Too long; didn’t read: Texte aus Drehbuch-, Film- und Welttheorie, kurz, knapp, bündig zusammengefasst und auf ihren Wert fürs filmschreiben hin geprüft. Heute aus das Kapitel »Figuren – Ambivalenz und Empathie« von Eva-Maria Fahmüller aus ihrem Buch Neue Dramaturgien.
In 50 Worten (Was ist das?): Fiktionale Figuren haben ein Dilemma, einen inneren Konflikt, der psychologisch und moralisch verstanden und bewertet werden kann. Er ermöglicht das Erzählen ambivalenter Figuren, braucht aber die Empathie des Publikums. Das Publikum ergreift dabei Partei, das muss von DramaturgInnen (und Publikum) verstanden werden, auch, weil es die Gefahr der Manipulation birgt.
In 140 Zeichen (Was ist das?):
Eva-Maria Fahmüller: Das #Publikum bindet sich emotional an fiktionale #Figuren, die wiederum erleben und lösen einen emotionalen #Konflikt. — filmschreiben.de (@filmschreiben) 5. April 2018
Die Erkenntnis: Beim dramaturgischen Verständnis der Empathie des Publikums mit den Figuren gibt es Lücken – im Allgemeinen, etwa bei der Berücksichtigung kognitionswissenschaftlicher Erkenntnisse, literaturwissenschaftlicher Thesen, und der Begründung bekannter dramaturgischer Methoden, und im Speziellen, etwa, wenn es um epische Erzählformen und multiple Protagonisten geht.
Figuren erleben einen inneren Konflikt, der vom Publikum nachvollzogen werden soll. Erst eine empathische, emotionale Bindung an die Figuren soll den Zuschauer, die Zuschauerin, für die Erzählung interessieren können. Gerade dort, im Erleben von Erzählung, könne Empathie ungefährlich ausprobiert werden. Sie »beeinflusst die Gefühle und damit auch das Welt- und Selbstempfinden.« Das Welt- und Selbstempfinden der Figuren, in die sich empathisch eingefühlt wird, ist dabei beweglich, es verändert sich mit der Zeit: bei ambivalenten Figuren und dann, wenn Figuren nach einer Lösung ihres inneren Konflikts suchen.
Das Zitat:
Das Bedürfnis, empathisch in fiktive Charaktere einzutauchen, kann unter Umständen auch der Sehnsucht entspringen, stärkere, exzessivere oder gar befremdlichere Gefühle zu empfinden/mitzuempfinden, als im eigenen Leben möglich oder erlaubt sind. Die Parteinahme erfolgt dann fernab oder gerade entgegen ethischer Kriterien.
Von besonderem Interesse (I) ist vielleicht das Nachdenken über den gemeinsamen Wissensstand von Publikum und Figur, und seiner Bedeutung für die Empathie. So zitiert Fahmüller Jens Eder, der zum einen u.a. »eine zurückhaltende Informationsvergabe«, zum anderen aber »die Darstellung des Innenlebens durch subjektive Fokalisierung«, und drittens einen expressiven Stil empfiehlt (Empathie und existenzielle Gefühle im Film) um die Empathie des Publikums zu fördern. Während wenig Information über die Figur Empathie tatsächlich braucht, wäre sie bei viel Information (etwa auch dank des expressiven Stils), so scheint mir, gar nicht mehr nötig.
Von besonderem Interesse (II) sind vielleicht außerdem Fahmüllers Gedanken über das Erzählen mehrerer Figuren, mit denen sich das Publikum empathisch verbinden soll. Schwierig würde das etwa bei einer Parteinahme, wie sie Fritz Breithaupt als Voraussetzung für Empathie benennt, weil darin möglicherweise schon die Entscheidung für eine und gegen eine andere Figur getroffen wurde. Möglich ist sie, das wäre zu überlegen, deswegen aber vielleicht gerade dann, wenn das Publikum gar keine Parteinahme, sondern eine Schlichtung des Konflikts wünscht.
Das letzte Wort:
Die aktuell starke Fokussierung auf Charaktere, die stets mit inneren Konflikten kämpfen und zwischen Werten hin- und hergerissen sind, könnte Ausdruck von Individualisierung und Pluralisierung in einer postideologischen Gesellschaft mit vielfältigen Lebensstilen sein, in der der Einzelne nicht mehr durch ein festgefügtes Wertesystem geprägt ist.
Eva-Maria Fahmüller: Neue Dramaturgien. Zwischen Monomythos, Storyworld und Serienboom. Master School Drehbuch Edition, Berlin 2017. Das Buch hat filmschreiben-Autor Alex Lauber hier näher besprochen. Empathie war jüngst auch Teil der Diskussion dieses Artikels über das Erzählen von Opfern.