Warum sind amerikanische Top-Serien beim deutschen Qualitätsserienpublikum so beliebt? Und warum sind es deutsche Serien, die Qualitätsanspruch erheben – DEUTSCHLAND´83, DIE STADT UND DIE MACHT, BLOCHIN etc. – nicht in dem Maße?
Neben einer Reihe grundlegender dramaturgischer Gründe – eindimensionale Hauptfiguren, schwache Beziehungsebenen, unklare thematische Fokussierungen, mangelndes Bewusstsein für Wertekonflikte, direkte und erklärende Dialoge – gibt es einen weiteren sehr wichtigen: das Publikum selbst, genauer: das, was es weiß und das, was es nicht weiß und der Umgang mit diesem Wissen und Nicht-Wissen in der Entwicklung einer Serie. Was wissen Zuschauerinnen und Zuschauer bereits und muss ihnen also nicht mehr erzählt werden? Und was muss ihnen erzählt werden (damit sie die Geschichte verstehen), weil sie es noch nicht wissen?
Was wissen Zuschauerinnen und Zuschauer bereits und muss ihnen also nicht mehr erzählt werden?
Die Theater- und Filmwissenschaft spricht hier von „Impliziter Dramaturgie“. Christine Lang definiert sie auf kino-glaz.de als „jene Elemente der Erzählung, die auf das Weltwissen der Rezipienten referieren und die damit für den erweiterten Wirkungsradius eines Werks verantwortlich sind.[…] Dabei ist Implizite Dramaturgie nicht zuletzt und zum größten Teil für die Realismus-Wirkung und die Authentisierung des Erzählten verantwortlich. Wenn etwa Metaphern und die Verweise auf das Welt- und Alltagswissen medial erfahrener RezipientInnen nicht stimmen, kann ein Film oder eine Fernsehserie schnell ahnungslos oder naiv wirken.“
Implizite Dramaturgie realisiert sich also immer erst im Rezeptionsprozess. Das Publikum setzt die Inhalte einer Serie oder eines Films mit seinen eigenen Erfahrungen und seinem Welt- und Alltagswissen in Beziehung und gleicht beides miteinander ab. Die gesellschaftliche Realität des unzureichenden Krankenversicherungssystems in den USA ist in BREAKING BAD beispielsweise Teil der impliziten Dramaturgie (siehe auch das Buch „Breaking Down Breaking Bad. Ästhetik und Dramaturgie einer Fernsehserie“, das sie mit Christoph Dreher 2013 veröffentlicht hat).
Die implizite Dramaturgie sorgt also für den Abstand, den das Publikum zur Geschichte und zu den Figuren hat. Kathi Gormász spricht in ihrem Buch WALTER WHITE & CO von „Nähe auf Distanz“ und meint damit auch die Distanz, die durch die USA als Entstehungs- und Handlungsort entsteht. Der unweigerliche Abgleich der fiktiven mit einer möglichen realen Welt fällt beim deutschen Publikum indirekter aus, da die „Primärerfahrung mit Amerika, die ein deutschsprachiges Publikum mitbringt, als vergleichsweise gering einzuschätzen“ ist.
So ist beispielsweise die fiktive Wirklichkeit von deutschen Krimis unserer Erfahrungswirklichkeit näher als die amerikanischer Krimis. Obwohl dasselbe Realismuskonzept bedient wird, unterzieht das deutsche Publikum das eines deutschen Krimis einer härteren Prüfung. Amerikanische Serien haben also den Vorteil, dass ein solcher Realitätsabgleich aufgrund unserer Distanz zum „Kulturraum“ USA unschärfer ausfallen muss. Wir sind also eher bereit, Dinge zu glauben und als gegeben hinzunehmen. Und wir lernen etwas dabei, in BREAKING BAD beispielsweise, dass das amerikanische Gesundheitssystem sehr anders funktioniert als das deutsche.
Eine amerikanische (oder dänische, französische etc.) Serie zu schauen, ist also ein wenig wie in Urlaub fahren: Man lernt „fremde Kulturen“, Sitte und Bräuche, Geschichte und Geschichten kennen. Das hat natürlich seinen Reiz und macht Serien aus anderen Ländern interessanter.
