Was macht eine Qualitätsserie eigentlich zu einer Qualitätsserie – Teil II

Für Serien wie THE WIRE, BREAKING BAD, MAD MEN, BORGEN, HATUFIM, RECTIFY, HOUSE OF CARDS etc. gibt es verschiedene Bezeichnungen. Eine davon ist: „Qualitätsserien“. Was macht aus der Sicht der Zuschauerinnen und Zuschauer die Qualität einer Qualitätsserie aus? Nach welchen Kriterien entscheiden sie, ob sie eine Serie ansehen oder eben nicht? Und vor allem: Welche Rückschlüsse lassen sich aus den Antworten auf diese Fragen auf die Entwicklung von deutschen Qualitätsserien ziehen?

Im ersten Teil dieses Artikels habe ich die zwölf Merkmal einer Qualitätsserie beleuchtet, die Robert Thompson in seinem Buch Televsion’s Second Golden Age. From Hill Street Blues to ER. aus dem Jahr 1996 nennt. In diesem zweiten Teil fasse ich die Ergebnisse einer Studie der Medienwissenschaftler Michael Harnischmacher und Benjamin Lux zusammen. Sie haben 2014 1382 Nutzer von Onlineforen befragt (Durchschnittsalter: 26 Jahren, Studierende mit 71,5% stark überrepräsentiert), um herauszufinden, inwiefern Thompsons Kriterienkatalog für das Publikum von Serien tatsächlich bedeutsam ist für die Einschätzung einer Serie als Qualitätsserie und welche dieser Kriterien für sie am wichtigsten sind. Als Ergebnis ihrer Untersuchung nennen sie unter anderem neun Faktoren für Qualität von Qualitätsserien (Thompson revisited. Ein empirisch fundiertes Modell zur Qualität von „Quality-TV“ aus Nutzersicht):

Faktor 1 ist der „Inhalt“. Gemeint ist damit der inhaltliche, thematische und geistig hohe Anspruch von Qualitätsserien: „Serien sollten sozialkritischen Inhalt wiedergeben“, „kontroverse und moralisch schwierige Themen behandeln“, „kulturell bedeutsame Inhalte behandeln“ und „einen allgemein relevanten und bedeutungsvollen Inhalt haben“. Dem Qualitätsserienpublikum ist also wichtig, dass der Inhalt einer Qualitätsserie Tiefgang und eine soziokulturelle Bedeutung hat. Außerdem will es von Serien dazu angeregt werden, „das eigene Verhalten zu reflektieren“ und „sich kritisch mit dem Gesehenen auseinanderzusetzen“. Der Anstoß zur Beschäftigung mit dem Thema der Serie ist also ein weiteres wichtiges Gütekriterium für das Publikum. Auch die meinungsbildende Orientierungsleistung einer Serie ist ein Kriterium: „Serien sollten Werte vermitteln“ und „sich politisch positionieren.“

Als zweiten Faktor nennen Harnischmacher und Lux „Realismus“: Das Publikum erwartet von Qualitätsserien, dass sie realitätsnah und authentisch sind: „Serien sollten an realen Orten spielen“ und „eine Handlung haben, die in der heutigen Zeit spielt“. In ihnen „sollte es zugehen wie im richtigen Leben“ und sie sollten „Personen darstellen, die auch im realen Leben existieren könnten“. Dadurch erwartet sich das Publikum Problemlösungsvorschläge und eine Art Vorbildfunktion: Serien sollten „Hauptdarsteller zeigen, die so sind, wie man selbst gerne sein möchte“. Auch hier spielt also der Aspekt der Orientierungshilfe eine Rolle: „In Serien sollte gezeigt werden, wie andere Leute ihre Probleme lösen“. Die realistische Darstellungsweise von Sachverhalten ist laut Harnischmacher und Lux eines der wichtigsten Qualitätsmerkmale der neuen Fernsehserien. Dass es auch Serien gibt, die dieses Kriterium nicht erfüllen, beweisen beispielsweise GAME OF THRONES, THE WALKING DEAD und MAD MEN.

