Der Motor der Charakterentwicklung – Konflikt

Wenn die Charakterentwicklung das Wesen einer Geschichte ist, dann ist Konflikt ihr Motor. Ohne Konflikt keine Geschichte, noch nicht einmal eine Szene.

Man stelle sich folgenden Film vor: Mann und Frau lernen sich kennen, verlieben sich ineinander, kommen zusammen, heiraten, bauen ein Haus, fahren in die schönsten Urlaube, streiten sich nie, werden gemeinsam bei bester Gesundheit glücklich alt, legen sich eines Abends ins Bett, geben sich einen Kuss, schlafen händchenhaltend ein und wachen am nächsten Morgen einfach nicht mehr auf.

Glück hat keinen dramatischen Wert.

Im echten Leben ist das ein Traum, dramaturgisch ist es ein Albtraum. Weil es keinen Konflikt gibt, weil nichts passiert, weil alles reibungslos läuft. So etwas wollen wir haben, aber nicht sehen. Wir wollen Menschen mit Problemen sehen, wollen sehen, wie sie versuchen, ihre Probleme zu lösen und wollen sehen, wie sie es am Ende schaffen und sich dabei verändern oder wie sie scheitern. Glück hat keinen dramatischen Wert. Außer am Ende der Geschichte, dann dürfen die Figuren glücklich sein. Aber bis dahin haben sie bitte zu kämpfen und zu leiden. Etwa so: Mann und Frau lernen sich kennen, verlieben sich ineinander, kommen jedoch nicht zusammen, weil beispielsweise die Familien der beiden verfeindet sind und ihnen Hindernisse in den Weg legen. Die beiden kämpfen gegen die Hindernisse an, überwinden sie und sind am Ende glücklich vereint oder sie überwinden sie nicht und sind am Ende beide tot. Da ist sie, die Geschichte.

Ohne Konflikt gibt es keine Charakterentwicklung.

Konflikt ist zentral für die Charakterentwicklung der Hauptfigur. Wir Menschen sind nun mal eher konservativ, eine träge Masse. Wenn es keinen Anlass gibt, bleibt alles so wie es ist. Warum auch etwas verändern? Das kostet nur Kraft und Energie. Also lieber in der Komfortzone bleiben, wobei man sich die Komfortzone nicht so vorstellen darf, dass man dort auf plüschigen Sesseln lümmelt, dort können auch Nagelbretter rumstehen, es kann fürchterlich heiß und eng dort sein, aber wenn man nichts anderes kennt, hält man selbst das für Komfort. Lester in AMERICAN BEAUTY sitzt nun nicht gerade in plüschigen Sesseln am Anfang der Geschichte. Trotzdem hat er sich dort eingerichtet. Auch Unglück kann zur Routine und ertragbar werden. Und in der befinden sich Hauptfiguren am Anfang der Geschichte. Und aus ihr müssen sie herausgeholt werden.

Plötzlich ist da ein Problem, das sie nicht mehr ignorieren können, plötzlich wird ihre Komfortzone gestört. Problem hört sich immer so negativ an. Dabei kann es auch etwas an sich positives sein. Wenn man jemandem begegnet und sich unsterblich in ihn verliebt, beispielsweise. Problematisch wird es, wenn es die Verlobte des eigenen Sohnes ist wie in Louis Malles VERHÄNGNIS. Oder wenn die andere Person nicht in einen verliebt ist oder am nächsten Tag zurück in die Türkei fährt wie in IM JULI und so weiter. Ein millionenschwerer Lottogewinn reißt einen definitiv aus der Routine, man würde ihn jedoch nicht gerade als Tragödie bezeichnen. Trotzdem kann er zu Problemen führen. Geld verändert den Charakter und ruft Neider und Missgünstlinge hervor. Genug Potenzial für viele Konflikte.

Die Figur muss sich verändern, um ihr Problem zu lösen.

Das Problem ist also da und die Figur will – muss – es lösen. Nur: Mit ihrer aktuellen charakterlichen, psychischen Disposition kann sie es nicht schaffen. Sie holt sich so lange blutige Nasen bis sie anfängt, sich zu verändern, Schritt für Schritt, nicht sprunghaft, das wäre unglaubwürdig, sondern dynamisch. Während sie sich verändert, wird sie permanent auf die Probe gestellt: Hat sie sich tatsächlich verändert? Ist sie schon ist weit? Was fehlt ihr noch?

