Das Wörterbuch kinematografischer Objekte

Das Dach im Film ist nicht einfach nur ein Dach. Es ist nicht nur ein Deckel, der unsere Figuren vor dem Wetter schützt, und vor anderem. Im Mittelalter stieg man dem Verbrecher aufs Dach, deckte es ab, um so die Unverletzlichkeit seines Heims außer Kraft zu setzen. Erst wen das Dach abgedeckt wird, erkennen, vermissen wir seine Schutzfunktion, und fürchten uns vor der Kraft, die zum Abdecken nötig ist.

Das Dach ist mehr, es spricht zu unseren Protagonisten, lädt sie ein, es aufzusuchen, ein Ort der Freiheit, der Sehnsucht und des Unbeobachtet-Seins. Vielleicht um selbst unbemerkt zu beobachten. Ein Ort der Distanzierung und des Abschieds von der Welt, vor dem tödlichen Sprung zurück hinein. Lädt ein, zur Flucht über die Dächer, lädt ein, von einem zum anderen zu springen, abzurutschen, herunterzufallen, sich ängstlich am Giebel festzuklammern.
Kinematografische Objekte motivieren Figuren und Filmemacher.
Und es spricht zu uns, den Filmemachern. Mit der Kamera blicken wir mal vom Boden hinauf, mal vom Dach herab. Schuss, Schnitt, Gegenschuss. Und da ist er, zum ersten Mal überhaupt: Der Vertigo-Effekt. Wir fahren über den First hinweg, um zu sehen, was das Dach vor uns verbirgt, oder blicken statisch auf ihn, gespannt darauf, wer gleich seinerseits hervorschaut. Blicken über die Dächer und in den Himmel. Bewegen uns, die Kamera, entsprechend der vertikalen und horizontalen Struktur, der Steigung oder des Gefälles.

Das Dach ist hier ein kinematographisches Objekt. Wie Auto, Haar, Motte, Telefon und einhundert andere Begriffe im Wörterbuch kinematografischer Objekte. Dieses »Wörterbuch« entstand am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie der Bauhaus-Universität Weimar, ist das Werk von 62 Autoren, darunter den sieben Herausgebern und einem Direktoren des Kollegs, Lorenz Engell, und motivierte mich zur ersten Buchbesprechung auf filmschreiben.de.

Dass Dinge, Objekte Handlungen motivieren, ist die Idee des Wörterbuchs. Kinematografische Objekte motivieren Figuren und Filmemacher. Die Figuren zu erzählten Handlungen, die Filmemacher zu künstlerischen Entscheidungen. Entscheidungen über Perspektiven, Beleuchtung, Einstellungsgrößen, Einstellungslängen, Schnitten, und über vieles mehr.
Filmische Operationen wie Zoom, Close-Up und Zeitlupe eingeschlossen.
Wer sich erinnert: Das haben wir bei einem Theorie tl;dr gelernt, das sich mit der „Medienwissenschaft der Motive“ beschäftigte, einem Aufsatz von Lorenz Engell, dem oben genannten Direktoren des IKKM, und André Wendler, der ebenfalls als Autor im Wörterbuch vertreten ist: Bei den Einträgen „Amerikanische Nacht“ und „Zeitlupe“. Wo man das, die Idee, was ein kinematographisches Objekt ist, leider nicht lernt, ist das Wörterbuch selbst.

Natürlich lassen sich aus den Einträgen des Wörterbuchs Rückschlüsse auf diese Idee ziehen, sie ist es ja, die die Existenz jedes Eintrags begründet. Eine Beschreibung oder Definition aber fehlt, das wird besonders im komplizierten Vorwort deutlich, wo man natürlich nach einer solchen Erklärung sucht – vergeblich.

Das macht es nicht einfach, auch für mich nicht, zumal sich seit der „Medienwissenschaft der Motive“ etwas geändert hat: Zum einen der Begriff, denn es ist nicht mehr von kinematographischen »Motiven« sondern von »Objekten« die Rede; zum anderen die Definition, die jetzt filmische Operationen wie Zoom, Close-Up oder Wendlers „Amerikanische Nacht“ und „Zeitlupe“ mit einschließt. Das legt ein Missverständnis meinerseits nahe, vielleicht handelt es sich bei den »Motiven« und »Objekten« doch um ganz Verschiedenes. Sollte dem so sein bitte ich um Entschuldigung und Erklärung. Inhalt des Wörterbuchs und die beteiligten Autoren weisen aber erst mal auf einen Zusammenhang hin.
Der Unterschied zwischen einer Vase mit weißen Lilien und einer mit roten Rosen.
Zumal schon in „Medienwissenschaft der Motive“ eine Art Datenbank angedacht wurde, die eine Sammlung kinematographischer Objekte/Motive werden sollte. Digital, übers Internet verfügbar, und dadurch auch, wenn ich das richtig erinnre, unter Mitwirkung einer Öffentlichkeit, vielleicht ähnlich der Wikipedia. So etwas hat es leider nicht gegeben oder wurde wieder eingestellt, ich weiß es nicht. Den Anspruch an diese »Motivforschung« erfüllt das Wörterbuch leider nur teilweise. Wir erinnern uns:

Für eine Motivforschung würde es als nicht genügen, einfach nur alle Vasen der Filmgeschichte zu sammeln, sondern man müsste angeben, wann und unter welchen Bedingungen Vasen bei der Konstitution von Mördern im Spiel sind, warum manche Vasen einfach nur Vasen bleiben, und warum andere wiederum über das Schicksal der verlassenen Filmheldin entscheiden (der Unterschied zwischen einer Vase mit weißen Lilien und einer Vase mit roten Rosen). Und man müsste angeben können, welche filmischen Operationen etwa in Montage, Kadrage, Licht- und Tonführung dabei anfallen.
André Wendler und Lorenz Engell: Medienwissenschaft der Motive. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Ausgabe 1, 2009. Bei diaphanes zum Herunterladen als PDF

Das gelingt nicht allen Beiträgen, und nie vollständig, was natürlich auch den räumlichen Grenzen des analogen Buchs geschuldet ist.

