MINDHUNTER: Die Figur des »Psychokillers« und wie man sie versteht

Als mir vor einigen Monaten ein Leser die Netflix-Serie Mindhunter empfahl, hatte ich nur den Trailer gesehen und erst einmal Desinteresse bekundet, da mir das Ganze schien, wie die typische »FBI jagt durchgeknallten Psychokiller«-Geschichte. Das Problem mit dieser Art von Geschichten ist die so oberflächliche wie unhinterfragte Gleichsetzung von »Psycho« (also dem Hinweis auf psychische Krankheit) und »Killer« (also Kriminalität).

Dahinter verbirgt sich ein gesellschaftlicher Abwehrmechanismus, der alles, was zu unangenehm ist, gerne in den Bereich des Pathologischen abschiebt, um den Gedanken, dass dieses Unangenehme etwas mit uns selbst zu tun haben könnte gar nicht erst aufkommen zu lassen. Wenn ein unvorstellbar brutales Verbrechen geschieht, ist die Vorstellung, dass so etwas jederzeit und überall durch einen nach Außen hin unauffälligen Mitmenschen geschehen könnte, schwer zu ertragen. Schwerer, als das Narrativ vom durch und durch gestörten »Psychopathen«. Denn letzterer ist wenigstens selten und verkehrt irgendwo, aber sicher nicht in unserem näheren Umfeld.

»… weil nicht sein kann, was nicht sein darf.«
Der »Psychopath« ist von Grund auf so gestört, dass ihn mit uns selbst scheinbar gar nichts mehr verbindet, so dass sich auch die Fragen nach gesellschaftlichen Ursachen für kriminelles oder sonst wie abweichendes Verhalten und nach Präventionsmöglichkeiten nicht stellen. Diese Fragen sind anstrengend. Erstens, weil sie komplex und schwierig zu beantworten sind und zweitens, weil die Antworten, die ggf. doch gefunden werden, mit gesellschaftlichen Veränderungen zu tun haben, die ihrerseits noch anstrengender sein könnten. Deshalb ist neben dem »Psychopathen« auch der »islamistische Terrorist« als Täter beliebt, weil er – völlig fanatisch und verwirrt – ebenso außerhalb unserer Alltagswelt zu stehen scheint.

Dieser Abwehrmechanismus nennt sich Projektion: Gefühle oder Fakten, die für uns unangenehm sind, weil sie mit unserem persönlichen oder gesellschaftlichen Selbstverständnis schwer vereinbar wären, werden auf andere projiziert, also diesen zugeschrieben. Diejenigen werden dann möglichst weit ausgegrenzt um mit der Distanz zu ihnen auch Distanz zu den unangenehmen Gefühlen und Gedanken herzustellen und um uns selbst wieder sicher sein zu können, dass mit uns selbst alles in bester Ordnung ist:

Gewalt und Sexismus sind das Problem junger Zuwanderer – deshalb gehören die ja auch nicht hierher. Frauen, die von treusorgenden Familienvätern vergewaltigt werden, waren früher Hexen und mussten verbrannt werden – heute sind sie zumindest ein bisschen selbst schuld, also Schlampen, und müssen mindestens solange geächtet werden, wie sie zu kurze Röcke tragen. Donald Trump ist halt ein Narzisst, wenn er abgewählt oder impeacht wird, ist alles wieder gut, usw., usf.

Verbrecher werden nicht geboren, sie werden gemacht.
Der junge Agent Holden Ford ist da schon weiter und stellt sich die Frage, was es über eine Gesellschaft aussagt, wenn sie immer mehr grausame Serienmörder hervorbringt. Er erkennt, wie sehr die eindimensionale, von Projektionen und Rationalisierungen (»… weil nicht sein kann, was nicht sein darf«) überlagerte Sichtweise auf bestimmte, von irrationalen Motiven getriebene Serienverbecher, der Aufklärung der Verbrechen im Wege steht. Indem er scheinbare Gewissheiten infrage stellt und sich für unkonventionelle Ideen und andere Disziplinen jenseits der zeitgenössischen Kriminologie öffnet, gelangt er zu Erkenntnissen, die uns heute selbstverständlich scheinen, aber in Wahrheit noch nicht einmal das sind (s.o.).

In seinem spezifischen Forschungsgebiet lautet diese Erkenntnis: Verbrecher werden nicht geboren, sie werden gemacht! Allgemeiner formuliert: Jede individuelle Variante menschlichen Seins, Empfindens und Verhaltens ist das Ergebnis einer spezifischen Kombination aus genetischen, epigenetischen, psychologischen und sozialen (von familiären bis gesamtgesellschaftlichen) Faktoren.

Folglich entstehen auch psychische Störungen – wie z.B. die dissoziale Persönlichkeitsstörung, von welcher einige der in Mindhunter interviewten Mörder betroffen sind – durch das Zusammenwirken genetischer und epigenetischer Veranlagungen – welche die Entwicklung einer bestimmten Störung zwar wahrscheinlicher machen, aber noch nicht bedingen – mit sozialen Faktoren, wie z.B. Vernachlässigung, Missbrauch oder Misshandlung.