Und am Ende, in der absoluten Zuspitzung des Konfliktes, kommt der ultimative Test. Wenn sie ihn nicht besteht, war alles umsonst. Hier erscheint das Alte, das sie hinter sich gelassen hat, in seiner vollsten Schönheit, in prächtigster Verlockung. Hier ist das, was sie am Anfang der Geschichte unbedingt wollte, für das sie so lange und so heftig gekämpft hat, zum Greifen nahe. Aber wenn sie es greift, wird sie unglücklich, fällt sie in alte Verhaltens- und Denkweisen, Wertesysteme und Moralvorstellungen zurück. Wenn Lester in AMERICAN BEAUTY am Ende mit Angela schläft, hat er zwar erreicht, was er die ganze Zeit über wollte, aber er wäre seelisch und emotional ein Wrack. Er muss auf das, was er so sehr wollte verzichten, um seelisch und emotional zu heilen, um seine Auferstehung als geheilter Mensch zu haben.

Ein Konflikt verläuft also immer in drei Phasen: die Entstehung, die Austragung und die Auflösung des Konfliktes. Wie entsteht der Konflikt, wie wird er ausgetragen und wie wird er aufgelöst? Diese drei Phasen werden in der Drei-Akt-Struktur abgebildet. Eine Faustregel besagt, dass die Konfliktaustragung ungefähr so lang ist wie die Konfliktentstehung und die Konfliktauflösung zusammen, also ungefähr die Hälfte der Geschichte ausmacht. Das sollte man aber nur als grobe Orientierung betrachten.

Ohne antagonistische Kraft gibt es keinen Konflikt.

Es gibt etwas, das für das Zustandekommen eines Konfliktes unbedingt notwendig ist, aber oftmals nicht mit der nötigen Sorgfalt beachtet wird: die antagonistische Kraft. Sie ist genauso wichtig wie die Hauptfigur und sollte – sofern es sich um eine Figur handelt – genauso entwickelt werden wie die Hauptfigur. Ohne antagonistische Kraft gibt es keinen Konflikt. Je besser die antagonistische Kraft, desto besser muss die Hauptfigur sein. Die Hauptfigur setzt den Konflikt in Gang, die antagonistische Kraft hält ihn am Leben. Wird sie aus dem Spiel genommen, bricht der Konflikt weg und die Geschichte wird auf der Stelle sterbenslangweilig.

Die antagonistische Kraft ist die Summe aller Kräfte, die dem Wollen und Streben der Hauptfigur im Wege stehen. Das kann eine einzelne Figur sein, man spricht dann von einem zwischen menschlichen Konflikt. Diese Figur wird gerne als Bösewicht bezeichnet. Das kann sie sein. Sie kann aber auch eine liebende Person sein. Und vor allem sieht sie sich selbst nicht als böse. Es können mehrere Figuren sein, die Familie, die Nachbarn, eine Straßengang, eine Armee, man spricht dann von einem sozialen Konflikt. Es können einfach Situationen sein, Umstände, in die die Hauptfigur gerät: Sie will über einen Fluss, aber es gibt keine Brücke. Man spricht dann von einem situativen Konflikt. Und es kann die Hauptfigur selbst sein, die sich im Weg steht. Man spricht dann von einem inneren Konflikt. In ihn muss die Figur geraten, wenn sie eine Charakterentwicklung machen will.

Innere Konflikte sind nicht einfach zu erzählen, im Film noch weniger als im Roman, wo man ihn mit Erzähltechniken wie dem inneren Monolog und der erlebten Rede ganz gut darstellen kann. Im visuellen Erzählen gibt es solche Erzähltechniken nicht. Das, was im Inneren der Figur passiert, muss ins Außen transportiert werden, am besten über Handlung oder andere Figuren, über die Schatten der Hauptfigur, wie es in der Heldenreise heißt. Auf keinen Fall sollte eine Stimme aus dem Off erklären, wie es der Hauptfigur geht. Ein schlechteres Erzählen gibt es nicht. Auch sollte sich die Figur nicht hinstellen und verkünden, wie es ihr geht, einer anderen Figur sagen, dass sie Ängste, Zweifel etc. hat. Das ist nicht elegant, das ist plump. Schade, dass es so oft gemacht wird.

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