Radikal erzählen. Radikale erzählen

Ein Mädchen folgt dem Ruf eines Fabelwesens. Ein Lehrer ermutigt seine Schüler zu eigener Kreativität. Eine Deutschtürkin führt eine Scheinehe. Ein Anwalt verrät seinen Bruder an die Justiz. Eine junge Frau versteckt in ihrer Wohnung einen Wolf. Ein Chemielehrer kocht Crystal Meth. Ein Sheriff tritt ganz allein gegen vier Verbrecher an. Ein Bruder will seine Schwester verführen, um nicht morden zu müssen. Ein Pfarrer zieht sich eine Sprengstoffweste über. Eine Witwe sprengt sich und die Mörder ihrer Familie mit einer Nagelbombe in die Luft. Ein Taxifahrer ballert ein Bordell zusammen. Ein hässlicher Verlierer zerhackt Frauen.

Dieser Artikel erschien ursprünglich im Herbst 2020 in der 48. Ausgabe des Wendepunkt (PDF), dem Fachmagazin des Verbands für Film und Fernsehdramaturgie. Nach und nach werde ich alle der bisher nur im Wendepunkt erschienenen Artikel von mir hier im Blog zur Verfügung stellen.

Die Entscheidungen, die die Protagonistinnen und Protagonisten unserer Erzählungen treffen, sind oft radikal. Ihr Weg, der bei diesen Entscheidungen beginnt (im ersten Wendepunkt) oder sie zu ihnen führt (im zweiten Wendepunkt der Dreiaktstruktur), ist ein Prozess der Radikalisierung. Ist ein Prozess, in dem ein Zweck immer drastischere Mittel heiligt, in dem die persönlichen Opfer, aber auch die gesellschaftlichen, die die Handelnden bereit sind zu bringen, immer größer werden. Ist ein Prozess, in dem sie ihr Fühlen, Denken und Handeln immer ängstlicher und wütender vor ihrem emotionalen Netzwerk verbergen, und in dem oft das ursprüngliche Ziel der Handlung in seiner Bedeutung hinter die Handlung selbst zurücktritt.

Eine Radikalisierung ist, so begann ich 2016 meine Mitarbeit im Wendepunkt (s. »Radikalisierung und Integration«, Wendepunkt N° 34, Februar 2016), in unserem dramatischen Erzählen schon angelegt. Das dramatische Ziel muss beinahe unerreichbar sein, das gegebene Problem fast unüberwindbar, der erregte Konflikt nahezu unlösbar. Die Handlung der Erzählung, die Handlungen der Figuren zum Erreichen des Ziels, zum Überwinden des Problems, zum Lösen des Konflikts, sollen abgelehnte Vorschläge sein im ersten Akt, größte Anstrengungen im zweiten, und zuvor völlig Undenkbares im dritten. Protagonistinnen werden zu Heldinnen, Protagonisten werden zu Helden durch das persönliche Opfer, das sie bringen. Doch die Grenzen, an der das persönliche Opfer endet und eine Nötigung der eigenen Gemeinschaft und Gesellschaft beginnt, sind schwammig. Entsprechend argumentieren etwa die Dorfbewohner in Zwölf Uhr Mittags. Sheriff Kane möge das Dorf doch bitte einfach verlassen, statt die Auseinandersetzung mit den Verbrechern zu suchen.

Die Auseinandersetzung über den Zweck, viel öfter aber über die Mittel, die er heiligt, bestimmt den emotionalen Konflikt zwischen den Hauptfiguren und ihren Bezugspersonen (»Ich erkenne dich nicht wieder!«), beeinflusst allerdings von dort aus den inneren Konflikt durch Scham- und Schuldgefühle (»Gehe ich zu weit?«) und den äußeren Konflikt mit den (ebenfalls und oft abschließend radikalisierten) Antagonistinnen und Antagonisten (»Wir sind gar nicht so verschieden, wie du denkst.«). Die Radikalisierung, die nötig ist oder nötig scheint, um das dramatische Ziel zu erreichen, belastet das Verhältnis zu den tatsächlichen oder metaphorischen Familien, der emotionalen und sozialen Heimat der Protagonistinnen oder Protagonisten, dem was beispielsweise Roland Zag die Zugehörigkeiten der Figuren nennt.
Wie plausibel die Machtlosigkeit ist, kann eine Frage der Erzählung sein.
Was von ihnen und ihrem emotionalen Netzwerk als Radikalisierung verstanden wird und was nicht, entscheiden erst diese Zugehörigkeiten. Für die eine Gemeinschaft mag eine Drohung eine Grenzüberschreitung sein, für die andere ist Mord alltäglich. Gleich welche ausgesprochenen oder unausgesprochenen Regeln gelten, sie sind den Protagonistinnen und Protagonisten bewusst, und sie tun es bewusst, wenn sie diese Regeln dehnen oder brechen. Das muss nicht falsch sein: Regeln, ob gerechtfertigt oder nicht, sind immer repressiv. In der Heldenreise werden Personen, die Regeln durchsetzen, als Schwellenhüter verstanden. Dass Sibels Familie in Gegen Die Wand ihr ihr Bedürfnis nach Promiskuität verbietet, verstehen wir als Unterdrückung ihrer freien Entfaltung. Dass in Der Goldene Handschuh die Polizei Fritz Honka wegen Mordverdachts verhaftet, als notwendigen Schutz der Gemeinschaft.

