Erzählmuster III: Geschlossenheit und Bedeutung

Gute Geschichten und Erzählungen folgen bestimmten vorhandenen und vielfach erprobten Mustern. Die populärsten strukturellen Erzählmuster habe ich in diesen beiden Artikeln besprochen: Chronologische und a-chronologische Erzählmuster, sowie multilineare Erzählmuster. Ähnlich wie in den Notizen zu Erzählzeit und erzählter Zeit im ersten Artikel, möchte ich hier auf einen Aspekt der multilinearen Erzählmuster genauer eingehen: wie die multiplen Storys miteinander verbunden werden. Es geht um Geschlossenheit und Bedeutung dieser Geschichten.

Dieser Artikel erschien in veränderter Form ursprünglich auf ronkellermann.de, in Begleitung zu meinem Storytelling-Handbuch (Midas Verlag). Über Erzählmuster habe ich auf diesem Blog mit Blick auf Liebesgeschichten bereits geschrieben: über die »erste Liebe« und über die »geopferte Liebe«.

Geschlossenheit und Bedeutung

Je weniger Verknüpfungen es zwischen den einzelnen Geschichten einer multilinearen Erzählung gibt, desto größer ist die Gefahr, dass die Gesamterzählung keine Geschlossenheit aufweist – kein „Ganzes“ darstellt. Und umso schwieriger ist es, ihr über eine Aussage Bedeutung zu verleihen. Deshalb sind folgende Fragen wichtig:

Was haben die Geschichten miteinander zu tun? Warum werden ausgerechnet sie in einem Film (oder Roman etc.) gemeinsam – sequentiell oder episodisch – erzählt und keine anderen? Wie lassen sie sich miteinander verbinden, damit sie wie ein Ganzes wirken?

Folgende Möglichkeiten gibt es, die Einzelgeschichten miteinander zu verbinden und Geschlossenheit und Bedeutung herzustellen:

Gegenseitige Beeinflussung

Die offensichtlichste Verknüpfung ergibt sich aus einer gegenseitigen Beeinflussung. Wenn sich ein Ereignis der einen Geschichte auf eine andere auswirkt, können die Geschichten ohne einander nicht funktionieren und müssen deshalb erzählt werden.

21 Gramm ist ein Beispiel hierfür. Der Film erzählt die Geschichten von drei Hauptprotagonist*innen, die sich wechselseitig bedingen und nur gemeinsam Geschlossenheit und Bedeutung erzielen. Der Hauptprotagonist der einen Geschichte – Jack – überfährt den Ehemann und die beiden Töchter von Cristina – der Hauptprotagonistin der zweiten Geschichte -, die einer Organspende zustimmt. Das Herz ihres verstorbenen Mannes bekommt der schwerkranke Hauptprotagonist der dritten Geschichte – Paul -, der daraufhin wissen will, wem er sein Leben zu verdanken hat. Er findet es heraus, nimmt Kontakt zu Cristina auf und verliebt sich in sie. Cristina, die unter dem Verlust ihres Ehemanns und ihrer beiden Töchter leidet, will sich an Jack rächen und fordert Paul auf, ihn mit ihr gemeinsam zu ermorden.

Gemeinsames kognitives Thema

Darüber hinaus lässt sich eine Verbindung über ein gemeinsames kognitives Thema herstellen: Traffic erzählt von dem Thema Drogen. In einer Geschichte will ein Hauptprotagonist auf politischer Ebene den Drogenhandel bekämpfen und zugleich seine Tochter aus der Drogensucht retten; die zweite erzählt eine Frau, die ihren Mann – einen Großdealer – aus dem Gefängnis befreien will; in der dritten will ein Polizist ein Drogenkartell zerstören.

Die drei Geschichten laufen weitestgehend parallel, ohne dass sie sich beeinflussen. Lediglich ein Ereignis in einer Geschichte wirkt sich auf eine andere aus. Außerdem taucht zweimal eine Figur der einen Geschichte in einer anderen auf, allerdings nur am Rande und ohne Einfluss auf diese andere zu haben. Alle drei Geschichten erzählen jeweils chronologisch von jeweils einem Hauptprotagonisten. Mit je eigenem dramatischen Ziel und eigener Motivation und einem eigenen Konflikt, der nach dem Drei-Akt-Muster abläuft.

In L.A. Crash erzählen die einzelnen Geschichten von verschiedenen Formen des Rassismus. In The Hours wird die Hauptverknüpfung der drei Geschichten durch Virginia Woolfs Roman „Mrs. Dalloway“ hergestellt.

Ein gemeinsames kognitives Thema ist einer der Hauptgründe für ein Multiplot-Erzählmuster. Es gibt einem die Möglichkeit, dieses Thema aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Die dramatischen Ziele der Hauptprotagonisten beziehen sich dabei alle auf dieses Thema. Ihre Motivationen und damit also die universellen Werte, die sie realisieren wollen, sind in der Regel unterschiedlich.

