeit mit dem PCM-EM Schema und dessen möglicher Einfluss auf das serielle Erzählen. Im Zuge der Entwicklung von Serien für moderne Streamingformate gewinnt eine hochstrukturierte systematische Vorgehensweise bei der Entwicklung von Drehbüchern zunehmend an Bedeutung. Gefragt sind deshalb Vorgehensmodelle, die es Autor und Autorin ermöglichen eine strukturierte Übersicht über das eigene Schaffen zu erhalten und diese innerhalb des eigenen Schaffensprozesses auch zu behalten. Außerdem soll es den restlichen Werkbeteiligten und Entscheidungsträgern wie beispielsweise Showrunnern, Storylinern und dergleichen erleichtert werden, sich in ähnlicher Weise eine Übersicht über die Arbeit der anderen Projektbeteiligten zu verschaffen. Die gängige Praxis in diesem Bereich lässt sich somit um ein weiteres Vorgehensmodell bei Bedarf ergänzen. (Eine Ausführliche Einführung und Erläuterung hierzu liefert »Der German Room« von Timo Gössler und Katrin Merkel.)

Rolf W. H. Schneider ist Mathematiker, IT-Entwickler und Konstrukteur im Automotive-Bereich, mit einem Hintergrund in Physik, Maschinenbau und von Jugend an dem Interesse Filme zu machen und Theaterstücke zu schreiben. Er sagt: Dramen lassen sich auch als dynamisches Programm verstehen. Die Entwicklung seines theoretischen Ansatzes hat er, angeregt durch Schulungen und Fortbildungen der Münchner Filmwerkstatt, der HFF München, IFFMA und der Master School Drehbuch in einem eigenen dramaturgischen Kurs mit Studierenden an der Universität Ulm erarbeitet und in kreativen Projekten unter Zuhilfenahme eigens dazu entwickelter Software vervollkommnet. Die hier kurz vorgestellten Strukturmodelle wurden von ihm 2020 im Fachbuch »Strukturmodelle für die moderne Filmdramaturgie: Prozessorientierte Verfahren und deren Anwendung zur Gewinnung und Analyse von Handlung und Figuren« beschrieben.

Zu den ersten beiden Artikeln der vierteiligen Serie, die sich dem PCM-EM Schema widmet, geht es hier entlang.

PCM-EM und die Gestaltung des Drehbuchtexts

Mit den zuvor gegebenen Prämissen lässt sich jetzt der folgende Drehbuchtext erstellen. Dafür können wir aus den Matrix-Elementen der Empathiematrix vom Anfang nochmals die Grundhaltung und die Erwartungen von Mona und Paul ersehen, um so einen passenden Dialogeinstieg zu finden:

EM EndePAULMONA
PAULPaul ist generell unsicher und fühlt sich nicht wohl in seiner Haut.Er ist sich seiner Gefühle zu Mona unsicher, hat ein vages Bild von ihr.
MONASie ist ähnlich aufgeregt wie Paul und hat auch nur ein vages Bild von ihm im Kopf.Mona ist sich ihrer nicht sicher, da sie bei anderen Datings schon verschiedene Überraschungen erlebt hat.

Int. Bistro-Café – Münchner Innenstadt – TAG

Ein Bistro-Cafe in der Münchner Innenstadt an einem sonnigen Nachmittag. Es ist gerade Feierabend und der Gastraum füllt sich langsam mit Geschäftsleuten und Touristen. PAUL betritt das Lokal und sieht sich nach seiner Datingpartnerin um. Nach kurzem Suchen bemerkt er schließlich MONA an einem Tisch in der Nähe des großen Ladenfensters, auf den er unvermittelt zusteuert.

Paul

(schüchtern) Äh …

Mona

Sie sind, ich meine Du bist.

Paul

Paul.

Mona

Ja.

Paul

Ich meine.

Mona

Ja.

Paul lacht bezüglich der Situation.

Paul

Wir haben den gleichen Humor – glaube ich. Ich bin Paul.

Mona

Das sagtest Du bereits.

Beide lachen.

Paul

Ist schon witzig. Ich mache das jetzt zum ersten Mal.

Mona

Wie?

Paul

Naja, jemanden treffen – über ’ne Dating-App meine ich.

Mona

Ich kann Dich beruhigen. Man gewöhnt sich daran.