Die Implizite Dramaturgie ist im Übrigen ein Grund, warum DEUTSCHLAND´83 in Deutschland gefloppt und im Ausland offenbar besser angekommen ist. Christian Vesper, der Serien-Programmchef von Sundance TV, in dem DEUTSCHLAND´83 lief, sagt beispielsweise, dass die Serie ihm einen neuen Blick auf die Ostdeutschen während des Kalten Krieges gewährt habe: „Als Amerikaner, der wie ich in den siebziger und achtziger Jahren aufwuchs, hatte man irgendwie den Eindruck, dass alle DDR-Bürger deprimiert und wütend seien, dass sie ihre Regierung und ihr Leben hassten. Aber hier bekommt man einen viel nuancierteren Einblick in diese Ära, und man merkt: Das stimmt so nicht.“ (zitiert nach Nina Rehfeld auf faz.net; siehe auch WARUM DEUTSCHLAND´83 NICHT GEFLOPPT IST).
Für die us-amerikanischen – und wohl auch für viele andere internationale – Zuschauerinnen und Zuschauer hat die Serie also einen historischen Mehrwert, den es für uns nicht in dem Maße hat: Sie erfahren etwas über die Situation der beiden Deutschlands in den 80-er Jahren und vor allem über die DDR, das sie im Gegensatz zu uns größtenteils noch nicht wussten.
Wie der Quotenverlauf der Serie im Ausland ist bzw. war, weiß ich nicht. Ich denke aber, dass das Interesse, das Teile der impliziten Dramaturgie beim ausländischen Publikum weckt, auch bei ihm nicht ausreichen dürfte, um es die Serie bis zu Ende schauen zu lassen. Denn es gibt einen anderen Teil unseres Weltwissens – und zwar nicht nur des deutschen, sondern des weltweiten Weltwissens -, den die Macherinnen und Macher von DEUTSCHLAND´83 bei der Entwicklung offensichtlich nicht bedacht haben: Wir wissen, dass der Dritte Weltkrieg nicht stattgefunden hat. Deshalb funktioniert der grundlegende Spannungsbogen der Serie nicht, der sich aus der dramatischen Frage ergibt, ob es der Hauptfigur gelingen wird, den Dritten Weltkrieg zu verhindern. Auf dieser Frage aufzubauen war ein grundlegender strategischer Fehler in der Entwicklung des Stoffes. Denn die Frage kann keine Spannung erzeugen.
Spannung entsteht, wenn Ungewissheit herrscht.
Die Dilemma-Situation, in die die Hauptfigur stürzt, ist entsprechend auch keine echte, sondern eine Pseudo-Krise: Wenn sie sich als Spion zu erkennen gibt, kann sie den Dritten Weltkrieg verhindern, auch wenn sie dafür verhaftet und verurteilt wird und für lange Zeit ins Gefängnis muss. Das Problem ist: Wir wissen – vor ihr – bereits, wie sie sich entscheiden wird: Natürlich gibt sie sich zu erkennen. Denn die Alternative wäre: der Dritte Weltkrieg. Und damit nicht nur ihr Tod. Ursache für diese Spannungslosigkeit ist die Alternativlosigkeit. Spannung braucht Ungewissheiten. Sie kann nur entstehen, wenn der Ausgang einer Situation ungewiss ist, wenn es also verschiedene Möglichkeiten gibt.
So beispielsweise in THE AMERICANS: Mit zwei russischen Spionen, die in den achtziger Jahren in Amerika leben und spionieren, erzählt die Serie ein ähnliches Thema wie DEUTSCHLAND´83, ist aber vollkommen anders entwickelt. Das Publikum weiß zwar, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion ein Problem für die beiden darstellen wird. Dieses Wissen über das Ende des Kalten Krieges beantwortet jedoch keine Frage, sondern wirft stattdessen sogar Fragen auf: Was machen die Beiden danach? Werden sie enttarnt? Wechseln sie die Seiten? Arbeiten sie für den russischen Geheimdienst weiter?
Für die Entwicklung einer Serie oder eines Spielfilms ist es also wichtig, sich das mögliche Welt- und Alltagswissen des Publikums bewusst zu machen und es für die Entwicklung und Erzählung der Geschichte zu nutzen.
weil,wie sich Europa entwickelt der letzten 30 Jahren,so entwickelt sich auch der deutche Film.