Wenn wir Autoren hier in Deutschland das Wort Zensur benutzen, sprechen wir wohl meist von unserer eigenen, von Selbst-Zensur, durch den sogenannten inneren Kritiker oder inneren Zensor (siehe z.B. Schlecht sein dürfen oder Über die Pflege unserer Kreativität). Wir sprechen, zumindest würde ich das so vermuten, nicht von staatlicher und/oder politischer Zensur.
Vielleicht ist es höchste Zeit, das zu ändern. PEN America hat Anfang der Woche die Veröffentlichung einer Studie mit dem Namen „Global Chilling: The Impact of Mass Surveillance on International Writers“ angekündigt: Autoren weltweit zensieren sich selbst im Sinne der Machthabenden, dank Überwachung (Link, Bericht (PDF)). Bei aller Fiktion ist doch die erste Aufgabe des Autoren die Ehrlichkeit. Zwei Tage später dann der Anschlag auf Charlie Hebdo durch gewalttätige „religiöse“ Fanatiker mit bisher zwölf Todesopfern, die ultimative Zensur: tot statt mundtot.
Die Federation of Screenwriters in Europe, zu der auch der Verband Deutscher Drehbuchautoren gehört, schreibt in Reaktion auf den Terroranschlag (Link):
As screenwriters we are shocked by this assault on our freedom to speak our minds, our freedom to create. Freedom of Expression is the essential prerequisite of creativity. The slaughter in Paris is an attack on our right to speak, to voice our opinions, to tell our stories.
Und sie haben Recht. Bei aller Fiktion ist doch die erste Aufgabe des Autoren die Ehrlichkeit. Autoren erarbeiten Wahrheit und dann ihren ehrlichen Ausdruck, und die Erarbeitung der Wahrheit macht ihre Arbeit zu dem schwierigen, mühsamen, manchmal gefährlichen, wichtigen Beruf der er ist. Und wenn ich von Gefährlichkeit schreibe, dann meine ich damit Gefahren wie Alkoholmissbrauch, Wahnsinn, Suizidalität, nicht Gefahr durch irgendwelche Terroristen.
„Irgendwelche“, nicht „islamistische“ Terroristen, denn machen wir uns nichts vor: Bei 10.000 Adressen der NSU werden sich mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch Autoren und Künstler befunden haben, die dort von den Terroristen wegen ihrer Arbeit eingetragen wurden. Und: „To see such killers as representatives of a religion, and to reduce a complex picture to their preferred caricature, would be to reward their crimes“, The Economist (Link).
Ich bin frei, zu denken und zu sagen, was ich will und sollte keine Angst dabei fühlen müssen.
Freiheit ist essentielle Voraussetzung von Kreativität. Zensur verhindert Wahrheit und Ehrlichkeit. Und während Journalisten, Künstler und Autoren auf die Anschläge noch mit „tot, aber nicht mundtot“ reagieren, werden anderswo Pläne gemacht, um Presse- und Meinungsfreiheit weiter einzuschränken, und vermeintlich im Namen von Presse- und Meinungsfreiheit, weil vermeintlich gegen den Terror. Wie schizophren.
Writers’ fear and uncertainty regarding surveillance is so widespread that several survey respondents expressed concern over submitting their responses to PEN’s survey.
PEN America: Global Chilling: The Impact of Mass Surveillance on International Writers
Während PEN herausfindet, dass „Massenüberwachung das Vertrauen von Autorinnen und Autoren darin, dass demokratische Regierungen ihre Rechte auf Privatsphäre und Meinungsfreiheit respektieren, weltweit erschüttert hat,“ hat der Journalist (!!) Julian Reichelt in der Bild schon den eigentlichen Täter des Anschlags gefunden: Unter der Überschrift „Warum wir die Überwachung der NSA gegen den Terror brauchen“ macht er Edward Snowden verantwortlich.
„Hier haben wir nun zwei symbolische und von vielen im Westen vertretene Ansichten zum Umgang mit dem islamistischen Terror – Snowden ist ein Held und ‚Ich bin Charlie‘. Sie sind nicht kompatibel.“
Julian Reichelt: Warum wir die Überwachung der NSA gegen den Terror brauchen
Doch, das sind sie durchaus, sie sind sogar nahezu identisch. Sie lassen sich zusammenfassen zu: „Ich bin frei, zu denken und zu sagen, was ich will und sollte keine Angst dabei fühlen müssen.“
Während die einen noch Angst vor dem Terror haben…
Leider, lassen sich viele solcher Kommentare in deutschen Tageszeitungen finden. Den Autoren sei die PEN-Studie dringend ans Herz gelegt. So anmaßend das bekannte „Je suis Charlie“ schon ist – denn wir waren nicht die, die ihre Stimme erhoben und sich in Gefahr begeben haben – es wird durch solche kleingeistigen, vor Angst erblindeten „Journalisten“, die sich unter solchen Überschriften sammeln, lächerlich gemacht. Julian Reichelt, der 2008 den Axel-Springer-Preis für eine Reportage mit dem Titel „Sie können uns töten, aber niemals besiegen“ erhielt, ist nicht tot, aber längst besiegt.
Während die einen noch Angst vor dem Terror haben, haben die anderen Angst vor der Terrorbekämpfung. Und der Terror hat dank der Terrorbekämpfung seinen Zweck erfüllt. Suzanne Nozel, Executive Director beim PEN America Center (Link):
Fear of government surveillance is prompting many writers living in democratic countries to engage in the kind of self-censorship associated with police states. We’re all well aware of writers in places like China and Russia who must live life knowing they are always being watched—it’s disturbing to recognize that those in the U.S., Canada, and Australia are now coming to adopt similar behavior.
Ich habe mich selbst und andere deutsche Autoren bisher nie als besonders systemkritisch empfunden. Kritisch ja, aber nicht in einem Maße, das irgendjemand das als Gefahr verstehen könnte. Ich habe bisher auch nicht das Gefühl gehabt, meine Meinung zensieren zu müssen. Vielleicht, weil ich immer noch nicht die Bedrohung der Massenüberwachung ernst genommen habe. So langsam wirds Zeit.
…desto witziger die Mittel.
Doch es gibt Hoffnung. Nicht in dem Sinne, dass wir keine Zensur erleben werden, das werden wir und tun wir schon. Aber vielleicht, wenn wir uns den dessen bewusst werden, brauchen wir uns nicht davor zu fürchten. Es hat immer Zensur gegeben, und es hat immer Wege und Mittel gegeben, diese Zensur zu unterlaufen. Sigmund Freud 1900 in Die Traumdeutung:
Der Schriftsteller hat die Zensur zu fürchten, er ermäßigt und entstellt darum den Ausdruck seiner Meinung. […] Je strenger die Zensur waltet, desto weitgehender wird die Verkleidung, desto witziger oft die Mittel, welche den Leser doch auf die Spur der eigentlichen Bedeutung leiten.
Ein Lesetipp: China’s Crime Free Crime Films von Nury Vittachi auf NYTimes.com über das Filmemachen unter chinesischer Zensur (Link).