Was wir aus dem Erzählen über das Überzeugen lernen können

Wir sind eine Gesellschaft in Not. Allgemein (Klimakatastrophe), aber aufgrund der Pandemie und dank der unzureichenden gesellschaftlichen Antwort darauf aktuell und seit fast zwei Jahren auch im Besonderen. Aus dieser Gesundheit und Leben bedrohenden Not heraus, versucht eine Mehrheit eine Minderheit zur Impfung zu überzeugen. Bevor diese Mehrheit aus noch größerer Not diese Minderheit zur Impfung verpflichtet – und scheitert bisher. Denn wie funktioniert das überhaupt: jemanden zu überzeugen? Aus der Dramaturgie und dem Erzählen lassen sich ein paar Empfehlungen ableiten.

Im Drama findet ein Überzeugen zwei mal statt. Im ersten Akt vor dem Wendepunkt in den zweiten Akt, und im zweiten Akt vor dem Wendepunkt in den dritten (und letzten) Akt. Vor dem ersten Wendepunkt gilt es, den:die Protagonist:in davon zu überzeugen, sich des gegebenen Problems anzunehmen. Im Modell der Heldenreise etwa ist vom »Ruf zum Abenteuer« und der anschließenden »Verweigerung des Rufs« die Rede. Vor dem zweiten Wendepunkt gilt es, den:die Protagonist:in von der Abkehr von falschen Überzeugungen (!) und von der Hinwendung zur Realität zu überzeugen. In der Dramaturgie sprechen wir beispielsweise von Want und Need oder Ziel und Bedürfnis: Eine Figur wollte das Geld und muss erkennen, dass sie eigentlich die Liebe braucht (oder umgekehrt).

Für den Erfolg dieses zweiten Überzeugens braucht es die ganze Geschichte mit all ihren großen und kleinen Hoch- und Tiefpunkten bis dahin. Denn dafür ist die Handlung da: um hier für den:die Protagonist:in überzeugend zu sein. Er:Sie ist gerade gescheitert, ist durch die Katastrophe gegangen. Katastrophen können sehr überzeugend sein. Für den Erfolg des ersten Überzeugens braucht es auch die ganze Geschichte bis dahin, mit ganz demselben Zweck. Das ist im ersten Akt aber glücklicherweise noch nicht ganz so viel Geschichte. Deswegen und weil wir in der Coronakrise nicht auf die Überzeugungskraft einer noch größeren Katastrophe warten sollten, wird es hier um dieses erste Überzeugen gehen. Vielleicht schließ ich später einen Artikel über das zweite Überzeugen an.
Ein großes Problem macht eher ratlos als tatkräftig.
Im ersten Akt eines Dramas wird der:die Protagonist:in mit einem Problem konfrontiert und der Geschichte muss es gelingen, ihn:sie am Ende des ersten Akts eine glaubhafte Entscheidung treffen zu lassen, dieses Problem auch in Angriff zu nehmen. Denn die Figur reagiert natürlich, wie wir alle auf Probleme reagieren: sie ignoriert es. Nicht ihr Bier, soll sich doch wer anders mühen, sie hat sich um seine Familie zu kümmern, sie hat andere Pläne und andere Sorgen, was von selbst kommt, Mücke, Elefant. Das ist die Verweigerung des Rufs zum Abenteuer. Zunächst muss nun die Figur von der Größe des Problems überzeugt werden. Im Modell der Heldenreise wird das durch eine sogenannte Heroldfigur getan. Doch das reicht nicht, denn ein großes Problem macht eher ratlos als tatkräftig (s. Klimakatastrophe). Hier kommt die Mentorfigur ins Spiel, die den:die Protagonist:in mit übernatürlicher Unterstützung versorgt, mit der sich das Problem angemessen adressieren lässt.

Damit ist der:die Held:in bereit, die Schwelle zum Abenteuer zu übertreten. Nun gibt es in unserer spröden Realität selten übernatürliche Hilfe, und eine Herold- oder Mentorfigur kommt nicht plötzlich um die Ecke; wenn wir überzeugen wollen, müssen wir sie selbst geben. Wie überzeugt die Heroldfigur von der Größe des Problems? Und wie bietet die Mentorfigur die richtige Hilfe an, das heißt passend nicht nur zum Problem sondern zum:zur Protagonist:in?

