Gute Geschichten und Erzählungen folgen bestimmten vorhandenen und vielfach erprobten Mustern. Auch im nonfiktionalen Erzählen, dem Storytelling, zum Beispiel in journalistischen oder dokumentarischen Storys. Die populärsten strukturellen Erzählmuster, das chronologische Muster sowie die a-chronologischen und multilinearen Muster, habe ich hier auf filmschreiben in den Artikeln Erzählmuster I, II und III besprochen. Hier wird es um die Anwendung dieser Erzählmuster im Storytelling gehen.
Dieser Artikel erschien in veränderter Form ursprünglich auf ronkellermann.de, in Begleitung zu meinem Storytelling-Handbuch (Midas Verlag). Über Erzählmuster habe ich auf diesem Blog mit Blick auf Liebesgeschichten bereits geschrieben: über die »erste Liebe« und über die »geopferte Liebe«.
Erzählmuster im Storytelling
Im journalistischen und dokumentarischen Storytelling muss man zwischen Storyebene und Kontextebene unterscheiden. Die Kontextebene ist die Ebene, die Hintergrundinformationen, Experten- und Erfahrungswissen über das kognitive Thema, den universellen Wert, den historischen Kontext etc. vermittelt. Die Funktion der Storyebene ist es, diese Informationen mittels einer oder mehrerer Storys zu konkretisieren, zu vereinfachen, zu veranschaulichen, lebendig und emotional und damit besser nachvollziehbar und erinnerbarer zu machen, sie also gewissermaßen zu »beweisen«.
Entsprechend dieser Ebenen lassen sich zwei Arten von Protagonist:innen unterscheiden. Protagonist:innen der Kontextebene, die der Vermittlung von Hintergrundinformationen oder Erfahrungswissen dienen. Also beispielsweise Fachexpert:innen oder Augenzeug:innen. Und Protagonist:innen der Storyebene: reale Personen, die an der Entstehung, Austragung und Auflösung des zentralen Konflikts der Story mitwirken. Protagonist:innen der Kontextebene können auch Protagonist:innen der Storyebene sein. So ist beispielsweise in der Reportage Herr Eke möchte bleiben der ZDF-Reihe »37°« der Anwalt des Hauptprotagonisten Protagonist der Storyebene. Zugleich liefert er als Protagonist der Kontextebene Hintergrundwissen über die deutsche Ausländer- und Asylgesetzgebung.
Auch das Verhältnis zwischen Story- und Kontextebene lässt sich wie eine Wäscheleine mit daran aufgehängter Wäsche vorstellen. Die Leine ist die Ebene, mit der die Darstellung der Inhalte eröffnet wird, die Wäsche ist entsprechend die andere Ebene. Findet der Einstieg über die Story statt, dann ist die Storyebene die Leine und die Informationseinheiten der Kontextebene die aufgehängte Wäsche. Wird mit der Kontextebene eröffnet, dann entspricht sie der Wäscheleine, an der die einzelnen Elemente der Story / an der die Storys befestigt sind.
Induktive und deduktive Wechsel
Die entscheidende Frage ist auch hier die nach dem Wechsel zwischen den Ebenen. Wodurch ist der Wechsel von einer Ebene zur anderen motiviert? Ist die Story die Wäscheleine, dann handelt es sich um »induktive Wechsel«, also um Wechsel vom Konkreten ins Abstrakte. Die Story erzählt etwas bestimmtes, die Kontextebene liefert Hintergründe und Erklärungen. Wichtig auf der Storyebene ist, dass der Wechsel zu einem Zeitpunkt stattfindet, in dem die Rezipient:innen wissen wollen, wie die Story weitergeht. Stichwort »Cliffhanger«. Das heißt, es muss mindestens noch eine Frage offen sein. Dadurch wird ihr Interesse aufrechterhalten.
Ist die Kontextebene die Wäscheleine, dann ist der Wechsel »deduktiv« motiviert, die Darstellung der Inhalte geht also vom Allgemeinen zum Besonderen. Ein:e Expert:in liefert abstrakte Informationen, die Story veranschaulicht sie anhand eines konkreten Falls.