Es bedarf der Betrachtung des einzelnen Individuums.
Dieses Zusammenspiel wird im sogenannten Diathese-Stress-Modell (auch Vulnerabilitäts-Stress-Modell) beschrieben. Mit diesem Modell kann man sich die Entwicklung einer Krankheit etwa wie eine Treppe vorstellen, an deren oberem Ende der Ausbruch der Krankheit steht. Die durch genetische und epigenetische Faktoren bedingte Veranlagung (Diathese) bestimmt sozusagen das Ausgangsniveau. Wer bspw. mit einer hohen erblichen Vorbelastung geboren wird, befindet sich bereits zu Beginn einige Stufen weiter oben. Nun kommen im Laufe des Lebens weitere pathogene (krankheitsfördernde) Faktoren (sog. Stressoren) hinzu, welche die betroffene Person jeweils weitere Treppenstufen nach oben steigen lassen: z.B. Vernachlässigung, Missbrauch, Misshandlung, oder in anderen Kontexten auch ein ungesunder Lebensstil, Umweltgifte etc. Werden auf diese Weise im Laufe der Zeit durch Diathese und Stressoren insgesamt genug – bzw. zu viele – Stufen erklommen, wird also der kritische Schwellenwert für die jeweilige Erkrankung erreicht, kommt diese zum Ausbruch.

Auf diese Weise lässt sich erklären, dass ähnliche Lebenserfahrungen bei einer Person z.B. zur Ausbildung einer dissozialen Persönlichkeitsstörung führen, bei der anderen nicht. Aber auch, dass Menschen mit ähnlicher genetischer Veranlagung (z.B. Geschwister oder gar Zwillinge) sich psychisch und gesundheitlich ganz unterschiedlich entwickeln können. Die große Erkenntnis Holden Fords, die auch für die Psychotherapie und die Präventionsarbeit, ob im Gesundheits- oder Kriminalitätsbereich, sowie wahrscheinlich für die meisten anderen Felder der Beschäftigung mit Menschen, gilt, ist, dass es der sorgfältigen, differenzierten und unvoreingenommenen Betrachtung des einzelnen Individuums bedarf, um wirklich zu verstehen.

Offenbar trifft das manchmal auch auf Fernsehserien zu. Ich muss also Abbitte leisten. Mindhunter ist spannend und befriedigt unser Bedürfnis nach Thrill durch die Konfrontation mit dem Grausamen und Bösen – macht dabei aber gerade nicht den Fehler, dieses zu trivialisieren und in den Bereich des im wörtlichen Sinne »un-menschlichen« zu verdrängen.

3 Comments

  1. Markus

    Der Link zu den Charakterneurosen funzt nicht.

    22. März 2019
  2. Marc Wormskirch

    Hallo,

    steckt nicht in jedem Menschen ein Psychokiller? Oder inwieweit verschiebt Kino und Fernsehen die öffentliche Wahrnehmung auf Verbrecher und Mitmenschen?

    Die Psychoanalyse ist als anerkannte Wissenschaft unverhältnismäßig jung im Vergleich zu den klassischen Wissenschaften. Erst mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte Sigmund Freud und mit etwas anderer Ausrichtung Carl Gustav Jung therapeutische Ansätze, um verhaltensgestörte Auffälligkeiten zu hinterfragen.

    Die Psychoanalyse für die Motivsuche in polizeilichen Ermittlungen einzusetzen ( profiling ), folgte erst sehr viel später in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei beschränkte sich die Ermittlung darauf, durch den Modus Operandi, dem Täter auf die Spur zu kommen.

    Ebenso in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts hat Alfred Hitchcock, durch die für seinerzeit noch völlig neuartige Verbrechensanalyse, mit Norman Bates („Psycho“) den Prototypen des Psychokillers für das Kino entworfen.
    Mit „Psycho“ fand ein grundsätzlicher Neuentwurf des klassischen Krimi statt und ein neues Genre wurde mit dem Psychothriller geboren. Der Übergang vom Thriller zum Psychothriller macht Hitchcocks „Psycho“ selbst deutlich, indem am Anfang des Films von einem klassischen Verbrechen ( Unterschlagung ) erzählt wird und die Erwartungshaltung des Publikums nach den Prinzipien des klassischen Krimi gelenkt wird, an dem zu Anfang die Tat steht. Auf dieser Fährte und dem bis dahin noch unbekannten Psychokiller Motiven, bleibt die Frage nach dem who-done-it bis zum Schluss spannend und ungelöst. Die spektakuläre Auflösung am Ende von „Psycho“ würde heutigen Kinogängern wohl nur noch ein müdes Lächeln abverlangen, konnte 1960 dem Kinopublikum aber eine schockierende Erklärung liefern, mit der niemand gerechnet hat.

