Gute Geschichten und Erzählungen folgen bestimmten vorhandenen und vielfach erprobten Mustern. Die populärsten strukturellen Erzählmuster lassen sich in drei Basis-Muster unterteilen: das chronologische Erzählmuster, a-chronologische Erzählmuster, um die es im letzten Artikel ging, und – darum soll es in diesem zweiten Teil gehen – multilineare Erzählmuster.
Dieser Artikel erschien in veränderter Form ursprünglich auf ronkellermann.de, in Begleitung zu meinem Storytelling-Handbuch (Midas Verlag). Über Erzählmuster habe ich auf diesem Blog mit Blick auf Liebesgeschichten bereits geschrieben: über die »erste Liebe« und über die »geopferte Liebe«.
Multilineare Erzählmuster
Das »Single-Story«-Flashback-Erzählmuster erzählt eine Geschichte mit einer Hauptfigur – die ein Single- oder Plural-Protagonist sein kann –, mit einem dramatischen Ziel und einem zentralen Konflikt in einem bestimmten Erzählmuster auf zwei oder mehreren Zeitebenen.
Im Unterschied dazu erzählt das »Multi-Story«-Flashback-Erzählmuster auf jeder Zeitebene eine eigene Geschichte mit jeweils eigenen Hauptprotagonist*innen die ihre eigenen dramatischen Ziele verfolgen, von unterschiedlichen Bedürfnissen motiviert werden und ihre je eigenen Konflikte lösen müssen. Es handelt sich hierbei also um Multiplot-Filme mit Multi-Protagonist*innen.
»Multi-Story«-Flashback
Die meisten Geschichten, die auf diesem Muster aufbauen, erzählen auf einer Gegenwartsebene und einer Vergangenheitsebene. Prinzipiell sind jedoch beliebig viele Vergangenheitsebenen denkbar, wobei ab drei Ebenen die Komplexität die Grenze der Nachvollziehbarkeit erreicht. Das Ende einer Affäre beispielsweise erzählt auf insgesamt drei Zeitebenen. Cloud Atlas und Inception erzählen auf noch mehr Ebenen. Beim ersten Schauen sind sie in ihrer Komplexität kaum ganz zu verstehen.
Klassiker dieses Erzählmusters sind die Spielfilme Citizen Kane und Die üblichen Verdächtigen. Kennzeichnend für beide ist, dass auf der strukturellen Ebene der Höhepunkt der Vergangenheitsgeschichte das auslösende Ereignis der Gegenwartsgeschichte ist und dass der Hauptprotagonist der Gegenwartsebene eine Ermittlerfigur ist. Also eine Figur, die etwas herausfinden will und deshalb Fragen stellt.
Der Höhepunkt der Vergangenheitsgeschichte ist das auslösende Ereignis der Gegenwartsgeschichte.
Der Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit wird durch die Antworten motiviert, die sie erhält. Sobald ein Befragter antwortet, wechselt die Erzählung von der Gegenwarts- auf die Vergangenheitsebene und erzählt dort die Antwort. Am Ende der Antwort wechselt sie wieder auf die Gegenwartsebene, die Ermittlerfigur stellt ihre nächste Frage. Und mit der Antwort darauf findet ein erneuter Wechsel von der Gegenwart in die Vergangenheit statt. Dadurch lässt sich dieses Muster wie eine Wäscheleine vorstellen, mit der Leine als Gegenwartsebene und den darauf aufgehängten Wäschetücken als Vergangenheitsebene. Der Schwerpunkt der Erzählzeit liegt in der Regel auf der Geschichte in der Vergangenheit.
Zwei weitere typische Kennzeichen dieses Musters sind, dass die Erzählung »in medias res« mit dem Höhepunkt der Geschichte auf der Vergangenheitsebene beginnt und mit einer ironischen Wendung auf der Gegenwartsebene abschließt. In Citizen Kane beispielsweise sehen wir in der Eröffnung wie der Hauptprotagonist der Vergangenheitsebene, der Zeitungsmogul Charles Forster Kane stirbt. Das ist das Ende der Vergangenheitsgeschichte, das also sogleich mit dem Beginn des Films vorweggenommen wird.
Wenn wir wissen, wie ein Film endet, geht die kognitive Beteiligung verloren.
Wenn wir wissen, wie ein Film endet, geht natürlich einiges an kognitiver Beteiligung verloren. Ohne ironische Wendung am Ende der Gegenwartsebene würde der Film daher unbefriedigend sein. Diese ironische Wendung beantwortet die dramatische Frage auf der Gegenwartsebene. Sie ergibt sich daraus, dass der Hauptprotagonist der Gegenwart, der Journalist Thompson, sein dramatisches Ziel – herauszufinden, was Kane mit seinem letzten Wort »Rosebud« gemeint hat – nicht erreicht. Statt seiner erfährt jedoch das Publikum die Auflösung. »Rosebud« ist die Marke eines Schlittens, den Kane als Junge hatte, und steht für die einzige wirklich glückliche Zeit in seinem Leben.
Die üblichen Verdächtigen ist einerseits ein ganz anderer Film, der in einer anderen Zeit mit anderen Protagonistentypen und in einem anderen Kontext spielt. Im Hinblick auf das Erzählmuster ist er jedoch eine 1:1-Kopie von Citizen Kane.