Faktor 3 ist der „Charakter- und Handlungsbogen“: Die Charakter- und Handlungsbögen einer Serie haben einen großen Einfluss auf die Qualitätszuschreibung einer Serie. Insbesondere episodenübergreifende Handlungsstränge und eine psychologische Charakterentwicklung sind wichtige Kriterien für das Publikum von Qualitätsserien, da sie ihre Einzigartigkeit markieren und einen großen Anteil an der hohen Komplexität einer Serie haben.

Der vierte Faktor ist „Partizipation“: Er vereinigt kognitiv-emotionale Serieneigenschaften: „Serien sollten beim Schauen meine komplette Aufmerksamkeit fordern“ und „mich dazu anregen, aktiv mitzudenken“. Die Zuschauerinnen und Zuschauer von Qualitätsserien schalten eine Serie also nicht ein, um abzuschalten, sondern wollen, dass die Serie sie geistig fordert und sie ihr ihre ganze Aufmerksamkeit widmen müssen: Sie wollen an der Geschichte partizipieren, indem sie eine Eigenleistung erbringen müssen. Durch diese kognitiven Prozesse erwarten sie einen direkten emotionalen Effekt („…Emotionen auslösen“). Harnischmacher und Lux folgernd daraus, dass dadurch Fans und Liebhaber generiert werden, die Anschlusskommunikation in Form von Blogs, Reviews, Wikis etc. betreiben.

Faktor 5 ist „Gewalt“: Gewaltdarstellung – „In Serien sollte es manchmal auch dazu kommen, dass richtig die Fetzen fliegen“ – und ein ordinärer Sprachgebrauch – „…auch Schimpfwörter und Beleidigungen verwenden“ – bedeuten für das Publikum eine realistische Darstellung der Serieninhalte. So sind Harnischmacher und Lux zufolge die die Verwendung von Sprache in Verbindung mit der Darstellung von körperlicher Gewalt für die realitätsnahe und authentische Darstellung in Serien wie THE SOPRANOS (1999-2007) oder THE WIRE (2002-2008) elementar.

Als sechsten Faktor nennen Harnischmacher und Lux „Distinktion“: Serien sollen „das Gefühl vermitteln, etwas komplett Neues zu sehen“, „sich vom restlichen Fernsehangebot abheben“ und sich „einem bestimmten Genre zuordnen lassen“. Die Qualität einer Serie kann aus Sicht des Publikums also über Distinktion definiert werden: Es entscheidet sich für eine Serie, um sich darüber von der großen, restlichen Masse des Fernsehpublikums zu unterscheiden.

Faktor 7 ist „Ehrlichkeit“: Auch hier geht es wie in Faktor 2 um Realitätsnähe. Der Fokus liegt hier jedoch auf der Story, die „glaubwürdige Geschichten“ erzählen und „einen vollständigen und logischen Inhalt aufweisen“ sein sollen. Qualität wird also Serien zugeschrieben, deren Story nahe an der Realität erzählt und die keine unlogischen Lücken aufweist. Realistische Kulissen und Requisiten verleihen dem Realismus optische Geltung. Diese Kombination von authentischer Handlungsstringenz und visuellem Realismus vermitteln dem Publikum ein Gefühl von Vertrauen und Ehrlichkeit: Qualitätsserien sollen „nicht das Gefühl vermitteln, etwas verkaufen zu wollen“.

Serien wie MAD MEN, GAME OF THRONES und THE WALKING DEAD erfüllen dieses Kriterium ebenfalls. Sie spielen zwar nicht in der Gegenwart und/oder der realen Welt, die Konflikte in den Beziehungen der Figuren und die emotionalen Themen, auf denen sie aufbauen, sind aber durchaus realistisch.

