Sein oder nicht sein: Die geheime Skala von Faction bis Fiction

Anlass zu diesem Überlegungen gab mir die Lektüre des gerade erschienenen Buches von Klaus Pohl Sein oder nicht sein – Roman. Roman? Es geht in dem Buch um eine Beschreibung der Proben zu Peter Zadeks zweiter Hamlet-Inszenierung mit Angela Winkler in der Titelrolle. Alle Filmleute, die noch einen Rest von Beziehung zum Theater haben, sollten, ja müssen das lesen.

Der Autor Klaus Pohl ist Schauspieler und Schriftsteller. Er hat geschrieben: Theater-Stücke, Drehbücher, Essays, Reportagen und Romane. Und hat in dieser Inszenierung von Zadek mitgespielt, die Rolle des Horatio. Sein Schauspielerkollege Joachim Meyerhoff, auch ein sogar Bestseller-Autor, dessen »Romane« eine ähnliche Mischung von Fakten und Fiktion sind, schreibt im Klappentext:

Ist dieses Buch ein Theaterroman? Natürlich, aber weit mehr! Ist dieses Buch ein Liebesroman? Auch das, Ist dieses Buch ein Tagebuch, eine Komödie, eine Tragödie? All das. Es ist das schönste und wildeste Miteinander literarischer Gattungen, das sich denken lässt.

Miteinander der Gattungen – da sind wir bei einer Grundfrage von Dramaturgie fast aller Kunstformen. Pohl hatte enorme Schwierigkeiten, dieses Buch bei einem Verlag unterzubringen. Weil es einfach nicht in die üblichen Schubladen passt. Jeder Kreative steht am Anfang seiner Bemühungen vor dieser Schubladen-Frage des Genres und der Gattung. Und er weiß aus Erfahrung, dass die meisten Entscheider immer etwas haben wollen, was klar in die Schubladen passt. Oder, und jetzt wird es tragisch: es soll / muss passend gemacht werden. Und dann ist wahrscheinlich der Reiz, der Grund, die Intention abgeschwächt.

Dabei weiß jeder, der nur ein bisschen Ahnung hat, dass alles Künstlerische Wurzeln hat, haben muss in der Lebens-Realität des Autors. Und das sind eben erlebte Fakten. Nur sollte man tunlichst darüber später keine Auskunft geben. Redakteure und Lektoren lassen sich nicht mit dem Argument überzeugen: Das war so, ich hab es doch erlebt. Nein, sie wollen, zum Teil wohl zu Recht, dass die Ursprungsrealität weiter entwickelt wird in das Fictionale.

So schützen sich auch Autoren. Dostojewskj zum Beispiel verkaufte seine extrem dokumentarischen Lagererfahrungen Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (Wikipedia) als Fiktion, indem er einen Erzähler erfand, sich praktisch so aus der Geschichte heraus nahm. Das ist nur ein möglicher Trick, eigene Spuren zu verwischen.
Alles Künstlerische hat Wurzeln in der Lebens-Realität des Autors.
Fast jede große historische Figur und jedes historische Großereignis schreit heutzutage nach filmischer Verwertung als Dokumentarspiel. Da gibt es die Fakten – aber das reicht nicht. Es muss immer etwas hinzugefügt werden. Spekulationen? – Ja, aber Kriterium ist die Qualität der Spekulation, die Phantasie. Man muss ja in die Köpfe der Akteure hineinkommen.

Konkret zu Sein oder nicht sein, diesem wunderbaren Buch von Klaus Pohl. Da sind zunächst einmal die erlebten Passagen der Proben und die konkreten Begegnungen der Kollegen davor und danach. Da wird sich Pohl schon an die Realität gehalten haben. Aber er beschreibt auch Situationen seiner Kollegen, wenn sie allein gewesen sind: Das sind dann quasi auktoriale Hochrechnungen, er kennt ja alle gut, und das braucht er zur Rundung seiner Geschichte.

Das Wesentliche aber ist die sprachliche Qualität. So wird aus Fakten Literatur. Erst das bringt den Genuss und auch die Spannung beim Lesen. Für Filmleute möchte ich noch ein Beispiel anfügen: bitte wieder lesen Ingmar Bergmans Autobiografie, die zweimal unter verschiedenen Titeln erschienen ist, Leben und Laterna Magica. Jedes Wort ist da Literatur. Und die Situationen scheinen durchaus »dramatisiert« zu sein, also zugespitzt, pointiert, aber auch tiefer erfasst.

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