In diesen Zeiten, in denen der Kinogang zu einer blassen Erinnerung verschwommen ist, flackern die Kinohighlights der letzten Jahren wie Leuchtfackeln am rettenden Ufer der hoffentlich bald eintretenden cinephilen Rehabilitation.
2018 sah ich beim Münchner Filmfest den australischen Film Sweet Country von Warwick Thornton. Spontan hatte ich mich für den Film entschieden, und fand eine unverhoffte Kinoperle, einen modern erzählten Western über den Rassismus im Australien der 1920er Jahre: Der Aboriginee und Angestellte einer Farm, Sam Kelly, erschießt aus Notwehr einen weißen Mann. Um seinen Verfolgern zu entkommen, muss er zusammen mit seiner Frau durch das australische Outback flüchten. In der nächsten Stadt angekommen, gesteht er die Tat in der Hoffnung, dass der Gerichtsprozess die Wahrheit hervorbringt. Doch auch ein ordentlicher Gerichtsprozess kann sein Schicksal nicht ändern…
Ein Western mit seherischen Fähigkeiten
Was den Film neben seinem Genre und seiner Thematik besonders macht, ist seine erzählerische Struktur. Eigentlich verläuft der Film kausalchronologisch. Inmitten der Handlung sehen wir allerdings stumme Szenen, in denen 3-20 sekündige losgelöste Ereignisse auf der Bildebene stattfinden. Diese lassen sich zeitlich und handlungstechnisch nicht einordnen, sind aber dem Sujet eindeutig zuzuordnen. Sobald das erste Flashforward „eingelöst“ ist, entsteht eine Abmachung zwischen Publikum und Film
Es wird schnell deutlich, dass es sich dabei nicht um imaginierte Szenen oder gar um Visionen der Charaktere handelt, im Gegenteil, sie sind ein montierter Eingriff des Films in den Film. Rückblenden, Wiederholungen und Vorwegnahmen bilden den stilistischen roten Faden von Sweet Country.
Oftmals enthalten diese Einschübe dramatische Handlungen, die wir allerdings noch nicht mit dem Plot verknüpfen können, da wir entweder die auftretenden Figuren, noch nicht kennen oder nicht genügend (visuelle) Informationen erhalten. Erst als zum ersten Mal eine dieser Szenen innerhalb der chronologischen Handlung wieder auftaucht, wird klar, dass es sich um Flashforwards handelt. Sobald das erste Flashforward „eingelöst“ wurde, entsteht eine Abmachung zwischen Publikum und Film, dass auch die nächsten Flashforwards im Handlungsverlauf aufgeklärt werden.
Flashforward, Foreshadowing oder Prolepse
An dieser Stelle soll erwähnt werden, dass die Begriffe Flashforward, Foreshadowing und Prolepse nicht immer trennscharf sind. Je nach dem, welchem Filmlexikon, Fachbuch oder YouTube-Kanal man vertraut, findet sich eine unterschiedliche Definition oder Überlappung.
Ein Flashforward, teilweise auch Prolepse genannt, ist eine Szene, die die Handlung vorübergehend unterbricht und ein tatsächliches Ereignis aus der Zukunft zeigt, um anschließend wieder zur gegenwärtigen Handlung zurückkehren. Kerstin Stutterheim und Silke Kaiser setzen in ihrem wunderbaren Buch „Handbuch der Filmdramaturgie“ Foreshadowing mit der Prolepse gleich. Ich möchte den Begriff Flashforward lediglich für Szenen zu verwenden, die tatsächlich später in der chronologischen Handlung als reale Elemente vorkommen. Von Charakteren imaginierte Szenen, die nicht eindeutig darauf hindeuten, dass diese wahrheitsgemäß in der Handlungsrealität der Figuren stattfinden werden, sind als Imagination oder auch als Foreshadowing zu betrachten.
Die Unterscheidung ist für eine*n Autor*in deswegen sinnvoll, weil Ellipsen (zeitliche Auslassung eines Handlungsverlaufs), Imagination, Foreshadowing und Flashforward auf das Publikum unterschiedlich wirken und strukturell anders funktionieren. Foreshadowing ist ein verbreitetes und beliebtes erzählerisches Mittel. Es stellt eine Antizipation oder Inaussichtstellung eines Ereignisses dar, das von einem Charakter oder durch die Handlung beschrieben wird. Foreshadowing kann explizit oder subtil, als kosmische Vorausahnung der Storyworld, agieren.
Das explizite und implizite Foreshadowing
Dies kann sehr explizit geschehen, wie zum Beispiel in The Day After Tomorrow, als eine nie dagewesene Kältefront vorausgesagt wird, die in wenigen Stunden die USA erreichen wird. Es geht aber auch subtiler, so zum Beispiel in Das Dschungelbuch. Dort fragt King Louie Mogli im berühmten Song „I want to be like you“ nach dem Geheimnis des roten Feuers, das es ihm ermöglichen könnte, wie die Menschen zu sein. Mogli beteuert keine Ahnung vom Feuermachen zu haben. Doch am Ende des Films besiegt Mogli den Tiger Shir Khan, indem er ihm einen brennenden Ast an den Schwanz bindet.