Gemeinsamer Höhepunkt

Eine weitere Möglichkeit, die Geschichten miteinander zu verbinden, ist, sie in einen gemeinsamen Höhepunkt zusammen zu führen und dort die Einzelkonflikte auf einmal aufzulösen, wie beispielsweise in 21 Gramm. Auf dem Weg dahin können die einzelnen Geschichten sich gegenseitig beeinflussen, müssen aber nicht.

Gemeinsames zentrales Ereignis

Auch ein gemeinsames zentrales Ereignis kann die Verbindung zwischen den Einzelgeschichten herstellen. Wie beispielsweise ein Verkehrsunfall in Amores Perros, der in einer Geschichte den Höhepunkt darstellt und in den beiden anderen das auslösende Ereignis bzw. den ersten Wendepunkt.

Daneben können die einzelnen Geschichten auch in einem gemeinsamen Ereignis enden. Beispielsweise eine Hochzeit in Verbrechen und andere Kleinigkeiten, ein Frosch-Regen in Magnolia, ein Erdbeben in Short Cuts. Als einzige Verknüpfung der Geschichten innerhalb der Erzählung ist das jedoch eine eher schwache und möglicherweise konstruiert wirkende Möglichkeit, um eine Geschlossenheit und Bedeutung der Gesamterzählung zu erzeugen. So wird beispielsweise an Magnolia oftmals die vermeintlich unbefriedigende Auflösung kritisiert. Am Ende gibt es zwar ein gemeinsames Ereignis, von dem alle Figuren betroffen sind, aber es reicht nicht aus, um die Geschichten befriedigend miteinander zu verknüpfen und dem Film als Ganzem eine Bedeutung zu verleihen. Dadurch drängt sich die Frage auf: Warum werden diese Geschichten gemeinsam in einem Film erzählt? Was will der Film?

Verknüpfung über die Figuren

Die Einzelgeschichten können sich auch über die Figuren miteinander verbinden, indem eine Figur einer Geschichte in einer anderen Geschichte auftaucht und dort etwas bewirkt. In L.A. Crash beispielsweise demütigt ein rassistischer Polizist einen schwarzen Regisseur und dessen Frau und löst damit eine Ehekrise aus. Im weiteren Verlauf der Geschichte kommt er zu einem schweren Verkehrsunfall. Die Ehefrau des Regisseurs ist in ihrem Auto eingeklemmt, das zu explodieren droht. Der rassistische Polizist begibt sich in Lebensgefahr, rettet die Frau im letzten Moment und verändert sich dadurch.

Der Regisseur wird parallel dazu von zwei Jugendlichen überfallen, die sein Auto klauen wollen. Als die Polizei kommt, flieht er mit einem der Jugendlichen, der sich weigert, auszusteigen. Die Polizei stoppt ihn. Er wird jedoch von dem Kollegen des rassistischen Polizisten laufen gelassen, der sich nach dessen demütigender Aktion gegen den Regisseur einem anderen Partner zuteilen ließ, und den Regisseur erkennt. Auf dem Nachhauseweg nimmt dieser Polizist den zweiten Jugendlichen, der beim Eintreffen der Polizei zu Fuß geflüchtet ist, in seinem Auto mit. Er erschießt ihn, als er befürchtet, dass er ihn überfallen will.

Dieser Jugendliche ist der kleine Bruder eines weiteren Polizisten, der in der Eröffnung des Films zum Fundort einer Leiche gerufen wird. Die sich am Ende des Films als eben jener kleine Bruder erweist. Alle Figuren – der Regisseur und seine Frau, der rassistische Polizist und sein Kollege, die beiden autoklauenden Jugendlichen und der Polizistenbruder eines der Jugendlichen – haben ihre jeweils eigene Geschichte, die über die eben skizzierten Ereignisse miteinander verknüpft sind.

Geschlossenheit und Bedeutung durch Ort und soziale Schicht

Die Geschichten können außerdem miteinander verbunden werden. Etwa indem die Figuren im selben Stadtteil oder derselben Straße arbeiten und leben,  einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppierung angehören,  weil sie Familienmitglieder sind und dadurch oftmals auch zufällig in den anderen Geschichten auftauchen können, wie beispielsweise in dem Spielfilm Stadt der Hoffnung.

Geschlossenheit und Bedeutung durch Zeit

Auch die Zeit kann ein verbindendes Element darstellen: Die Geschichten finden in einem sehr engen Zeitrahmen statt. Beispielsweise an einem Tag oder einer Nacht oder in direkter räumlicher Nähe wie in 11:14, L.A. Crash und Go.

Wer sich intensiver mit den hier beschriebenen Erzählmustern beschäftigen will, dem sei das Buch Screenwriting Updated (2001) von Linda Aronson empfohlen.

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