Theorie tl;dr: Über Übersetzungen

Too long; didn’t read: Texte aus Drehbuch-, Film- und Welttheorie, kurz, knapp, bündig zusammengefasst und auf ihren Wert fürs filmschreiben hin geprüft. Heute der Essay »Übersetzung ist unmöglich. Fangen wir also an« von Boris Buden.

In 50 Worten (Was ist das?): Eine Übersetzung ist an Gesellschaft gebunden, sie hat kulturelle Bedeutung, ist politisch. Besser: Sie war politisch. Will diese „kulturelle Übersetzung“ – Ausdruck einer Kulturalisierung unserer Gesellschaft, eines Kampfes kultureller Identitäten, die um Anerkennung ringen – ihre politische Bedeutung zurückgewinnen, muss sie diese Kulturalisierung überwinden, indem sie eine neue Gemeinschaft bildet und bildet.

In 140 Zeichen (Was ist das?):

#BorisBuden: #Humboldt forderte vom #Übersetzer Treue – zur #Sprache, die er bildet; es braucht stattdessen Verrat – jenseits von Identität. — filmschreiben.de (@filmschreiben) 6. Juni 2017

Die Erkenntnis: Übersetzung ist Verrat, das kennen wir aus einem Italienischen Sprichwort „Traduttore, traditore“ und das sollte sie laut Buden auch sein. Er erklärt die Untreue der Übersetzerin zu ihrer neuen Tugend, nachdem Wilhelm von Humboldt sie noch als Treue verstand – wohlgemerkt nicht als Treue gegenüber dem Original, sondern als Treue gegenüber der eigenen Kultur und Nation, die es durch Sprache zu bilden gelte.

Buden und Nancy Fraser, der Politikwissenschaftlerin, deren Buch er hier auch bespricht, geht es um eine Art Übersetzung, der Transformation des sozialistischen Kampfes für Verteilungsgerechtigkeit in einen liberalen Kampf um Anerkennung für die eigene Identität. Dieser Übersetzung wohne ein Fehler inne, argumentiert Buden, ein Widerspruch. Sein Beispiel: „Die Logik der Umverteilung ist es […], Gender aus der Welt zu schaffen (dass es etwa keine geschlechtsspezifischen Unterschiede bei Löhnen gibt); im Gegensatz dazu besteht die Logik der Anerkennung darin, die Besonderheiten der Geschlechter aufzuwerten.“

Für Buden gibt es keinen Schritt zurück hinter diese „Übersetzung“, denn wie bei sprachlichen Übersetzungen auch, ließe sich das Original nicht aus der Übersetzung rekonstruieren. (Warum das Original verloren sein soll, wird mir zumindest allerdings nicht verständlich.) Die Lösung sei also, eine erneute Übersetzung vorzunehmen, „jenseits der Trennlinien zwischen kulturellen Identitäten“, hinter die dann ebenfalls nicht zurückgeschritten werden kann.

Das Zitat:

Kulturalisierung ist eine Art Übersetzung. Die Sprache sozialer Kämpfe wurde in die Sprache des Kampfes um kulturelle Anerkennung übersetzt. Das Problem ist, dass es keinen Weg zurück gibt. Kein Original kann aus seiner Übersetzung rekonstruiert werden. Eine Übersetzung ist irreversibel.

Von besonderem Interesse ist vielleicht Budens Beschäftigung mit dem Titel des Buches von Fraser. Im Original: Justice Interruptus. Critical Reflections on the Postsocialist Condition. Im Deutschen: Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats.

Buden hebt die sexuelle Konnotation des Originaltitels hervor, interessiert sich aber nicht für ihr Fehlen in der deutschen Übersetzung. Bezüglich des Untertitels macht er auf die kluge Entscheidung aufmerksam Postsocialist Condition mit Postindustrieller Sozialstaat zu übersetzen, weil im deutschen Postsozialismus eine ganz eigene lokale und historische Bedeutung habe, und die eigentlich intendierte globale, epochale Bedeutung im Deutschen nur missverstanden werden könnte.

Der Autor: Boris Buden ist ein aus Kroatien stammender österreichischer Philosoph, Journalist, Autor und Übersetzer – er hat zum Beispiel Freud ins Kroatische übersetzt. Buden promovierte in Kulturwissenschaften an der Humboldt Universität Berlin. Weitere Themen: Gesellschaftskritik und Gegenwartskunst. Er lehrt an der Bauhaus-Universität in Weimar.

Das letzte Wort:

Es war die Übersetzung, die gute alte sprachliche Übersetzung, die einst – im Sinne Humboldts – das Aufkommen des westfälischen Ordnung unterstützte. Das eben war ihre soziale und politische Aufgabe – die Gemeinschaften dieser Ordnung, die Nationen der heutigen Welt samt ihrer politische Ausdrucksform, dem souveränen Nationalstaat, auszubilden. Am Ende dieses Prozesses, einem Ende, das wir postmodern, postnational, postsozialistisch, postkolonial, postwestfälisch, poststrukturalistisch etc. nennen können, wurde Übersetzung kulturell.

Boris Buden: Übersetzung ist unmöglich. Fangen wir also an. Ist im Internet zu finden und zwar auf den Seiten des Europäischen Instituts für Progressive Kulturpolitik. Vielen Dank dafür.

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