Foreshadowing kann explizit Erwartungen bei den Zuschauenden schüren, oder subtil, als kosmische Vorausahnung der Storyworld, agieren. Manchmal erkennen die Zuschauenden im Nachhinein, dass ein wichtiger Teil der Handlung unbemerkt vorweggenommen wurde.
Das Spiel mit der Kausalchronologie
Flashforwards sind insofern konkreter, als dass sie die Ereignisse bildlich zeigen. Anders gesagt: Flashforwards sind ein klarer zeitlicher Bruch und bildlicher Eingriff in die Handlung. Foreshadowing prognostiziert mehr oder weniger eindeutig ein nicht konkret bebildertes Ereignis in der Zukunft.
Flashforwards stellen demnach eine Beziehung zwischen zwei Momenten her. Flashforwards sind ein klarer zeitlicher Bruch und bildlicher Eingriff in die HandlungGewöhnlicherweise regiert in der Filmdramaturgie die Kausalität und Chronologie. Das Flashforward widersetzt sich mit einer stilistischen (scheinbaren) Willkür der chronologischen Plausibilität, nur um sich ihr beim Einlösen wieder zu beugen. Die Zuschauenden vergegenwärtigen sich nochmals den Handlungsverlauf, zwischen dem Zeitpunkt als das Flashforward „geflasht“ wurde und als es eintrat. Daher spielt die zeitliche Platzierung eine wichtige Rolle. Schließlich erzählt die Handlung eine Kausalität zwischen zwei vergleichsweise weit entfernten Zeitpunkten, die vom Publikum intellektuell erschlossen werden muss. Und darin steckt wohl der interessanteste Mehrwert des Flashforwards, es fordert das Publikum zur Partizipation, zum Mitdenken, zum Ein- und Zusammenfügen auf.
Aber wie lässt sich ein Flashforward konzeptuell einbinden? Wie kann ich die Form des Flashforwards als Reflexionsebene des Inhalts einsetzen?
Spannung mal anders
Ein Flashforward entfaltet sein wahres Potenzial, wenn die unterbrechende Szene kausal und zeitlich uneindeutig bleibt. Ein Bespiel aus Sweet Country: Während Fred Smith, Farmbesitzer und Chef von Sam Kelly, mit dessen Nichte in die Stadt fährt (Minute 22), sehen wir für etwa drei Sekunden ihr blutiges Gesicht mit leerem Blick, angelehnt an einen Wagen. Erst 80 Minuten später erfahren wir, was es mit diesem Blick auf sich hat. Das Blut in ihrem Gesicht, ist Sam Kellys Blut, der hinterhältig erschossen wird, als er sowie seine Frau, seine Nichte und Fred Smith nach der Gerichtsverhandlung auf einem Karren die Stadt verlassen,
In Sweet Country ist der Einsatz des Flashforwards deswegen so gelungen, weil er Spannung erzeugt. Es lädt Szenen mit Bedeutung auf, die noch keine Bedeutung haben. Die Flashforwards drücken die Vorbestimmung der filmischen Ereignisse konzeptuell aus. Es ersetzt das überstrapazierte und codierte Einmaleins der filmischen Spannungserzeugung: die bedrohlichen Streicher, den unheimlichen Verfolgerblick aus der Hecke, die untersichtige Zufahrt der Kamera auf die Hauptfigur etc..
Die Form heiligt den Inhalt, sogar beim Flashforward
Viel spannender ist allerdings, was Flashforwards konzeptuell erzählen. Durch das Konzept ergibt sich die Notwendigkeit Flashforwards bereits beim Schreiben zu verwenden und nicht erst im Schnitt als unmotivierte Spielerei einzusetzen. In Sweet Country etwa erzählt das Flashforward den Determinismus der weißen Dominanz. Ein Flashforward greift vorweg, es erzählt den unausweichlichen Ausgang des gewaltsamen Rassismus in den 1920er Jahren Australiens. Es mag sein, dass es liberale Farmbesitzer wie Fred Smith gibt, die Aboriginees gleichwertig behandeln und es mag sein, dass sich ein Aboriginee gegen einen weißen Mann wehrt, dass er eine ordnungsgemäße Gerichtsverhandlung erhält. Doch das Schicksal der Geschichte steht nicht auf Sam Kellys Seite. Sein Scheitern, in diesem Fall der Tod, ist durch den Rassismus vorbestimmt. Die Flashforwards drücken diese Vorbestimmung konzeptuell aus, indem sie Ereignisse der Filmhandlung vorweggreifen. Sam Kelly wird ermordet, darauf haben sich die erzählerische Struktur des Films und die historische Dimension des Rassismus festgelegt.