Dramaturg und filmschreiben-Autor Ron Kellermann nennt in seinem Storytelling-Handbuch drei Kriterien für die Einschätzung von Storys mit Blick auf das Publikum. Die Relevanz des erzählten Problems, nämlich ob es nicht nur das Leben der gezeigten Figuren, sondern auch das des Publikums betrifft. Die Aktualität des Problems, nämlich ob es in den Köpfen des Publikums präsent ist. Und die Brisanz des Problems, nämlich wie emotional das Publikum auf das Problem reagiert. Verkürzt: Ein Problem, das diese Kriterien erfüllt, hat ein Publikum. Ein Problem, das die Erfüllung der Kriterien erst herstellen oder darstellen muss, muss um sein Publikum kämpfen. Ein Problem, das diese Kriterien nicht erfüllt und ihre Erfüllung nicht herstellen oder darstellen kann, hat auch kein Publikum.
Wir handeln nur, wenn wir die Erwartung haben, dass unser Handeln auch Wirkung zeigt.
Das lässt sich für die überzeugende Heroldfigur und den:die sich dem Ruf verweigernde:n, zu überzeugende:n Protagonist:in adaptieren. Die Heroldfigur muss die Relevanz darstellen; zeigen, inwiefern das Problem das Leben des:der Protagonist:in betreffen und verändern wird. Sie muss die Aktualität des Problems darstellen, etwa weil dessen Bedrohlichkeit für den:die Protagonist:in (und/oder für die Dinge und die Menschen, die der:die liebt) wächst. Sie muss die Brisanz des Problems darstellen, etwa in dem sie auf die Emotionen anderer verweist und dem:der Protagonist:in so als mögliche eigene Emotion anbietet. Im ersten Absatz dieses Artikels schreibe ich entsprechend von der Not (Brisanz) in der gegenwärtigen und sich noch steigernden (Aktualität) Krise und ihrer Bedrohung für Leben und Gesundheit (Relevanz).

Die Größe des Problems ist nun erkannt. Die übernatürliche Unterstützung der Heldenreise, die jetzt die Mentorfigur anbieten würde, heißt in der Realität und bei Dramaturgin Linda Aronson (The 21st Century Screenplay) einfach: Plan. Die Mentorenfigur hat einen Plan für den:die Protagonist:in. Wir brauchen einen Plan, um vor einem großen Problem nicht ratlos zu kapitulieren, sondern es tatkräftig anzugehen. Die Motivationspsychologie sagt: wir handeln nur, wenn wir die Erwartung haben, dass unser Handeln auch Wirkung zeigt. Ein Plan stellt diese Erwartung her: einen finalen Zusammenhang von zu erledigender Handlung und zu erwartendem Ergebnis. Diese Erwartung aber ist von Mensch zu Mensch verschieden. Für die einen erscheint es möglich, ein großes Problem durch Kopfrechnen zu lösen – für andere nicht. Für die einen erscheint es möglich, ein Problem durch Klettern zu lösen – für andere nicht. Jeder Mensch, jede:r Protagonist:in braucht einen eigenen Plan.

Die amerikanische Dramaturgin Laurie Hutzler entwickelt Figuren und Handlung im character mapping ihrer emotional toolbox anhand von sechs Fragen: Was ist die Maske der Figur, wie gibt sie sich? Und was ist ihre größte Angst? Was sind die Stärken der Figur, auf die sie sich selbst in Krisensituationen verlassen kann? Und was sind ihre Schwächen, die sie selbst dann in Schwierigkeiten bringen, wenn doch eigentlich alles gerade gut lief? Welche Person wird von der Figur verachtet und warum; was ist ihr Schatten? Welche Person wird von der Figur bewundert und warum; was ist ihr Idol und Ideal? Die Bedeutung der Antworten auf diese Fragen verändert sich im Lauf der Handlung. Im ersten Akt jedoch ist ihre Bedeutung ganz klar:
Dramatische Figuren werden so zum Handeln überzeugt.
Der Plan muss entlang der Stärken der Figur entwickelt sein (»Klar kannst du das Problem durch Nähen lösen!«) und darf nicht ihre Schwächen provozieren (»Nein, du musst nicht vor Menschen reden!«, noch besser: »Wenn es dazu kommt, dann mach das ich!«), der Plan sollte die Maske der Figur bestätigen (»Du bist doch sonst so kreativ!«) und die Angst der Figur verhindern (»Dann geht es auch dem Hund wieder gut!«), der Plan sollte die Figur von ihrem Schatten unterscheiden (»Mit dem faulen Sack hätte ich das nie hingekriegt!«) und ihrem Idol ähnlicher machen (»Wenn du dann da so stehst, mit der Nähnadel in der Hand, machen wir ein Foto wie das von deiner Oma!«).

Natürlich muss der Plan nicht nur zur Figur, sondern auch zum Problem passen. Eine Pandemie lässt sich leider nicht durch Nähen lösen. (Auch wenn viele, deren Stärke das Nähen ist, motiviert waren, ihren Teil zur Lösung durch das Maskennähen beizutragen.) Aber unsere Figur hat ja glücklicherweise noch ein paar mehr als nur diese eine Stärke. Für die Überzeugung eine:r Impfgegner:in wäre ein möglicher individueller Entwurf:

»Erinnerst du dich noch, wie du damals deinem Bruder geholfen hast? Ich fand immer, dass das eine deiner Stärken war: zu wissen, wann du wirklich gebraucht wirst. Im Ernstfall konnte man sich immer auf dich verlassen, so hab ich dich immer gesehen. Du musst dich auch nicht vor den andern rechtfertigen; wenn die dir blöd kommen, dann müssen die erst an mir vorbei. Alle würden sich freuen, wenn du wieder mit dabei wärst. Und ich komme damit zu dir und nicht zu deinem Vater, weil der noch nie für jemand anderen da war als sich selbst.«
Diese Vorschläge befassen sich ehrlich und interessiert mit der Person.
Habe ich mit diesem Text eine:n Impfgegner:in überzeugt? Nein, er ist fiktiv. Ließe sich so außerhalb der Fiktion ein Mensch überzeugen? Ich weiß es nicht. Und wenn sich ein »normaler« Mensch so überzeugen ließe, ob das dann auch für einen radikalisierten Menschen gilt, das kann ich noch weniger sagen. Meine wilde Mischung aus Rons drei Kriterien, der Heldenreise, Laurie Hutzlers character mapping und einem groben Verständnis der Motivationspsychologie stimmt aber im erzählerischen Feld. Dramatische Figuren werden so zum Handeln und zum Schritt über die Schwelle vom ersten in den zweiten Akt überzeugt. Das ist eine ganz schöne Leistung. Erst stellt der erste Akt ihnen die Größe des Problems dar, dann bietet er ihnen die Erwartung einer Problemlösung an und dazu einen individuellen Plan unter Berücksichtigung ihrer Stärken, Schwächen etc.

Ließe sich das auch weniger individuell gestalten um mehr Menschen zu erreichen? Vielleicht, es gibt ja auch kollektive Stärken und Masken, kollektive Erfolgserlebnisse. »Liebe Ahrweiler:innen, wir haben zusammen die Überschwemmung durchgestanden, machen wir die Pandemie zu dem Klacks, der sie dagegen ist.« Ist das alles manipulativ? Ja, aber. Manipulativ ist jede Art von Einflussnahme, deren Methodik währenddessen nicht offengelegt wird. Also auch jeder Witz, jede Geschichte, jeder Film, jede Form von gestalteter öffentlicher Kommunikation. Problematisch kann sie also nicht per se sein, sondern dann, wenn sie unehrlich ist und/oder nicht am Wohl des Gegenübers interessiert. Das sind diese Vorschläge nicht: sie befassen sich, richtig angewendet, ehrlich und interessiert mit der betreffenden Person.

Das Erzählen kann hier Vorschläge für die Realität machen, erproben müssen wir sie dann selbst. Das Überzeugen der Impfgegner:innen ist ein gesellschaftliches Problem. Um dieses Problem tatkräftig anzugehen kann ich hier zumindest den Entwurf eines Plans anbieten. Entlang unserer Stärken, dem Erzählen, als Bestätigung unserer Masken als verantwortungsvolle Kulturschaffende. Wir werden dabei nicht ratlos vor leeren Blättern sitzen und wenn nun ausgerechnet doch, helfen wir Dramaturg:innen weiter. Und wenn ich mir vorstelle, wie ihr da so ganz souverän und überzeugend wirkt, habt ihr ja ein bisschen was von Michael Haneke.

6 Gedanken zu „Was wir aus dem Erzählen über das Überzeugen lernen können“

  1. Sehr interessant! Löst bei mir die Frage aus, ob in der Geschichte von Literatur, Theater & Film, also meist fiktive Geschichten zu Meinungsänderungen geführt haben? Denke nach und finde nichts. Es muss aber was gegeben haben, außer vielleicht der Holocaust-Serie. Wer kennt Beispiele?

  2. Hi Arno,

    ging mir, wie Herr Füting und finde auch nichts wirklich Überzeugendes in Erzählungen und Geschichten. Zum Überzeugen braucht es doch Substanz, die auf einer persönlichen Ebene etwas zu bedeuten vermag.
    Unsere letzte Regierung hat das schon erkannt und sprach nur von Impfangeboten und/oder Parteiangeboten. Heute sprechen wir indes schon von Impfpflicht, was noch weniger damit zu tun hat, Menschen zu überzeugen.

    Literatur, Theater und Film kann doch nur ( auch unpolitisch ) Meinungen oder Ideale vertreten, inspirieren, aber dem Fiktiven fehlt doch die Substanz, um zum Handeln zu überzeugen.

  3. Also erst mal geht es ja nur darum, wie innerhalb von Erzählungen Figuren zum Handeln überzeugt werden. Weil das glaubhaft sein muss, orientieren wir uns dabei an der realen menschlichen Psyche. Und können dann wiederum daraus lernen, wie Überzeugen in der realen Welt funktioniert. So meine Idee.

    Ob fiktionale Stoffe nicht nur die Figuren sondern auch das Publikum überzeugen? Davon bin ich überzeugt (haha). Das betrofft aber mehr den hier nicht dargestellten Teil einer Erzählung, in dem der Protagonist, mit dem das Publikum identifiziert ist, mit seinen Überzeugungen (also den Überzeugungen des Publikums) scheitert und dann (und erst dann) offen für Erkenntnis ist — genauso wie eben auch das Publikum. Die Frage ob Geschichten Menschen überzeugen können stellt sich mir fast gar nicht: sie sind Kommunikation, natürlich können sie das. Ob sie damit auch gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen, wie in Michaels Frage: vielleicht als ein Zahnrad unter vielen. Geschichten stehen ja in einem gesellschaftlichem Kontext.

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