Erzählmuster I: Chronologische und a-chronologische Erzählmuster

Gute Geschichten und Erzählungen folgen bestimmten vorhandenen und vielfach erprobten Mustern. Für diese Aussage ernte ich in meinen Seminaren und Workshops oftmals Widerspruch. Wo bleibt die Kreativität, wenn man einem bereits vorhandenen Erzählmuster folgt? Wo bleibt gar die Kunst? Meine Antwort darauf lautet dann: im Ausfüllen dieser Muster.

Dieser Artikel erschien in veränderter Form ursprünglich auf ronkellermann.de, in Begleitung zu meinem Storytelling-Handbuch (Midas Verlag). Über Erzählmuster habe ich auf diesem Blog mit Blick auf Liebesgeschichten bereits geschrieben: über die »erste Liebe« und über die »geopferte Liebe«.

Entsprechend der Unterscheidung zwischen »Geschichte« und »Erzählung« lassen sich zwei Kategorien von Mustern unterscheiden. Zum eine Storymuster, als Entwicklungswerkzeuge: Welchen Mustern folgen Geschichten? Zum anderen Erzählmuster, als Erzählwerkzeuge: Welchen Mustern folgen die Erzählungen von Geschichten? In diesem Text geht es um Erzählmuster.
Etwas anders zu machen, nur um es anders zu machen, ist kein Erfolgsrezept.
Der Versuch, bewusst weder ein Story-Muster noch ein Erzähl-Muster zu bedienen oder sie zu durchbrechen, ohne sie zu beherrschen, wird nur selten mit einem guten Ergebnis belohnt. Das wäre so, als ob ein Musiker bewusst falsche Töne spielen würde, um die Musik neu zu erfinden. Etwas anders zu machen, nur um es anders zu machen, ist kein Erfolgsrezept. Und Kunst entsteht deshalb auch noch lange nicht, sondern eher Murks.

Kunst ist zwar die Beherrschung der Konvention plus Abweichung. Die Konvention ist jedoch so komplex, dass es sehr viel Erfahrung im Umgang mit ihr braucht, um berechnen zu können, welche Wirkung eine Abweichung von ihr erzielt. Zum Glück ist sie aber auch so flexibel, dass man sie gar nicht zu durchbrechen braucht, um kreativ sein zu können und gute Storys zu erzählen.

Die populärsten strukturellen Erzählmuster lassen sich in drei Basis-Muster unterteilen: das chronologische Erzählmuster, a-chronologische Erzählmuster, und multilineare Erzählmuster. Hier wird es um die ersten beiden Muster gehen, während ich mich mit multilinearen Erzählmustern im Folgeartikel befasse.

Das chronologische Erzählmuster

Das chronologische Erzählmuster ist das am häufigsten verwendete. Chronologisch zu erzählen bedeutet schlicht und einfach, dass die zeitliche Struktur der Erzählung der Chronologie der Geschichte folgt. Salopp formuliert also vorne anfängt und hinten aufhört und dazwischen die Ereignisse in ihrer kausalchronologischen Reihenfolge präsentiert.

Da wir alle erfahrene Rezipient*innen von Geschichten sind, wissen wir in den meisten Fällen, wie eine Geschichte enden und was in ihrem Verlauf passieren wird. Wir wissen nur noch nicht, wie es passieren wird. Chronologisch erzählte Geschichten können also an einer gewissen Vorhersehbarkeit leiden. Um daher den Rezipient*innen ein höheres Maß an kognitiver Beteiligung zu ermöglichen, ist es ratsam, mit bestimmten Erzähltechniken wie Suspense, Vorankündigung oder Ellipsen – also der Auslassung bestimmter Informationen – zu arbeiten.

A-chronologische Erzählmuster

A-chronologische Erzählmuster weichen von der kausalchronologischen Reihenfolge der Ereignisse und Handlungen einer Geschichte ab und springen mehr oder weniger oft in der Zeit hin und her.

Die folgenden a-chronologischen Erzählmuster sind populär: Rahmenerzählungen, Haken-Eröffnungen, illustrierende Flashbacks, »Single-Story«-Flashbacks.

Rahmenerzählungen und Haken-Eröffnungen

Die beiden einfachsten Formen sind die Rahmenerzählung und die Haken-Eröffnung. Die Rahmenerzählung beginnt mit der Gegenwart des Hauptprotagonisten, springt dann zurück an den zeitlichen Anfang seiner Geschichte, erzählt sie kausalchronologisch und endet wieder in der Gegenwart.

