Schön gesagt. Aber wie geht das? Wie schreibt man nicht langweilig, sondern unterhaltsam? Was also ist „Unterhaltung“?
Unterhaltung bedeutet, dass sich Publikum und Leserschaft an einer Geschichte beteiligen. Zwei grundlegende Formen der Beteiligung gibt es: die kognitive Beteiligung und die emotionale Beteiligung.
Kognitive und emotionale Beteiligung
Kognitive Beteiligung heißt, dass Publikum und Lesende keine Gelegenheit bekommen, an etwas anderes zu denken; dass sie wissen wollen, wie die Geschichte weiter geht, was als nächstes geschieht, was die Hauptfigur tut, wie sie es tut und warum sie es tut. Kognitive Beteiligung meint, dass Publikum und Lesende sich Fragen zur Geschichte stellen, deren Antworten sie wissen wollen.
Spannung ist eine bestimmte Form der kognitiven Beteiligung. Die Extremform von Spannung ist Suspense. Suspense wird erzeugt, wenn Publikum und Lesende einen Wissensvorsprung vor der Hauptfigur haben. Sie wird auch als dramatische Ironie bezeichnet. Hitchcock erläutert sie in dem sehr lesenswerten Buch „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“ von Francois Truffaut anhand eines schönen Beispiels: Zwei Männer sitzen an einem Tisch. Unter dem Tisch befindet sich eine Bombe, von der das Publikum weiß, nicht aber die Männer. Dieser Wissensvorsprung evoziert Fragen: Werden die beiden rechtzeitig feststellen, dass sich unter ihrem Tisch eine Bombe befindet? Werden sie davon kommen? Wird sie jemand warnen? Werden sie von der Bombe zerfetzt? Wer hat die Bombe dort platziert und warum?
Emotionale Beteiligung bedeutet, dass Publikum und Leserschaft Empathie für die Hauptfigur aufbringen; dass sie nach-empfinden und mit-fühlen; dass sie Gefühle der Lust und der Unlust, der Anziehung und der Abstoßung, des Angenehmen und des Unangenehmen, des Schönen und des Hässlichen, der Zuneigung und der Abneigung, der Sympathie und der Antipathie empfinden.
Inhaltliches und emotionales Thema
Die kognitive Beteiligung wird über ein inhaltliches Thema erzielt, das in Geschichten auf der Handlungsebene erzählt wird, die sich aus dem dramatischen Ziel der Hauptfigur ergibt. Auf ihr geht es „um“ etwas: Worum geht es in der Geschichte? Die emotionale Beteiligung wird über ein emotionales Thema ermöglicht, das auf der Beziehungs- bzw. emotionalen Ebene erzählt wird und sich aus dem Bedürfnis der Hauptfigur ergibt. Auf ihr geht es „über“ etwas: Worüber erzählt die Geschichte?
In „Little Miss Sunshine“ beispielsweise geht es auf der Handlungsebene um Erfolg, um Gewinnen und Verlieren: Die Familie fährt nach Kalifornien, damit Olive den Wettbewerb gewinnt. Ihre Handlungen sind auf dieses Ziel ausgerichtet. Die Figuren sind dem Thema entsprechend entwickelt und transportieren unterschiedliche Standpunkte dazu. Die Beziehungsebene erzählt über das Zusammenwachsen der Familie, über Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Auch hier sind die Figuren dem Thema entsprechen entwickelt und stehen für bestimmte Haltungen. Dass sie als Familie wieder zusammenwachsen müssen, um glücklich zu werden, ist jedoch nicht der Grund, warum sie aufbrechen, warum sie anfangen zu handeln. Aber es ist das, was sie am Ende bekommen: Sie gewinnen sich als Familie wieder, nachdem jede einzelne zuvor alles verloren hat.
Inhaltliche Themen können alles Mögliche sein: aktive Sterbehilfe, Selbstjustiz, Patchwork-Familien, die alternde Gesellschaft, religiöser Fanatismus, Drogen, Sexualstraftäter, Inklusion, Integration, Gewalt, Spionage, Ausbeutung, Midlife-Crisis und so weiter. Inhaltliche Themen können kultur- und gesellschaftsspezifisch sein. Das Thema „alternde Gesellschaft“ beispielsweise spielt in den jungen Gesellschaften Afrikas keine Rolle.
Emotionale Themen sind hingegen universell, archetypisch, transhistorisch, transkulturell: Liebe, Leben, Freiheit, Sicherheit, Ordnung, Selbstbestimmung, Nähe, Gemeinschaft, Loyalität, Vertrauen, Gesundheit, Unversehrtheit, Heimat, Identität, Zugehörigkeit, Anerkennung, etc. und ihre Gegenteile: Hass, Sklaverei, Unsicherheit, Chaos, Fremdbestimmung, Distanz, Einsamkeit, Verrat, Krankheit, Orientierungslosigkeit, Identitätsverlust, Ausgeschlossensein, Ablehnung usw. Viele Hollywood-Filme sind nicht wegen ihrer Stars oder großen Budgets weltweit erfolgreich, sondern weil sie überall auf der Welt emotional „verstanden“, die Konflikte der Figuren nachempfunden werden.