Zurück zur Einleitung. Das Fehlen einer Beschreibung dessen, was eigentlich ein »kinematographisches Objekt« sein soll, und warum auch Operationen derart in diese Definition fallen, dass es eigene Einträge im Wörterbuch rechtfertigt, stellt die Frage nach der Zielgruppe des Wörterbuchs. Besonders wissenschaftlich wirkt dieser Umstand nämlich nicht, dennoch wird vom Laien Vorwissen erwartet. Und auch die Beiträge selbst schwanken gelegentlich sehr in ihrer Verständlichkeit für Nicht-Medienphilosophen.
Die Herangehensweise der Filmobjektphilosophen ist uns Filmemachern nah.
Doch all das beiseite, und ich komme leider viel zu spät zu diesem Punkt: Das Wörterbuch kinematografischer Objekte lohnt sich! Über das Visuelle, Bewegte, Tönende in die Filmgeschichte einzusteigen, scheint mir erst einmal sehr viel sinnvoller, als über Jahreszahlen, Epochen und nationale Filmkulturen. Film ist visuell, bewegt und tönend. Diesen Einsteig schafft das Wörterbuch gar nicht, kann es nicht schaffen, aber es regt dazu an, und das ist viel wert.

Vielleicht ist die folgende Überlegung unfair, das wir in Deutschland sehr unhistorischen Film machen, vielleicht kenne oder erkenne ich ihn einfach nicht. Unhistorisch in dem Sinne, das wir blind sind für die Giganten auf deren Schultern wir stehen. Wir verarbeiten in unseren deutschen Filmen keine deutsche Filmgeschichte, wie es amerikanische Filme mit der amerikanischen (und auch deutschen) Filmgeschichte tun.

Etwas Filmgeschichte täte uns gut, und die Herangehensweise der Filmobjektphilosophen ist dem Film sehr nah, und dadurch uns als Filmemachern nah und also hilfreich. Es ist konkreter, konkreter nutzbar. Und auch die Form eines Wörterbuchs lädt mehr zum Nachschlagen anlässlich eines konkreten Interesses, denn zum Durchlesen ein.
Ist die Frage einmal da, kann man nicht aufhören, sie zu stellen.
Dass einige (wenige) Einträge dann doch sehr wissenschaftlich und schwer verständlich sind? Man kann sich ja mal nen bisschen anstrengen. Dass einige (wenige) Einträge sich schon mal mit, mhm, Blödsinn aufblasen und aufhalten? Passiert, nächster. Was jetzt eigentlich ein »kinematographisches Objekt« ist? Lässt sich nach und nach erahnen, und wird eigentlich erst wichtig, wenn man selbst kinematographische Objekte als solche identifizieren will.

Und das ist der interessanteste Aspekt an der ganzen Sache. Die Herausgeber verstehen das Wörterbuch als »offenes Objekt«, sie haben ihre Autoren zum Mitmachen eingeladen. Als Teilnehmer, nicht als Kommunikatoren. Und genauso laden sie – fast automatisch – den Leser ein: als Teilnehmer, nicht als Rezipienten. Ist die Frage einmal da, welches Objekt welche Handlungen einer Figur oder welche Entscheidungen eines Filmemachers motiviert, kann man nicht aufhören, sie zu stellen.

Das Dach? Kommt im Wörterbuch gar nicht vor. Ein eigener Versuch von mir und Freunden. Viel Spaß damit.

From the malicious escalators […] in silent comedy to the cruiser Potemkin, the oil derrick in Louisiana Story and the dilapidated kitchen in Umberto D., a long procession of unforgettable objects has passed across the screen – objects which stand out as protagonists and all but overshadow the rest of the cast.
Siiegfried Kracauer: Theory of Film. The Redemption of Physical Reality.

Dennis Göttel, Friederike Horstmann, Jan Philip Müller, Volker Pantenburg, Linda Waack, Regina Wuzella und Marius Böttcher (Hg.): Wörterbuch kinematografischer Objekte. Beim August Verlag.

2 Gedanken zu „Das Wörterbuch kinematografischer Objekte“

  1. Bei „Zeitlupe“ und „Zoom“ bin ich mir auch nicht ganz sicher, ob das kinematografische Objekte sind. Solche Objekte sind meinem Verständnis nach Props oder (an-)fassbare Dinge innerhalb der filmischen Realität. Dennoch mag ich das Wörterbuch auch sehr, weil es Gegenstände in den Vordergrund rückt, mit denen man sich meistens beim Filmesehen nicht beschäftigt. Außerdem macht es Spaß sich neue Begriffe zu überlegen und das Wörterbuch mental zu ergänzen.

  2. Ja, die Irritation teile ich. Film ist nunmal wie das Theater auch körperlich (vielleicht daher die 3D-Faszination?), und ich würde mein Verständnis dieser kinematographischen Objekte auch auf Körper beschränken. Auch Dramaturgie bezieht sich ja im besten Fall auf sichtbare, anfassbare Ziele, Bedürfnisse, Beziehungen, Dinge.

    Allerdings habe ich die Einträge dann versucht anders zu verstehen: Nicht als kinematographische Objekte selbst, sondern als Formen der Inszenierung solcher Objekte. Ich vermute, dass es so gedacht ist, weil diese Einträge ja auch nicht der Wörterbuch-eigenen Definition von Objekten, die Figuren und Filmemacher motivieren entsprechen.

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