Es gibt nur einen Gott – und sein Name ist Tod: Zum Arbeiten mit populären Narrativen in der Psychotherapie

In der Psychotherapie gibt es eine lange Tradition des Rückgriffs auf Mythen und andere klassische Narrative, um dem Patienten Einsicht in unbewusste, möglicherweise krankmachende, Prozesse zu ermöglichen.

Das Erzählen von Geschichten ist eine anthropologische Konstante, die das Funktionieren und die Weiterentwicklung von Gemeinschaften sowie des Individuums im sozialen Kontext der Gemeinschaft sichert.

Es ist keine menschliche Kultur – keine Nation, Religionsgemeinschaft, Partei, Firma, Clique oder Familie – bekannt (noch nicht einmal vorstellbar), in der keine Mythen über den Ursprung und die Entwicklung der Gruppe erzählt werden.

Es liegt also nahe, auch und vor allem die Psychotherapie als eine Form des Geschichtenerzählens zu verstehen. Menschen erzählen in der Psychotherapie nicht nur ihre Krankheits-, sondern auch ihre Lebens-, Liebes-, Beziehungs-, (Miss-) Erfolgs- und Persönlichkeitsentwicklungsgeschichten.
„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“
Literaturwissenschaftler*innen haben auf Basis der Analyse von 1.327 englischsprachigen fiktionalen Texten in der Datenbank des project gutenberg postuliert, dass es nur sechs grundlegende Verlaufsformen emotionaler Narrative gibt, an deren Grundstruktur (z.B. „vom Tellerwäscher zum Millionär“, „Cinderella“ oder „Ödipus“) sich alle Erzählungen orientieren.

In ähnlicher Weise gehen tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapeut*innen davon aus, dass sich die psychische Entwicklung des Menschen an sieben zentralen Grundkonflikten entlang vollzieht. Die Bewusstmachung und Analyse der pathogenen Hauptkonfliktthemen ermöglicht der/m Patient*in Einsicht in die eigenen dysfunktionalen Erlebens- und Verhaltensmuster und macht diese somit dem Durcharbeiten uns letztlich der Veränderung zugängig.

Einsicht – im psychotherapeutischen Sinne – ist nicht nur an den kognitiven, sondern auch und vor allem an den emotionalen Gehalt des zu analysierenden Inhalts, der zu verstehenden Geschichte, geknüpft. Psychotherapeut*innen und Patient*innen entwerfen hierfür im Laufe der Psychotherapie Bilder, Metaphern, Analogien und Symbole, die dem emotionalen Erleben des Patienten eine beschreibbare Form verleihen: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ (Ludwig Wittgenstein). Diese Grenzen werden durch das gemeinsame Erzählen, Rezipieren und Interpretieren von Geschichten, als Form der psychotherapeutischen Mäeutik, erweitert und es entsteht gemeinsames Verstehen und Einsicht, wo zuvor oft Sprachlosigkeit und Unverständnis herrschten.
Narrative stellen Sublimierungen der Konflikte ihrer Autor*innen dar.
Von der Deutung von Traumsymbolen seit Freud, der Symbolik archetypischer Bilder bei C. G. Jung, der Beschreibung charakteristischer Konfliktthemen anhand biblischer und griechischer Mythen sowie klassischer Volksmärchen, bis hin zum therapeutischen Schreiben, dessen Wirksamkeit für eine Vielzahl psychischer und somatischer Outcomes belegt werden konnte, hat sich Psychotherapie immer auch vertrauter, gleichsam populärer, Narrative bedient und sich selbst als das Erzählen von Geschichte(n) verstanden.

Träume, Mythen und jede andere Art von Narrativ stellen Sublimierungen der Konflikte ihrer Autor*innen und Erzähler*innen dar, beschreiben somit immer auch universelle Entwicklungsthemen und zwischenmenschliche Problemstellungen und liefern dadurch konkrete Beispiele für deren Vermittlung und Reflexion. Der Ödipus-Mythos als Analogie für den nach ihm benannten Grundkonflikt, ist hierfür das wahrscheinlich populärste Beispiel.

Wer heutzutage psychotherapeutisch mit Patient*innen aller Altersgruppen und sozialen Milieus arbeitet, der weiß, dass vielen Kindern Grimms Märchen allenfalls noch in der Disney-Version vertraut sind und viele Erwachsene weder aus dem Alten Testament noch aus der Illias zitieren können, sehr wohl aber aus Dirty Dancing und Game of Thrones. Sie kennen den Archetypus des Schattens nicht von C. G. Jung, wohl aber als Darth Vader aus Star Wars. Die Individuation des Odysseus ist ihnen allenfalls dem Namen nach vertraut, sie können aber detail- und kenntnisreich über die Heldenreise des Zauberlehrlings Harry Potter berichten und die große Tragödie des Chemielehrers und Drogenbarons Walter White aus der Serie Breaking Bad gehört genauso selbstverständlich zu ihrem Kanon, wie es die des Prinzen Hamlet nicht tut.
Die Geschichten ändern sich, die zugrundeliegenden Erzählungen jedoch sind weiter gültig.
Wer dem mit Offenheit und Interesse begegnet, wird feststellen, dass sich, wie schon immer, die Geschichten ändern, die zugrundeliegenden Erzählungen jedoch weiterhin universell gültig sind. Folglich ermöglichen zeitgenössische Narrative, gerade weil sie unseren Patient*innen (und uns) vertraut sind, dieselben Möglichkeiten der einsichtsfördernden Bildung von Analogien, Metaphern und Symbolen, wie es die klassischen Stoffe seit jeher getan haben und Psychotherapeut*innen sind gut beraten, die großen und kleinen Erzählungen der Popkultur zu kennen, oder sich Ihnen mindestens mit Interesse zuzuwenden, um alles in ihrer Macht stehende zu tun, um sich und Ihren Patient*innen einen Zugang zu deren Geschichte zu ermöglichen.

Den Ansatz der Einbindung von popkulturellen Narrativen in die Psychotherapie, inklusive zweier ausführlicher Fallbeispiele, habe ich in einem Artikel für das Psychotherapeutenjournal beschrieben, der hier frei verfügbar ist.

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