LEBEN ÜBER KREUZ: Wie aus einem Melodram ein Drama wird

In den 90er-Jahren haben die Spielfilm-Redaktionen der Privatsender die Produzenten jährlich mit neuen Genre-Wünschen aufgescheucht. Ich erinnere mich, dass der Produzent einer der Firmen, für die ich als Dramaturg arbeitete, fragte: „Was ist eigentlich ein Melo? Sat1 will das jetzt!“ Ich sagte spontan „Melo ist ein Melodram, also ein etwas minderwertiges Drama, primär auf Gefühle gesetzt. Da geht es nicht um Versagen & Schuld, sondern die Praemisse ist z.B. unverschuldete Krankheit. So wie in den Opern La Traviata und La Boheme des 19. Jahrhunderts.

Am Abend schaute ich nochmal in meinen Dramaturgie-Klassiker Das Lebendige Drama von Eric Bentley. Der, theaterorientiert, kennt nur 5 Genres, nämlich: MELODRAMA, FARCE, TRAGÖDIE, KOMÖDIE, TRAGIKOMÖDIE. Es fehlt die moderne Form DRAMA. Zu Melodrama schreibt er:

Die melodramatische Konzeption ist nicht die schlechteste (…) aber gut nur bis zu einem gewissen Grade und dieser Grad ist Kindheit, Neurose, Primitivität. Das Melodram ist menschlich, aber nicht reif. Es ist phantasievoll, aber nicht intelligent. Das Prinzip der Realität ist verletzt. Der Unterschied von ,ich will‘ und ,ich kann‘ ist nicht klar gemacht…

Da der Produzent unbedingt ein Melo haben wollte, setzte ich mich hin und schrieb eine moderne Film-Version von Die Kameliendame / La Traviata. (Als Dramaturgen sollte man das können!) Meine Heldin war eine Medizinstudentin von Multiple Sklerose heimgesucht. Als sie am Abend des Tages der Diagnose ihr Unglück in die Bar eines Düsseldorfer Top-Hotels wegtrinken will, wird sie von einem sehr attraktiven Mann angeflirtet und geht mit ihm aufs Zimmer. Überraschenderweise gibt er, der sie liebevoll behandelt hat, am Morgen Geld, viel Geld. Nun hat sie eine Perspektive für die zwei Jahre maximal, die ihr die Ärzte vor dem Rollstuhl noch geben. Sie ist in der DDR aufgewachsen und will die Welt sehen. Sie kauft sich eine Perlenkette, um die verfügbaren Teile ihres Körpers abzugrenzen. Das Schicksal will, dass sich ein junger Adeliger in sie verliebt und sie in ihn. Liebe war nicht vorgesehen. Die Mutter des Mannes zerstört diese Liebe, nicht der Vater wie bei Dumas / Verdi.

Dieses Drehbuch wollte keiner haben. Die Änderungswünsche waren absurd: ob sie ein Callgirl sein und am Ende sterben müsse. Keiner der Redakteure erkannte übrigens die Vorlage. Außerdem waren die Privaten schon auf Romantic Comedy umgeschwenkt. Aber die Arbeit war nicht umsonst gewesen, ich bekam zwei Optionen von insgesamt 10.000 Mark und fühlte mich nun erst, nach diesem langen Schreibprozess in der Lage, Tutor in der Drehbuchwerkstatt der HFF München zu werden. (Tutoren sollten sich mal einem Schreibprozess unterzogen haben.)

Zu lange Vorrede, aber Dramaturgie hat ja immer mit Vorgeschichte zu tun. Zu dem Film, Leben über Kreuz, der am 12. März auf arte lief und als ZDF-Produktion demnächst dort im Hauptprogramm zu sehen sein wird. In den Bewertungen der TV-Zeitungen immer Anspruch-Punkte, obwohl wir da eine klassische melodramatische Grundsituation haben.

Zwei Ehepaare, je ein Partner muss in die Dialyse, die Nieren sind zerstört, die Lebenserwartung prekär. Partner & Kinder kommen für eine Spender-Niere nicht in Frage. Aber der Arzt entdeckt Verträglichkeit, wenn beide Paare über Kreuz spenden und empfangen. Dafür müssen die vier Menschen vor den Ethikrat. Denn in Deutschland ist das nur erlaubt, wenn die Familien eng vertraut und wirklich befreundet sind. Diese Vier haben aber nichts gemein und bei so einer Befragung kann man Freundschaft nicht überzeugend spielen. Sie fallen durch, entschließen sich für einen zweiten Versuch vorm Ethikrat. Wir sind schon über Minute 75 und man hat sich sogar noch weiter entfremdet. Da passiert was die vier, vor allem die Männer nahebringt. Ich will nicht spoilern. Es geht über die jeweiligen Kinder im Teenie-Alter.

Was nun ist das großartig Gelungene an Leben über Kreuz? – Die melodramatische Prämisse wird zum Drama: realistisch, unsentimental, reif, intelligent. Das geschieht zum Einen durch den inquisitorischen Ethikrat. Zum Anderen dadurch dass die Grenzsituation in beiden Familien aber auch alle dort verdrängten Spannungen aufreißt. Also Drama pur. Ein brillantes Drehbuch von der Autorin Annika Tepelmann und der Regisseurin Dagmar Seume. Eine ungewöhnlich stimmige Besetzung der vier Protagonisten. Und alle anderen Gewerke in Top-Form. Produziert von Zeitsprung-Film, bekannt für Qualität. Sehenswert!

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