Den achten Faktor nennen Harnischmacher und Lux „Fundament“: Er konstituiert sich aus der gegenseitigen Beeinflussung von Drehbuch und Schauspiel: Ohne ein gutes Drehbuch können auch die besten Schauspieler einer Serie nicht zu qualitativer Hochwertigkeit verhelfen, genauso wenig wie ein gutes Drehbuch ohne gute Schauspielerinnen und Schauspieler erfolgreich sein kann.

Der letzte Faktor ist „Komplexität“: Das Publikum von Qualitätsserien will eine große Anzahl von Charakteren und dadurch bedingt eine multiperspektivische Erzählweise, die auch durch komplexe Handlungs- und Charakterbögen erreicht wird. Harnischmacher und Lux bezeichnen eine weitere Eigenschaft dieses Faktors als „literarische Komplexität von Quality-TV-Serien“.

In ihrer Untersuchung wollten Harnischmacher und Lux außerdem herausfinden, welche dieser Faktoren für das Publikum am wichtigsten sind: Das wichtigste Qualitätsmerkmal im Bewusstsein des Publikums ist der Faktor „Fundament“. Mit kleinem Abstand folgt darauf der Faktor „Charakter- und Handlungsbogen“. Die Faktoren „Partizipation“ und „Ehrlichkeit“ belegen die Plätze drei und vier. Platz fünf nimmt der Faktor „Distinktion“ ein, die Faktoren „Komplexität“ und „Gewalt“ folgen nah beieinander auf den Positionen sechs und sieben der Rangliste. Der Faktor „Inhalt“ liegt auf Rang acht und der Faktor „Realismus“ auf neun. Bei letzterem liegt die Einschätzung der Wichtigkeit der Befragten am weitesten auseinander.

Interessant ist auch, was Harnischmacher und Lux in Bezug auf die soziodemografischen Daten der Befragten herausgefunden haben: Alter, Geschlecht, Bildung und wirtschaftliche Situation haben keinen Einfluss darauf, in welcher Reihenfolge die Qualitätskriterien gesehen werden.

Einen Faktor – aus dramaturgischer Sicht meiner Meinung nach einer der wichtigsten Faktoren – haben Harnischmacher und Lux nicht explizit untersucht: Die Hauptfiguren der meisten erfolgreichen Qualitätsserien sind ambivalente Charaktere, bei denen die Grenze zwischen gut und böse verwischt ist: Walter White, Francis Underwood, Tony Soprano, Don Draper, Dexter Morgan, Rustin Cole, Gregory House, Saul Goodman und so weiter und so fort. Die Nichterfüllung dieses Faktors ist übrigens einer der Gründe, warum DEUTSCHLAND´83 und DIE STADT UND DIE MACHT gescheitert sind: Ihr Hauptfiguren sind nette, eindimensionale Figuren, die stets das Gute wollen. In bestimmten Spielfilmgenres mögen sie noch funktionieren, in Serien sind sie langweilig und für Qualitätsserien nicht ausreichend.

Welche Rückschlüsse können nun aus Thompsons zwölf Merkmalen und den Ergebnissen aus Harnischmachers und Lux Studie für die Entwicklung deutscher Qualitätsserien gezogen werden? Um es kurz zusammenzufassen: Habt mehr Mut. Wagt euch an ambivalente Figuren und kontroverse Themen. Erzählt komplex und intelligent. Haltet das Publikum nicht für dumm, sondern fordert es. Traut ihm mehr zu. Und vergesst die quantitative Quote als Erfolgskriterium.

Literatur
Michael Harnischmacher und Benjamin Lux: Thompson revisited. Ein empirisch fundiertes Modell zur Qualität von „Quality-TV“ aus Nutzersicht. In: Global Media Journal, German Edition, Jahrgang 5, Nr. 1, 2015

Robert J. Thompson: Televsion’s Second Golden Age. From Hill Street Blues to ER. Syracuse University Press, 1997

Ein Kommentar

  1. Simo Lyly

    .

    31. Dezember 2016

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