In einer Haken-Eröffnung beginnt die Erzählung mit einem Ereignis aus dem weiteren Verlauf der Geschichte, springt dann zurück an den Anfang, erzählt chronologisch weiter, wiederholt das Ereignis der Haken-Eröffnung, wodurch die Struktur kreisförmig wird, und erzählt chronologisch bis zum Ende der Geschichte. Entscheidend für das Funktionieren einer Haken-Eröffnung ist, dass das Ereignis die Hauptprotagonistin oder den Hauptprotagonisten in einer konfliktbeladenen Situation zeigt, die bei den Rezipientinnen und Rezipienten Fragen aufwirft: Wer ist diese Person? Wie ist sie in diese Situation gekommen? Und wie wird sie diese Situation lösen können?

Die beabsichtigte Wirkung einer solchen Eröffnung liegt also darin, dass die Rezipientinnen und Rezipienten sich mit der Eröffnung einer Erzählung bereits Fragen stellen und dadurch an den „Haken“ genommen werden. Deshalb wird sie so genannt. Besonders geeignete Ereignisse sind beispielsweise der symbolische Tod der Hauptprotagonistin oder des Hauptprotagonisten, der zweite Wendepunkt der Konfliktentwicklung oder die Krise der Hauptprotagonistin oder des Hauptprotagonisten.

Illustrierende Flashback und „Single-Story“-Flashbacks

Neben diesen einfachen a-chronologischen Mustern gibt es noch Flashback-Erzählmuster, die komplexer sind und die Chronologie der Geschichte noch weiter auflösen. Die einfachste Form ist der »illustrierende Flashback«. In ihm springt die Erzählung immer wieder von der Gegenwart in die Vergangenheit, um eine Erklärung zu liefern, ohne die die Rezipientinnen und Rezipienten ein Ereignis oder eine Handlung in der Gegenwart nicht verstehen würden, oder um zu illustrieren, was eine Protagonistin oder ein Protagonist in der Gegenwart sagt.

Krimis beispielsweise erzählen die Beschreibung der Tat durch den Mörder, nachdem er überführt wurde, oftmals als Flashback. Ein Grund dafür ist, dass sein Monolog zu langweilig oder dass das Geschehen zu komplex und nicht nachvollziehbar wäre, wenn der Mörder die Tat lediglich im Dialog beschreibt.

Beim Einsatz insbesondere von Flashbacks, die in der Gegenwart etwas verständlich machen sollen, ist jedoch Vorsicht geboten. Denn solche Flashbacks haben in der Regel erklärenden und keinen erzählenden Charakter. Das kann die Dynamik der Gegenwartserzählung ausbremsen, es kann Langeweile entstehen, wenn zu oft von ihnen Gebrauch gemacht wird.
Beim Einsatz von erklärenden Flashbacks ist Vorsicht geboten.
Das »illustrierende Flashback«-Muster kann zwar beliebig oft von der Gegenwart in die Vergangenheit wechseln, die Erzählung der Vergangenheit stellt jedoch keine eigenständige Erzählebene dar, die eine gesamte und abgeschlossene Geschichte erzählt.

Das Gleiche gilt für das »Single-Story«-Flashback-Erzählmuster. Erzählungen, die diesem Muster folgen, eröffnen mit einem Haken. Danach springen sie zurück an den Anfang der Geschichte, also von dem Zeitpunkt des Hakenereignisses aus gesehen in die Vergangenheit, wechseln im weiteren Verlauf immer wieder auf die Gegenwartsebene und erzählen die Geschichte dort in Form von Flash-Forwards weiter bis die Erzählung der Vergangenheitsebene zum Ereignis der Hakeneröffnung gelangt und die Gegenwartsebene einholt. Danach wird bis zum Ende der Geschichte ohne weitere Wechsel weitererzählt.

Notiz: Erzählzeit und erzählte Zeit

Der Hauptanteil der Erzählzeit dieses Musters liegt auf der Vergangenheitsebene. Die »Erzählzeit« meint die Zeit, die eine Geschichte braucht, um sich zu erzählen, in konventionellen Spielfilmen beispielsweise 90 Minuten. Hiervon unterscheiden muss man die »erzählte Zeit«. Also die Zeit, in der eine Geschichte sich ereignet: ein Tag, eine Woche, ein Sommer, ein ganzes Leben etc. In Spielfilmen wie Lola rennt, Nicht auflegen!, Cocktail für eine Leiche und Victoria sind die Erzählzeit und die erzählte Zeit identisch. Das heißt, die Erzählung dauert genau so lang, wie die Geschichte braucht, um sich zu ereignen. Man spricht hierbei auch von Echtzeit-Erzählung.

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