    Der Erfolg an den Kinokassen spendierte „Psycho“ zahlreiche weitere Teile und unzählige Filme, die die Sensation und Faszination an den undurchsichtigen Motiven eines Psychokillers nach dem gleichen Schema aufs Neue präsentieren. Dabei ändern sich im Film nur noch die Attribute und Modi Operandi, die mental und visuell in immer neuen Variationen und Konstellation ausgearbeitet werden. Auch wenn der Psychokiller als Täter, z.B. im Horrorfilm „Halloween“, von Anfang an bekannt ist, entsteht Spannung dadurch, dass jeder Opfer sein kann.

    Mit Hannibal Lecter aus „Das Schweigen der Lämmer“, erreichte der Psychothriller eine neue Dimension, sowohl durch die spektakulär grausam dargestellten Modus Operandi, sowie durch die vielschichtige Thematisierung des Psychokillers im Plot. Das „Schweigen der Lämmer“ hat dem antagonistischen Psychokiller im Film einen ebenbürtigen Gegner durch den protagonistischen Profiler gegeben, der anders als das Kinopublikum, die Motive des Psychokillers verstehen kann und so dem Zuschauer immer einen Schritt voraus ist. Auch hier erzählt „Das Schweigen der Lämmer“ wieder von einem Übergang vom klassischen Ermittler ( Clarice Starling ) hin zum Profiler als gleichwertigen Gegenspieler zum Psychokiller.

    Neben den zahllosen Psychokiller-Filmen, ob mehr im Krimi oder Horror Genre angesiedelt, fasziniert z.B. „The Cell“ von Tarsem Singh dadurch, das Schema der Präsentation des Psychokillers visuell beeindruckender darstellt, als andere Psychokiller-Filme. Dabei ist es nicht die Bluttat, wie im Psycho-Horror, die exponiert wird, sondern ein noch verrückterer und unverständlicherer Modus Operandi des Täters und eine nicht weniger verrückte und unverständliche Visualisierung der Gedankenwelt des Täters. Die psychoanalytische Betrachtung des Killers in „The Cell“ rückt dabei in den Hintergrund und wird nur noch als Beiwerk erklärt.

    Ist die Angst, Spannung und Faszination der Psychokiller im Film im Unverständlich und Unbekannten begründet? Weil wir als Zuschauer die Motive nicht nachvollziehen können, der Profiler aber zum Held wird, weil er die Fähigkeit besitzt, den Psychokiller zu verstehen und sein Verstehen nutzt, um am Ende über das Böse zu siegen?

    Am Ende möchte ich noch einen Film dem Psychothriller gegenüberstellen: „Der Totmacher“ von Romuald Karmakar mit Götz George in der Rolle von Fritz Haarmann.
    Nicht zuletzt entwickelt der Film seine Kraft durch Georges Spiel, beruht aber auch auf den original Verhörprotokollen des Serienmörders Fritz Haarmann.
    „Der Totmacher“ verzichtet vollständig auf die Psychoanalyse oder Erkenntnissen daraus, spektakuläres in Szene setzen der Bluttaten sowie auf aberverrückte Visualisierungselemente, um als Zuschauer in die Gedankenwelt eines Psychokillers abzutauchen. Was bleibt, ist ernüchterndes Grauen und pure Angst, dass es jeder unserer Mitmenschen sein könnte.

    22. März 2019
  3. Michael Füting

    Es wäre doch gut, wenn man bitte unterscheiden würde zwischen Wirklichkeit und der künstlerisch dargestellten Wirklichkeit in Literatur, Theater und Film.
    Dr. Gebele, Psychologe, sucht in der dargestellten Wirklichkeit die Erfahrungen seiner Berufswelt. Bei Marc Wormskirch geht es wohl mehr um das, was künstlerische Mittel beim Recipienten erreichen können. Mir kam es in meinem Beruf als Dramaturg von annähernd 100 Krimis immer auf etwas anderes an. Ich habe grundsätzlich Fälle abgelehnt, in denen die Täter Psychopathen waren. (Mir ist übrigens der Begriff Soziopath lieber.) Warum? – Weil ich Psychopathie für relativ uninteressant halte. Interessant dagegen, dass wir alle in einer Extremsituation zu Mördern werden können. Nur dann ist die notwendige partielle Identifikation mit einem Täter möglich und somit auch nachhaltige Erkenntnis.
    Wenn ich Programmverantwortung hätte, würde ich mich leidenschaftlich dafür einsetzten, die Anzahl der Krimis im Programm zu reduzieren. Weil in der Wirklichkeit die Film-Konflikte nur selten zu Mord führen. Da wird aus Unterhaltungsgründen schamlos auf worst case gemacht.
    Und Hitchkocks PSYCHO steht auf einem ganz anderen Blatt. Da geht es vom Vorspann an auch durch diese unfassbare Musik um das Erzeugen von Angst beim Zuschauer. Das unterscheidet den Krimi vom Thriller.

    24. März 2019

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