Ein inhaltliches Thema kann noch so interessant sein – ohne emotionales Thema, das ihm zugrunde liegt, bleibt es leblos und die Geschichte oberflächlich.
Werteorientierte Dramaturgie
Emotionale Themen sind Werte: Es gibt Menschen, die bereit sind, dafür zu sterben. Diese Werte stehen in einer Geschichte auf dem Spiel: entweder, weil zwei Werte in Opposition zueinander stehen – Selbstbestimmung versus Fremdbestimmung – oder weil sie die Hauptfigur in ein Dilemma führen, in eine Entscheidungssituation, in der sie sich zwischen zwei Dingen entscheiden muss, die sie beide will, von denen sie aber nur eins haben kann: Liebe oder Freiheit.
Die meisten Liebesfilme beispielsweise münden in einem Dilemma der Hauptfigur: Soll Francesca in die „Brücken am Fluss“ mit ihrer großen Liebe in eine neue, aber ungewisse Zukunft gehen oder soll sie bei ihrer Familie und in ihrem alten, langweiligen, aber sicheren Leben bleiben? Baby will in „Dirty Dancing“ mit ihrer großen Liebe Jonny zusammen sein und zugleich eine gute Tochter bleiben. Beides geht jedoch nicht, sie muss sich entscheiden (um dann am Ende doch beides zu bekommen – ein Happy End: kein Kitsch, sondern die am schwersten zu entwickelnde Auflösung eines Konflikts).
Diese Dilemma-Situation wird in der fiktionalen Dramaturgie als Krise bezeichnet: Die Hauptfigur befindet sich in der Krise. Die Krise ist die äußerste Zuspitzung des Konfliktes, hier wird eindeutig klar, worum es geht und was auf dem Spiel steht. Sie ist ein Moment der höchsten Emotionalität, nicht nur für die Figur, sondern auch für Publikum und Lesende. Mit der Entscheidung, die die Figur in der Krise trifft, geht sie in den Höhepunkt der Geschichte und löst den Konflikt. In der Entwicklung einer Geschichte sollte man deshalb früh über die Möglichkeit einer Krisensituation für die Hauptfigur nachdenken: von hinten nach vorne entwickeln.
Die Entscheidung der Figur transportiert die Aussage der Geschichte. Jede Geschichte, sofern sie vom Publikum und den Lesenden als sinnvolles Ganzes verstanden wird, hat eine Aussage – ob die Autorinnen und Autoren wollen oder nicht. Sie mag nicht klar herausgearbeitet oder ein Allgemeinplatz sein – Liebe überwindet alle Hindernisse, Verbrechen lohnt sich nicht -, aber sie ist da. Auch über die Aussage sollte man sich früh Gedanken machen: Was will ich mitteilen? Was sollen Publikum oder Leserschaft mitnehmen?
Die Mitteilung, die man machen will, zu kennen, ist ein wichtiger Teil der Erzählintention: Warum will ich diese Geschichte erzählen? Inhaltliches Thema, emotionales Thema und Wertekonflikt sind ebenfalls Teil der Erzählintention. Wer sie nicht kennt, erhöht die Wahrscheinlichkeit, unnötig herumzueiern, die Geschichte irgendwann im Müll zu entsorgen oder ein oberflächliches, nichtssagendes Heititeiti zu erzählen, das niemanden interessiert. Wer stattdessen damit arbeitet, hat sehr wirksame Kriterien für die erzählerische Ökonomie an der Hand, mit der sie oder er entscheiden kann, was die Geschichte braucht, um erzählt zu werden und was nicht, ob also Figuren, Szenen, Ereignisse, Gegenstände, Dialoge dramatische Relevanz haben oder nicht.
Wer Geschichten erzählt hat Verantwortung
Geschichten stellen also immer eine Möglichkeit dar, mit der wir uns über die Werte, nach denen wir individuell und in der Gesellschaft leben wollen, verständigen können. Sie geben immer Antworten auf die Fragen „Wie sollen wir leben?“ und „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?“. Wer Geschichten erzählt hat also immer Verantwortung für das, was sie oder er erzählt und für das, was sie oder er damit über das Menschsein und die Gesellschaft aussagt.
Unterhaltung meint also weit mehr, als dem Publikum und der Leserschaft lediglich eine lustige Zeit zu verschaffen. Wer nur unterhalten will, die und der sollten besser Witze erzählen. Denn Unterhaltung ist nicht der Zweck des Geschichtenerzählens, sondern sein Mittel. Der Zweck ist, das Menschsein und das In-der-Welt-Sein zu reflektieren. Das ist die einmalige Kraft des Geschichtenerzählens – eine Kraft, wie keine andere Kunstform sie hat.