Paul

Oh, Du bist dating-erfahren – sozusagen.

Mona

Sozusagen. (lacht) Ja die Technik.

An dieser Stelle wollen wir die Entwicklung des Drehbuchtexts unterbrechen und uns fragen, was uns denn die Verwendung von Empathie- und Aktionenmatrix des PCM-EM Schemas hier speziell im Hinblick auf die Entwicklung des Drehbuchtexts gebracht hat. Meine eigene Erfahrung, die ich auch an dieser Stelle mit einbringen möchte, ist, dass durch Vorliegen der genannten Schemata auch die Entwicklung des Textes einfacher gelingt. Die aktuelle Eigensicht und Haltung der Figuren zueinander, stets präsent über EM und AM helfen mir, z.B. nicht in einen anderen Sprachduktus zu verfallen und auch, so hoffe ich, die emotional und den Gegebenheiten angepassten Worte für die Figuren zu finden. Beispielsweise ist Paul, wie wir aus den Empathiematrizen ersehen können, sich seiner unsicher, versucht diese Unsicherheit durch Witz zu überspielen. Mona, bei der wir uns vor Augen halten, dass sie dating-erfahren ist, versucht die ganze Sache mit einer gewissen Skepsis zu kontrollieren.
Die aktuelle Eigensicht und Haltung der Figuren zueinander ist stets präsent über Empathie- und Aktionenmatrix.
Ein weiterer Aspekt ist auch, dass man bei Vorliegen der Emapthiematrizen und der Aktionenmatrix des PCM-EM Schemas sich schnell wieder in die Situation einfinden kann. Dies ist wichtig, wenn der Text einmal länger liegen bleibt, z.B. durch Rückstellung der Szene weil gerade die Prioritäten etwas anders gesetzt sind. Ein kurzes Fazit an dieser Stelle: Der Versuch war, Pauls Schüchternheit und Unsicherheit in den Text einzubauen, die er aber durch ein bestimmtes Maß an Forschheit zu überspielen sucht. Mona allerdings ist ja, wie wir wissen »dating-erfahren« und bezüglich dieser Erfahrungen etwas reservierter. Wie wir also gesehen haben, ist hier der Blick auf die Empathiematrizen und die Aktionenmatrix je nach Arbeitsmethodik der Textgestaltenden, mehr oder minder hilfreich. Doch weiter in der Handlung.

Mona und Paul lernen sich jetzt also kennen und entdecken ihre Gemeinsamkeiten und auch das, was sie trennt. Wir wollen aber an der Stelle weitermachen, in der Fred ins Spiel kommt.

Int. Bristro-Cafe – Münchner Innenstadt – Tag

Im Bistro ist es lauter und auch voller geworden. FRED, der Jugendfreund von Paul betritt den Gastraum. Bemerkt dann nach kurzem Umschauen Paul und Mona.

Fred

Paul, na wenn das kein Zufall ist. Wie lange…, seit wann. Willst Du mir nicht Deine hübsche Begleitung. Oh entschuldigt bitte, Ihr wollt sicher ungestört sein.

(Ironische Randbemerkung meinerseits. In dem Moment als ich diese Zeilen schrieb, sah ich Javier Bardem in seiner Rolle als Raoul Silva in James Bond Skyfall vor mir.)

Paul

Nein, nein. Komm rüber. (zu Mona) Oh. Es ist Dir doch recht, dass Fred sich zu uns setzt.

Fred

Ich will wirklich nicht stören. Muss sowieso gleich wieder ins Priesterseminar.

Paul

(zu Mona) Darf ich Dir Fred vorstellen. Ein wahrer Mann Gottes.

Mona

(zu Fred) Du bist Pfarrer.

Fred

(voll Inbrunst) Nein, nein ich w e r d e Pfarrer.

Wir blicken zurück auf die Anfangs-EM bezüglich der Relation Paul-Fred.

EM AnfangPAULFRED
PAULPaul ist generell unsicher und fühlt sich nicht wohl in seiner Haut.Er schätzt Fred als treuen Jugendfreund und wegen seiner Intelligenz als Berater. Er folgt oft seinem Rat.
FREDHat eine homoerotische Beziehung zu Fred entwickelt, die er sich selbst nicht wirklich eingestehen möchte.Er steckt in einem Dilemma zwischen seiner Homosexualität und seiner streng religiösen Überzeugung. (Der Priesterberuf bietet Fred allerdings ein Entkommen daraus.)