Die Hauptfiguren reagieren, indem sie ihre Regelverletzungen vor ihrem emotionalen Netzwerk ängstlich verbergen. Sie sind schuldig, vielleicht fühlen sie sich schuldig, und vielleicht fühlen sie Scham dafür, nicht den an sie gestellten Erwartungen zu entsprechen. Statt den Konflikt zwischen ihren Absichten und den geltenden Regeln in die Öffentlichkeit der Gemeinschaft zu tragen, um ihn dort zu verhandeln, scheuen die Figuren diese Anstrengung und entscheiden sich stattdessen für Verrat.

Das muss nicht falsch sein. Das Mädchen Ofelia in Pans Labyrinth kann nicht auf Augenhöhe mit Hauptmann Vidal verhandeln, ihr bleibt nur die Heimlichtuerei. Reverend Toller in First Reformed hingegen fühlt sich vermutlich machtloser gegen Unternehmer Balq als er tatsächlich ist, wenn er zum Sprengstoffgürtel greift. Machtlosigkeit ist in beiden Fällen die Rechtfertigung für den Regelbruch. Wie plausibel diese Machtlosigkeit tatsächlich ist, kann eine Frage der Erzählung sein, wie in Breaking Bad. Dem Verrat an den Regeln der Gemeinschaft wohnt großes dramatisches Potenzial inne – und komisches.
Geht es den Figuren um das Erreichen ihres Zieles? Oder um die radikale Handlung selbst?
Das Verbergen der Regelverletzungen, der eigenen Radikalität und damit der eigenen Identität, kann weiter radikalisieren. Die tatsächliche, empfundene oder vorgeschützte Not zur Heimlichtuerei macht Protagonistinnen oder Protagonisten wütend. Vielleicht erst auf sich selbst, dann aber auf die Gemeinschaft, die Regeln macht, die Zwang erzeugt. Richteten sie ihre Vorwürfe erst gegen sich selbst, richten sie sie nun an die Gesellschaft. An Stelle von Schuld oder Scham tritt Hass. Ania in Wild zieht sich vor ihrer Schwester und den Kollegen zurück in ihre Perversion. Und geht dann zum Angriff über gegen ihren tyrannischen Chef. Niemand wähnt sich gerne radikal; wir fürchten »kaum etwas mehr als soziale Isolation«, schreibt Zag über Zugehörigkeiten (Dimensionen filmischen Erzählens). Radikale Hauptfiguren fühlen sich nicht radikal geworden, sondern radikal gemacht. In Paul Schraders Katzenmenschen fühlt sich Irenas Bruder seinem mordenden Schicksal hilflos ausgeliefert.

Im Tiefpunkt dann, wenn der radikale Weg nicht zum Ziel geführt hat, öffnet sich ein Fenster zur Integration zurück in die Gemeinschaft. Noch kurz vor Chucks Selbstmord in Better Call Saul versucht Jimmy trotz aller Zurückweisungen mit ihm zu einer brüderlichen Beziehung zu finden. Katjas Anwalt verspricht ihr eine Revision des Verfahrens, das die Terroristen, die ihre Familie ermordet haben, freigesprochen hatte, bevor sie sich in Aus dem Nichts in die Luft sprengt. Hier kann sich entscheiden, ob es den radikalisierten Figuren überhaupt noch um das Erreichen ihres Zieles geht. Oder um die radikale Handlung selbst. In Taxi Driver will Travis vorgeblich die minderjährige Prostituierte Iris retten. Doch ihren Vorschlag, gemeinsam in eine Kommune zu ziehen, lehnt er ab; besser gefallen ihm Mord und versuchte Selbsttötung.

Radikal sein heißt, das Übel an der Wurzel zu packen. Diese Vorstellung ist reizvoll und verführt Figuren. Radikal sein heißt aber auch, sich über das eigene emotionale Netzwerk zu erheben, das dieses Übel anders versteht oder billigt oder die Belastungen scheut, die die Beseitigung des Übels für es bedeuten. Radikal zu sein, macht unsere Protagonistinnen oder Protagonisten schuldig und lässt sie sich schämen, es macht sie wütend und hasserfüllt, manchmal so sehr, dass sie nicht mehr in ihr emotionales Netzwerk zurückfinden. Für das emotionale Netzwerk sind die Radikalisierten eine Gefahr, aber auch die Chance, sich als Netzwerk zu öffnen. Das heißt, inklusiver, pluraler und dadurch widerstandsfähiger gegen innere Spannungen zu werden. Man hätte das der High Society in Der Club der toten Dichter gewünscht.

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