Sequentielle multilineare Erzählmuster
Nicht alle Geschichten, die auf mehreren Zeitebenen spielen, folgen automatisch einem Flashback-Muster. Der Spielfilm The Hours beispielsweise erzählt auf drei Zeitebenen jeweils eine Geschichte. Die funktionieren unabhängig voneinander, zwei von ihnen werden am Ende allerdings zusammengeführt. Das Erzählmuster, das diesem Film zugrunde liegt, wird als »sequentieller Multiplot« bezeichnet.
Kennzeichnend für dieses Muster ist, dass mehrere Geschichten erzählt werden und die Erzählung zwischen ihnen hin- und herspringt. Neben The Hours funktionieren beispielsweise die Spielfilme 21 Gramm und Traffic nach diesem Muster.
Dieses Muster bezeichnet man als Zopfdramaturgie, wobei der Zopf nicht gleichmäßig geflochten sein muss.
Dieses Muster bezeichnet man auch als Zopfdramaturgie, wobei der Zopf nicht gleichmäßig geflochten sein muss. Das heißt, die Wechsel zwischen den Geschichten können, müssen aber keinem bestimmten Muster folgen, also formal motiviert sein. Meistens sind sie inhaltlich motiviert und finden statt, sobald in einer Geschichte eine Sequenz beendet ist oder eine neue Frage aufgeworfen wird. Im letzten Fall spricht man von einem Cliffhanger, wie er aus dem Ende einer Daily Soap-Folge bekannt ist.
Ein Beispiel, in dem die Wechsel einem bestimmten Muster folgen, ist der Spielfilm Babel. Er erzählt vier Geschichten und die sequentiellen Wechsel folgen strikt dem Muster A – B – C – D – A – B – C – D – A – B – C – D usw. Erst am Ende wird dieses Muster aufgebrochen.
In einem sequentiell erzählten Multiplot stellt sich immer die Frage, in welcher Reihenfolge die Geschichten beendet werden, also die Auflösung ihrer Konflikte erzählt wird. Prinzipiell sollte der schwächste Konflikt zuerst, der stärkste zuletzt aufgelöst werden.
Episodische multilineare Erzählmuster
Von einem »episodischen Multiplot« spricht man, wenn die Erzählung die einzelnen Geschichten jeweils abgeschlossen und am Stück nacheinander erzählt. Wie beispielsweise die Spielfilme Amores Perros und Auf der anderen Seite.
In den meisten Fällen erzählen sequentielle und episodische Multiplots drei Geschichten, doch auch hier sind prinzipiell beliebig viele Geschichten denkbar. So erzählen die Spielfilme L.A. Crash, Cloud Atlas und Inception fünf bis acht Geschichten.
In den Folgeartikeln wird es zu verschiedenen Aspekten der multilinearen Erzählmuster Ergänzungen geben, sowie einen Ausblick auf Erzählmuster im nonfiktionalen Storytelling.
Hallo Herr Kellermann,
nennenswert finde ich dem Zusammenhang auch „Dunkirk“ von Christopher Nolan.
Besonders auch deshalb, weil die drei Episoden in unterschiedlichen Erzählzeiten ablaufen und sich Ereignisse aus einer Episode aus der Perspektive der handelnden Personen einer anderen Episode wiederfinden, bis alle drei Episoden in ihrer Erzählzeit einen gemeinsamen Zeitpunkt erreicht haben.
Nolans Filme wären auch gut, um sie zum Artikel Erzählmuster I anzuführen, weil sie nicht nur mit Erzählzeiten experimentieren, sondern auch Inhalt des Plots sind. Diese Experimente müssen nicht immer Murks sein, wie im jüngsten Nolan Film „Tenet“. „Interstellar“, trotz einiger physikalischer Absurditäten, merkt man den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn unserer Zeit im Science Fiction Film an. Darin unterscheidet er sich von Kubriks „2001 – Odysee im Weltraum“, der in der Schlusssequenz die für seine Zeit wissenschaftliche Erkenntnis einer Singularität in der Raumzeit künstlerisch auf der leinwand abbildete. Nolan ging mit „Interstellar“ noch einen Schritt weiter und deutete Stringtheorien und modernere Erkenntnisse in der künstlerischen visuellen Abstraktion an.
Das Faszinierende ist, dass bei „Memento“, „Inception“ und „Interstellar“ der Inhalt auch die Form und Erzählzeit verändert. Aber das, um es salopp zu sagen, ist auch einfach Nolans Ding.
Hervorragender Hinweis, danke Marc.
Hi Arno,
finde es echt klasse, dass endlich wieder etwas Leben auf filmschreiben.de stattfindet.
Wahrscheinlich hat Corona und die Verunsicherung, die es mit sich gebracht hat, auch hier einiges eine Zeit lang auf Eis gelegt.
Ich finde, filmschreiben.de und seine Autoren sind eine einzigartige Plattform im deutschsprachigen Netz – von (I)ihnen und (I)ihren Büchern konnte ich schon viel zum und über das Drehbuch lernen.
Außerdem ist die Kommentarfunktion ja auch nicht hier, um totgeschwiegen zu werden. :)
Viele liebe Grüße Dir
und den Autoren!
Marc
Vielen Dank! Freut mich sehr! Und du hast ja durchaus deinen Anteil daran. :)
… und auch ebenfalls viel Freude daran. ;)