Halten wir uns dies also vor Augen, so ist die Entwicklung dieser Szene in der gegebenen Weise nachvollziehbar. Auch hier kann ein nochmaliger Blick auf die Anfangs-EM der Autorin oder dem Autor wertvolle Hilfe geben. Wie wir ja zudem im Text sehen, hat Paul vertrauen zu Fred. Fred verhält sich vornehm zurückhaltend und höflich, er kann aus den, in den Empathiematrizen dargestellten Gründen d.h. insbesondere durch sein eigenes Dilemma sein Ziel nur durch »vorsichtiges Taktieren« erreichen.

Orientiert an unserem Diagramm der Spannungsbögen (mit jeweils einer Zahl in Klammern bezeichnet, die auf das Schaubild verweist), könnte es demnach so weitergehen:

Mona wird jetzt etwas aus ihrem Leben erzählen, ohne dass Fred allzu neugierig nachfragen wird. Er kommentieren dies anfangs eher mit einer gewissen Wertschätzung für Mona (noch 2). Es werden sich Parallelen zwischen Mona und Fred ergeben, die für Fred eine verletzliche Flanke von Mona aufzeigt, beispielsweise könnte Mona als Studentin einmal für einen Escort-Service gearbeitet haben. (Wie Fred dies aber als Pfarrer erkennt, lasse ich an dieser Stelle offen.) Jetzt sieht er also die Chance, sie so gegenüber Paul sukzessive und fälschlicherweise zu demaskieren und zu demontieren (3).
Das Vorgehen über die Empathiematrizen zwingt den Autor oder die Autorin, alle relevanten Charaktere ständig im Auge zu behalten.
Mona wird ebenfalls Argumente finden, um sich zu verteidigen, sie verweist auf ihre prekäre finanzielle Lage als Studentin und dass alles »ganz harmlos« gewesen sei (4). Fred zieht hier sein letztes Ass aus dem Ärmel und weist nach, dass der Escort-Service, für den Mona gearbeitet hat, in einen kürzlich aufgedeckten Prostitutionsskandal verwickelt war und mit einem Callgirl-Ring zusammen-gearbeitet hat (5). Mona hingegen weist diese Vorwürfe bezogen auf ihre Person entschieden zurück, die Zweifel bleiben natürlich (bei Paul) bestehen (6).

Es bleibt letztlich noch die Frage, inwieweit man die latent homoerotische Neigung von Fred gegenüber Paul so in die Szene mit einbauen kann, dass die Zuschauenden sie wahrnehmen.

Auf eine weitere Ausführung der Ausarbeitung von Handlung und Text sei hier aber verzichtet. Ziel war es dabei ja nur, das »PCM-EM« Schema für eine strukturierte Handlungsentwicklung und vor allem die Arbeitsweise, die dahintersteht vorzustellen.

Abschließender Erfahrungsbericht

Die systematische Herangehensweise an ein Drehbuch in gezeigter Weise, insbesondere im Hinblick auf die Ausarbeitung des Drehbuchtextes, kann sehr hilfreich sein. Weil das rigorose Vorgehen über die Empathiematrizen des PCM-EM Schemas den Autor oder die Autorin dazu zwingt, alle relevanten Charaktere ständig im Auge zu behalten. So erschließen sich dann aus dieser ständigen Reflexion mit den Charakteren und deren Beziehungen häufig neue Gedanken, die anders eventuell gar nicht aufgekommen wären. Andererseits ist es vorstellbar, dass die Anwendung dieses Modells Autorinnen und Autoren, die eher intuitiv arbeiten, in ihrer Arbeit hemmt und für einen derartigen Arbeitsstil nicht zu empfehlen ist.

Für den Serienentwickler nach amerikanischen Vorbild, stellt dieses Modell eine ergänzende Bereicherung zu der dort vorherrschenden Arbeitsweise dar, die in Teilen ja auch ähnlich erfolgt und gewisse Parallelen aufweist, wobei die Verwendung der Aktionenmatrix, bei der Entwicklung der letztendlich geforderten Handlungsschritte auch hier eine noch »feinstrukturiertere« Arbeitsweise einfordert, die aber andererseits auch gleichsam ein Hemmnis darstellen kann, wenn man sich dem zu stark unterwirft. Es bleibt daher immer abzuwägen, wo und wann man die hier vorgeschlagene und gezeigte Methodik einsetzt.