Dieses Vorgehen birgt eine Gefahr: Die Story konkretisiert zwar die Informationen, liefert aber nicht unbedingt etwas Neues. Dadurch kann die Storyebene die Dynamik eines Inhalts bremsen und im schlimmsten Fall sogar Langeweile verursachen. Die Frage »Warum ist das so?«, die der:die Expert:in in der ersten Variante beantwortet, stellt sich nicht mehr. Deshalb ist es ratsam, mit der Storyebene die Darstellung eines Inhalts zu eröffnen. Denn die Hintergründe, die ein:e Expert:in erläutert, liefern einen Wissensmehrwert. Der Wechsel zwischen Story- und Kontextebene sollte genau dann stattfinden, wenn die Kontextebene einen Wissensmehrwert zur Story liefern kann.
Die Storyebene kann mit einem der in den vorhergehenden Artikeln beschriebenen Erzählmuster dargestellt werden. Besteht sie aus einer einzigen Story mit einem:einer Hauptprotagonist:in, kann sich diese chronologisch, als Rahmenerzählung, »in medias res« oder mittels »Single-Story«-Flashback erzählen. Handelt es sich um mehrere Storys mit mehreren Hauptprotagonist:innen – also um einen Multiplot – können sie sich sequentiell oder episodisch erzählen.
Erzählmuster im Storytelling: Sequentieller Multiplot
In einem sequentiellen Multiplot ist es sinnvoll, in der Eröffnung zunächst die Hauptprotagonist:innen der einzelnen Storys vorzustellen. Das etabliert das kognitive Thema und die jeweiligen universellen Werte. Danach wechselt der Beitrag wieder zu Protagonist:in 1 plus Kontextebene, zu Protagonist:in 2 plus Kontextebene, zu Protagonist:in 3 plus Kontextebene usw.
Das ist ein allgemeines Grundmuster des sequentiellen Erzählens auf der Story-Ebene, das viele Variationsmöglichkeiten zulässt. So muss beispielsweise nicht immer der Wechsel zwischen den Storys in der strikt gleichen Reihenfolge stattfinden und nicht jede Sequenz einer Story muss von einer Informationseinheit auf der Kontextebene ergänzt werden (was aber im Hinblick auf den Rhythmus der Darstellung eines Inhalts sinnvoll ist).
Der optimale strukturelle Aufbau hängt von vielen Faktoren ab, vom Thema, den Protagonist:innen, den Konfliktverläufen, den zu vermittelnden Informationen der Kontextebene etc. In der Arbeit mit Bewegtbildern wird die Erzählstruktur ohnehin erst im Schnitt endgültig festgelegt. Eine allzu detaillierte Planung in der Konzeption der Inhalte ist hier eher nachteilig, weil sie die Flexibilität einschränkt.
Erzählmuster im Storytelling: Episodischer Multiplot
Wird auf der Storyebene ein episodischer Multiplot erzählt, ist es auch hier sinnvoll, in der Eröffnung zunächst alle Storys und Hauptprotagonist:innen kurz einzuführen und danach erst mit dem episodischen Erzählen zu beginnen. Dadurch wissen die Rezipient*innen, wie viele Storys es gibt und können sich im weiteren Verlauf besser orientieren. In den Einzelepisoden kann, wie oben beschrieben, sequentiell zwischen Storyebene und Kontextebene hin- und hergewechselt werden.
Auch hier stellt sich die Frage, in welcher Reihenfolge die Storys sich erzählen sollen. Die Antwort ist die gleiche wie im sequentiellen Muster. Der schwächste Konflikt bzw. die geringste Fallhöhe zuerst, der stärkste bzw. die größte zuletzt. Dadurch wird eine Steigerung erzielt, die das Interesse der Rezipient:innen besser aufrechterhalten kann, als wenn der stärkste Konflikt gleich am Anfang verschossen wird.
Ob das sequentielle oder das episodische Erzählmuster auf der Storyebene das bessere ist, lässt sich pauschal nicht sagen. Beide haben ihren Reiz. Das episodische ist im non-fiktionalen Arbeiten das seltenere, weshalb es den Rezeptionsgewohnheiten der Rezipient:innen zuwiderlaufen und für Irritation sorgen könnte.