PCM-EM Schema: Ein Resümee

Wir wollen am Schluss nochmals einen Blick auf die vorgeschlagene Vorgehensweise werfen und uns das Gesamtbild dieser Methodik vor Augen führen. Gleichsam betonen möchte ich auch an dieser Stelle nochmals, dass eine derartige Verfahrensweise, nicht für jeden Autorentypus in Frage kommt. Zu bedenken gebe ich an dieser Stelle aber und hier kann ich nur für mich selber sprechen, kreative Gedanken halte ich am Frühstückstisch und im Kaffeehaus auf Notizzetteln oder auf »Butterbrotpapier« fest, eben wenn sie mir kommen. Die eigentliche Kreativphase kann und soll durch dieses Modell lediglich erweitert werden und dadurch zu einer systematischen Ordnung der Gedanken führen. Man kann das Ganze deshalb sozusagen nur als ein »Kreativ Struktur-Modell« bezeichnen und es ist daher von eigentlichen Kreativmethoden abzugrenzen.

Erfahrene Autorin und Autoren insbesondere zur Herstellung eines »Arthouse«-Drehbuchs aber benötigen meine hier vorgestellte Methodik wahrscheinlich nicht. Aber sicher kann es für einzelne Autorin und Autoren, gerade auch im Hinblick auf die, eingangs erwähnte professionelle Arbeit im Zusammenhang mit Serien von Nutzen sein.

Ausblick:

Um aber auch das Stichwort Serie an dieser Stelle nochmals aufzugreifen. Betrachtet werden konnte an dieser Stelle nicht, wie gut sich das vorgestellte Modell im Zusammenhang mit einem kollaborativen Arbeitsstil einsetzen lässt. Hierzu wären noch umfangreiche Untersuchungen und weitere Konzepte für eine Organisation dessen notwendig. Zudem flossen die von mir entwickelten und in »Das Drama in Analogie zu einem dynamischen Programm« und »Das PCM-EM Schema in der Anwendung« beschriebenen Bewertungsschemata (Stichwort: T-A-G Schema) in diese Betrachtung nicht mit ein. Denn dies hätte den schon breiten Umfang der Abhandlung vollends gesprengt.

Ich möchte am Ende die Worte von Timo Gössler und Katrin Merkel in ihrem Schlusskapitel zu »Der German Room« aufgreifen (Zitat):

Am allerwichtigsten ist es insofern, dass wir als gesamte deutsche Serienbranche miteinander in den Dialog treten, um uns auf verbindliche Richtlinien und Arbeitsweisen zu verständigen.

Etwas, was auch in anderen Branchen so oft nicht gemacht wird. Und ich möchte mich entsprechend, auch das Schlusswort aus »Der German Room« zitierend, meinerseits dem anschließen.

»Denn Professionalisierung heißt letztendlich auch, Zeit und Kraft dorthin zu lenken, wo sie hingehören: in die Qualität der deutschen Serie.«

Anhang

  • DramaQueen © ist ein Programm zur Drehbuch- und Prosatextentwicklung der Firma Drama Queen GmbH, Am Müggelpark 25, 15537 Gosen-Neu Zittau, Deutschland
  • Timo Gössler/Katrin Merkel, »Der German Room«, © 2021 Master School Drehbuch Edition, Master School Drehbuch e.K. Berlin, Wartburgstraße 1B D-10963 Berlin Herstellung und Vertrieb BoD – Books on Demand, Norderstedt
  • McKee Robert, »Story, die Prinzipien des Drehbuchschreibens«, Alexander Verlag Berlin, 11. Auflage 2016

Liste eigener Publikationen zur thematischen Vertiefung:

  • Rolf W.H. Schneider, »Strukturmodelle für die moderne Filmdramaturgie, prozessorientierte Verfahren und deren Anwendung zur Gewinnung und Analyse von Handlung und Figuren«., epubli.de
  • Rolf W.H. Schneider, »Das Drama in Analogie zu einem dynamischen Programm. Entwicklung eines Metamodells zur Strukturierung szenischer Handlung.«, OPARU Universität Ulm
  • Rolf W.H. Schneider, »Das PCM-EM Schema in der Anwendung, Drehbuchschreiben für Serien.«, OPARU Universität Ulm

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